Das »Neue Sehen« als ästhetischer Ausdruck der Neuen Sachlichkeit hat nicht nur die Malerei, sondern insbesondere auch die Fotografie geprägt. In Deutschland wird dieses von den Konventionen emanzipierte Sehen wiederentdeckt.
Fotografie ist nüchtern betrachtet nicht viel mehr als das Festhalten eines Moments. Sie ist Resultat dieses blitzschnellen Akts des Auslösens. Die ersten Fotografien bilden daher nicht viel mehr ab als historische Alltagswirklichkeit. Weicht man von der nüchternen Betrachtungsweise jedoch ab, dann will Fotografie seit jeher schon immer mehr als einfach nur den Moment festhalten. In der Weimarer Republik pflegten die Anhänger der Neuen Sachlichkeit zwar einen nüchternen Blick auf die Gesellschaft, ihr Anspruch jedoch war, die Menschen mit ihren Gemälden, Zeichnungen und Fotografien taumeln zu machen – indem man ihnen die ungeschönte Wirklichkeit vor Augen führte.
Der britische Historiker Eric Hobsbawm bezeichnete die Weimarer Republik einmal als »Zeitalter der Extreme«. Die politischen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg hatten enorme gesellschaftliche Veränderungen zur Folge. Mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen in der Weimarer Republik entstand auch ein neuer Blick der Kunstgemeinde auf die Wirklichkeit. Vorreiter dieses »Neuen Sehens« waren die Vertreter der Neuen Sachlichkeit Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz. Sie durchdrangen mit ihren Gemälden die gesellschaftlichen Realitäten, bildeten nicht die Oberflächen ab, sondern ermöglichten einen Blick hinter die Kulissen. Mit den Realitäten des Alltags veränderte sich auch die Rolle der Frau in den 1920er Jahren. Eindrucksvoll belegen dies die Gemälde und Fotografien des Karlsruher Künstlers Karl Hubbuch. Insbesondere die lakonischen Selbstporträts mit seiner Frau Hilde dokumentieren, wie sehr die traditionellen Geschlechterverhältnisse unter den Bedingungen der Weimarer Zeit ins Wanken geraten sind. Das Nudelholz ist hier fest in Männerhand, während sich die Dame föhnend um die Frisur kümmert. Aber auch die Einzelporträts seiner Frau Hilde zeigen eine selbstbewusste Frau auf Augenhöhe, die weder den direkten, noch den herausfordernden Blick in die Kamera scheut.
Diese unverstellten Blicke irritieren den Betrachter, weil sie ihm bewusst machen, dass hier nicht der Fotograf stellvertretend für ihn beobachtet, sondern er selbst zum Objekt neugieriger Blicke wird. Hubbuchs Modelle spielten mit Kamera und Fotografen, inszenierten sich mehr, als dass sie sich inszenieren ließen. Die in Szene gesetzten Frauen werden nicht zu Objekten männlicher Begierden degradiert, sondern strahlen eine sexuelle Attraktivität und Spannung aus, die fernab der Konventionen jener Zeit lag. Die Modelle Hubbuchs verbinden die Attribute der stolzen Frau. Sie wirken dabei ebenso unnahbar und kühl, wie anziehend und verführerisch. Diese ungewöhnlichen Aufnahmen selbstbewusster Frauen brachten Hubbuch den Vorwurf der entarteten Kunst und ein Arbeitsverbot unter den Nationalsozialisten ein.
Dieser überwirkliche, neorealistische Blick auf die Geschlechterverhältnisse wird von Hubbuch durch eine ebensolche Sicht auf die Gesellschaft ergänzt. Der Karlsruher hat die ersten Gehversuche der deutschen Demokratie und ihr Scheitern in der Katastrophe des Nationalsozialismus in eindrucksvollen Fotografien festgehalten. Insofern gewinnen seine Fotografien alltäglicher Straßenszenen als zeithistorische Dokumente eine zusätzliche Bedeutung. Diese Aufnahmen wirken oft prototypisch, als wären sie dafür gemacht, Geschichte zu bebildern. Dabei bilden sie nicht mehr und nicht weniger ab, als die Wirklichkeit seiner Zeit.
Das »Neue Sehen« war zweifellos Ausdruck der avantgardistischen Ästhetik der Weimarer Republik. Mit dem Ungarn László Moholy-Nagy hatte der Versuch, die immer komplexer werdende Wirklichkeit einfangen zu können, einen ihrer wichtigsten Wegbereiter. Dessen Errungenschaften wurden von den großen ungarischen Fotografen wie Martin Munkácsi und Robert Capa fortgesetzt. Hinter diesen großen Namen musste die ungarische Fotografin Éva Marianna Besnyö lange Zeit zurückstehen. Erst 1999 wurde sie für Deutschland wiederentdeckt, als sie, 89jährig, den renommierten Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Fotografie erhielt.
Besnyö muss man in einem Atemzug mit Fotografieikonen wie Eugène Atget, Brassai oder Henri Cartier-Bresson nennen, da ihre avantgardistische Straßenfotografie der dieser Flaneure in nichts nachsteht. Auch Besnyö gibt sich nicht mit den einfachen Perspektiven und Momentaufnahmen zufrieden, sondern experimentiert mit Bildschnitten und ungewöhnlichen Kamerapositionen. Die Diagonale wird zu einem Markenzeichen ihres Schaffens.
Am Vorabend der Machtübernahme des Nationalsozialismus verlässt sie ihre ungarische Heimat und geht 1930 nach Berlin. Denn: »Wenn Du Fotografin werden willst, musst du nach Berlin«. Diesen Ratschlag gab ihr der Budapester Fotografen József Pécsi. In Berlin fotografiert sie die Arbeiter am Berliner Alexanderplatz und die rücksichtslos ineinander übergehenden Strukturen der Großstadt. Das »Neue Sehen«, dieses rücksichtslose konfrontieren der Kontraste, prägt diese gestochen scharfen Aufnahmen. Döblins Metropolenroman Berlin Alexanderplatz erhält in ihren Fotografien eine überreale Bebilderung. Noch bevor das demokratische Experiment der Weimarer Republik scheiterte, ging Besnyö in die Niederlande, wo sie eine einmalige Karriere als gesellschaftskritische Fotografin startete. Ihr Leben lang sollte sie aber die Berliner Jahre als die entscheidenden in Erinnerung behalten. Fast 60 Jahre nachdem sie Berlin verließ, soll sie in einem Interview gesagt haben: »Ich kam nach Berlin und da ging das Licht an.«
In ihren Fotografien findet sich auch das selbstbewusste Frauenbild eines Karl Hubbuch wieder. Exemplarisch dafür das Selbstporträt von 1931 vor dem Spiegel, das sie als technikversierte Praktikerin zeigt, die weiß, was sie tut: Kritisch über die Kamera gebeugt, die Hände in weiße Laborhandschuhe gehüllt, das Haar steht ihr wild vom Kopf. Auf dem Originalabzug lugt von rechts noch ihr Assistent ins Bild – ein Störfaktor offenbar, zumindest machte sie aus der 6 x 6-Aufnahme einen Hochkantabzug, au dem nur sie zu sehen ist. Hinter dieser Inszenierung verbirgt sich ein persönliches politisches Programm, welches Éva Besnyös Schaffen ein Leben lang prägt. Ihre Fotografie war nicht nur ein ästhetisches Statement, sondern auch eine gesellschaftliche Mission, die da lautet: Frauen, seid selbstbewusst. Ihr habt alles Recht dazu!
Ihr Schaffen prägt eine zweite Überzeugung, nämlich die, dass sich Widerstand lohnt. Als im Sommer 1936 die Olympischen Spiele in Berlin stattfanden, unterstützte Éva Besnyö die antifaschistische Kunstolympiade in den Niederlanden. Als die Deutschen die Niederlande 1940 besetzten, engagiert sie sich im Widerstand. In den 1960er und 1970er Jahren dokumentiert sie mit zahlreichen Reportagen die niederländische Frauenbewegung.
Éva Besnyös Alltagsfotografie war im selben Maße immer politisch, so wie auch Hubbuchs künstlerisches Schaffen immer einen solchen Anspruch hatten. Dieser Anspruch, mehr zu wollen, als einfach nur auf den Auslöser zu drücken, macht ihre Werke zu Kunstwerken und aufregenden Dokumenten ihrer Zeit.
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[…] sind prima. Du brauchst gar nicht so viel Text.« Den Ausgangspunkt bildeten dann Drehbücher von László Moholy-Nagy, in denen er eine gewisse Übersichtlichkeit über die Elemente schafft und trotzdem die Polyphonie […]
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