Fotografie

Über die Fragilität des Menschen

Der in Israel geborene und in London lebende Fotograf Nadav Kander spürt in seinen Bildern der Verletzlichkeit des Menschen nach. In seiner aktuellen Arbeit »Bodies. 6 Women. 1 Man« macht er den dünnen Firnis, der das Individuum von den äußeren Bedrohungen schützt, sichtbar.

Die Frage, was den Menschen menschlich macht, ist eine Kernfrage der Zivilisation. Sie zieht sich durch alle Religionen und Weltanschauungen, durch sämtliche Mythen und Epen. Die Suche nach den Antworten ist es, die den Menschen in seinem Tun antreibt. Es ist zweifellos von einer Mehrzahl zu sprechen, denn die eine Antwort wird es nicht geben.

Mögliche Antworten auf diese Frage sucht der renommierte Fotograf Nadav Kander mit seinen Arbeiten, die in ihrer Verschiedenheit doch eines verbindet: die Faszination für die Verletzlichkeit des Menschen. Vor einigen Jahren hat er in China die gewaltigen Veränderungen des zivilisierten Lebens festgehalten. In seiner Dokumentation Yangtze – The Long River, in der er die sich ständig wandelnden Landschaften in Vorbereitung auf den Dreischluchtenstaudamm eindrucksvoll festgehalten hat, zeigt er, wie Menschen täglich mit einer die Natur verschlingenden Moderne konfrontiert werden, die gerade noch tief in den Traditionen einer jahrhundertealten Kultur verwurzelt lebten, und wie diese verwundet und ihrer Würde beraubt zurückbleiben.

Diese mit dem renommierten Prix Pictet ausgezeichnete Arbeit führt dem Betrachter die Bedrohung vor Augen, die man in seinen neuen Fotografien nur ahnen kann. In Bodies sind Aktaufnahmen von sechs Frauen und einem Mann versammelt, die das herkömmliche Bild der Aktfotografie revolutionieren. Denn Nadav Kander hat die Körper seiner Modelle mit Kreidestaub benetzt und so eine Oberfläche geschaffen, die auf der einen Seite genug Transparenz schafft, um Nacktheit zuzulassen, zugleich aber einen dünnen Schutzfilm über die Körper legt, um sie vor möglichen Bedrohung zu schützen. Ob diese Bedrohung im Blick des Betrachters liegt, der hier vergeblich nach Narben, Rissen und Flecken sucht, oder sich im Dunkel der Räume verbirgt, in denen die Personen inszeniert sind, lässt Kander bewusst offen.

Die reduzierte Inszenierung erinnert mal an die Porträts von Lucian Freud und plötzlich wieder an die der Renaissance-Malerei, in der die kreidebleiche Blässe den Adelsstand repräsentierte. Dies scheint kein Zufall, denn sowohl bei Freud als auch bei Signorelli oder Boticelli liegt in der Tiefe der Porträts eine unheimliche Doppelbödigkeit, die dort grummelt und rumort.

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Nadav Kander: Bodies. 6 Women. 1 Man. Hatje Cantz Verlag 2013. 136 Seiten, 78,- Euro. Hier bestellen

Es ist dieses Brodeln der Unwägbarkeit des menschlichen Daseins, von dem auch Kander in seinen Aktporträts erzählt, die den Blick des Betrachters in den Bann ziehen. Seine Modelle strahlen dabei weder die zeitgemäße Perfektion noch die Erotik aus, mit der Aktaufnahmen gemeinhin verbunden werden, sondern ihre Hüllenlosigkeit versinnbildlicht die Einsamkeit und Verletzlichkeit des Menschen in der Welt. Fast nie erwidern die Nackten den Blick des Betrachters. Vielmehr wenden sie sich von ihm ab, vergraben ihr Antlitz in der Armbeuge oder rollen sich schutzsuchend zusammen, um ihrer Auslieferung an die Welt das Wenige entgegenzusetzen, was sie haben.

Manch ein Betrachter wird sich aufgrund des spürbaren Leides an die christlich-religiöse Bildkultur erinnert fühlen. Das ist kein Zufall. Kanders Arbeit ist eine Hommage an die mit der christlichen Leidensgeschichte verbundene Bildkultur, in der die Frage gestellt wird, die Kander antreibt: Was macht den Menschen zum Menschen? Die Antwort des Fotografen lautet: seine Verletzlichkeit.

2 Kommentare

  1. […] zunächst den ressourcenverschlingenden Aufstiegs Chinas dokumentiert (Yangtze – The Long River), bevor er dann der Verletzlichkeit des Menschen ein neues (an die Renaissance erinnerndes) Bild gegeb…. Nun kehrt er zurück zur Katastrophenfotografie, zeigt den Menschen nicht als potentielles Opfer, […]

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