Fotografie

Der Mensch ist des Menschen Werwolf

Die zeitgenössische Fotografie setzt sich verstärkt mit dem verheerenden Einfluss des Menschen auf die zunehmend verletzliche Natur auseinander. Vier Bildbände zeigen, wie der Mensch erst seine Kultur vergisst, um dann unbeschwert die dunkle Seite seiner Zivilisation hervorzukehren.

Das Rohe und das Gekochte, The Raw and the Cooked heißt eine der spektakulärsten Bilderserien des Fotografen Peter Bialobrzeski. Darin führt er zusammen, was er zuvor in den asiatischen und afrikanischen Megastädten beobachtet hat: den fatalen Wachstum am unteren und oberen Ende der menschlichen Existenz. Das rasante Wachstum der Metropolen in den Schwellen- und Entwicklungsländern wirkt dabei mal wie am Reißbrett entworfen (Neon Tigers), immer wieder wie gescheitert (Lost in Transition), aber zuweilen auch notdürftig flickgeschustert (Case Study Homes, Informal Arrangements). Denn direkt neben den boomenden Wirtschaftszentren liegen die Brachlandschaften der Insolvenzzone, in deren Schatten die Slums der unteren Gesellschaftsschichten wachsen. Diese Prozesse hat der in Wolfsburg geborene und in Bremen lehrende Kunstprofessor so vielfältig wie kein anderer aufgezeigt.

Dass das maßlose Wachstum der asiatischen Millionenstädte nicht ohne die Vernichtung und Verdrängung des Bewährten und Traditionellen möglich ist, hat Bialobrzeski in seiner Serie HABITAT dokumentiert, in der er vom Leben am sozialen Abgrund in Asien (Case Study Homes) und Südafrika (Informal Arrangements) erzählt. Mit Nail Houses schließt er diese Serie nun ab. Als Nagelhäuser werden in China jene Gebäude bezeichnet, deren Besitzer sich bis zuletzt (erfolglos) gegen die Verdrängung wehren. Sie leben in Ruinen, die am Tage wie längst verlassen wirken und erst abends, wenn die Lichter angehen, zum Leben erwachen. Dann britzelt der Strom durch die illegalen Behelfskabel, mit denen die Bewohner ihre von der öffentlichen Versorgung gekappten Häuser wieder notversorgen. Im Licht werden aber auch die Risse sichtbar, die aufgrund der nahezu tektonischen Erdbewegungen infolge der gigantischen Umwälzungen im Erdreich der Megastädte entstehen.

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Peter Bialobrzeski: Nail Houses. Mit einem Text von Stefanie Gommel. Deutsch/Englisch. Hatje Cantz Verlag 2014. 116 Seiten. 35,- Euro. Hier bestellen

Die oft zusammengenagelten Trümmerbauten und Überreste der bewusst vernachlässigten Altstadtviertel wirken vor den im Hintergrund wachsenden Wohnkomplexen wie Mahnmale unserer Zeit. Die Trümmerlandschaften wirken wie eine Kriegszone. Es ist ein besonderer Krieg, der hier stattfindet, gewissermaßen ein selbstgewählter. Denn die betroffenen Gesellschaften haben sich nur allzu gern der Globalisierung zu Füßen gelegt. Jetzt werden sie von ihr überrollt.

Dass sich ausgerechnet in den Vierteln am unteren Ende der chinesischen Gesellschaft der letzte Rest von Kultur in der Kulisse der zunehmend gesichtslosen Stadtgesellschaft zeigt, ist gleichermaßen folgerichtig wie paradox. Die Würde des Menschen ist eben doch unantastbar. Sie lebt eher in den Trümmern als in den toten Bienenstöcken der Sanierungsviertel. Peter Bialobrzeski zeigt uns mit den Nail Houses das sichtbarste Zeichen des Protests in Zeiten der Hochgeschwindigkeitsurbanisierung, wie sie derzeit in Chinas Millionenstädten stattfindet. Protest deshalb, weil dieser Verfall eine Vernichtung und politisch gewollt ist. Dies macht auch der Untertitel der Bilderserie deutlich, die genau genommen NAIL HOUSES or the Destruction of Lower Shanghai heißt.


Zugegebenermaßen waren Stadtviertel wie das von Bialobrzeski dokumentierte Lower Shanghai nie Paradebeispiele unberührter Natur, wie sie Olaf Otto Becker im ersten Teil seiner ebenfalls HABITAT genannten Serie Reading the Landscape zeigt. Dennoch haben beide Bildbände einen gemeinsamen Kern. Sie zeigen, was bald verschwunden sein wird, wenn das maßlose Wachstum kein Ende findet. Becker, der in Augsburg und München Fotografie studierte und seit 2003 ausschließlich als Fotograf arbeitet, ist vor allem für seine Fotografien im kalten Norden des Globus bekannt. Seine preisgekrönten Fotografien aus Grönland (Broken Line, Above Zero) und Island (Under the Nordic Light) haben unser Bild dieser eisigen Regionen verändert. Neben die Härte des Lebens ist die romantische Schönheit der unberührten Natur und Stille getreten, in der sich die Sehnsucht der menschlichen Seele spiegelt.

Für seine neue Fotoserie ist Becker in die schwülen Regionen Südostasiens gereist, um zu zeigen, wie sich in diesen einstmals unberührten und nun bedrohten Landschaften die Vernichtungswut des Menschen spiegelt. Man kann die Fotografien aus diesen Regionen wie eine Zeitreise lesen oder in ihnen das Nebeneinander von natürlicher Schönheit und zivilisatorischer Barbarei entdecken. Für welchen Weg man sich auch immer entscheidet, immer findet man die akute Bedrohung der Natur durch den Menschen.

Im ersten Teil entführt Becker die Betrachter seiner Fotografien in die Urwälder Malaysias und Indonesiens. Er lädt ein zu einem Tauchgang oberhalb der Wasserlinie, bei dem die Betrachter im grünen Paradies zwischen Bambus, Lianen und Farnen versinken. Wir begegnen der überwältigenden Vielfalt von Flora und Fauna, in der der Mensch ein Zwerg ist. Bis er mit seinen Gerätschaften kommt, mit denen er sich zu einem törichten Gnom erhebt, der an den Hebeln und Knöpfen der Vernichtungsmaschine wirkt. Kahlschlag – Rodung – Tod, so lautet das Tryptichon der Zerstörung, dem wir im zweiten Teil von Habitat begegnen. Dass der Mensch mit dem Paradies nicht zurechtkommt, erzählt schon die Bibel. Dass er aber derjenige ist, der es mit einer perversen Selbstsucht zerstört, das zeigt Olaf Otto Becker.

Titel-Reading-the-Landscape
Olaf Otto Becker: Reading the Landscape. Mit einem Text von William Ewing. Deutsch/Englisch. Hatje Cantz Verlag 2014. 160 Seiten. 68,- Euro. Hier bestellen

Der Höhepunkt sind zwei Altarbilder, die die Apokalypse der Moderne zeigen: einen in Flammen stehenden Urwald und sein verkohltes Gerippe. Doch der Mensch wäre nicht das mächtigste Tier der Erde, wöllte er sich nicht selbst dann noch häuslich einrichten, wenn er vom Tod umgeben ist. Doch in der leblosen Welt stellt er plötzlich fest, das ihm das Zwitschern der Vögel, das Rascheln des Windes in den Baumkronen und der Duft der Blüten fehlt. Also holt er sich die Natur in die Stadt zurück, entwickelt seltsame Natur-Häuser, in denen ganze Stockwerke dem künstlich angelegten Wald vorbehalten sind. Auf dass der Mensch auf dem Weg von der Wohn- in die Arbeitsetage frische Luft schnappen kann. Das ist so hilflos, das man verzweifeln möchte. Der Mensch ist nicht nur das mächtigste Tier der Erde, sondern auch die arroganteste Erscheinung auf dem Erdenball. Otto Olaf Becker zeigt in Reading the Landscape, wie ihm sein Wesen zum Verhängnis wird; leider erst dann, wenn es für die Natur schon zu spät ist.


Verdrängt wird die Natur von den Strukturen der modernen Landwirtschaft, wie sie Henrik Spohler in seinen Fotografien zeigt (Der Dritte Tag), oder aber von den zahlreichen Vertretern der Großindustrie, den Stahlfabriken, Kühltürmen, Lagerhallen, Giftgasfabriken und Atommeilern aus der Serie Stained Ground des koreanischen Fotografen Taewon Jang. Jang hat seine Objekte nahezu romantisch inszeniert, hat sie in der Ruhe der hereinbrechenden Nacht oder im Morgengrauen abgelichtet.

Die aufgeräumten Bilder erinnern an den sachlichen Stil von Bernd und Hilla Becher, die seit den 1970ern in über 20 Bänden eine epochale Soziologie des Industriebaus in Fotografien angefertigt haben (anlässlich des 80. Geburtstages von Hilla Becher am 2. September hat der Schirmer/Mosel Verlag, der das enzyklopädische Gesamtwerk verlegt hat, einen sehenswerten Überblicksband unter dem Titel Basic Forms | Grundformen veröffentlicht). Aus ihrer Schule ging der wohl erfolgreichste Dokumentar des Weltenwandels Andreas Gursky hervor, der mit seinen großformatigen Bildern der Rationalisierung der Welt ein Gesicht gegeben hat. Taewon Jang stellt sich in die Tradition dieser Dokumentaristen der Gegenwart.

Ein Verfremdungseffekt entsteht durch das warme Übergangslicht zwischen Tag und Nacht, der den kalten Formen der Industriearchitektur warme, manchmal geradezu schimmernde Linien verleiht. Wenn Lyle Rexer in seinem Begleittext zum Band schreibt, dass man mit diesen Fotografien die Geschichte der Nachtfotografie neu schreiben müsste, ist das angesichts der Wunderwelten, die Fotografen wie Brassaï im nächtlichen Paris entdeckt haben, zwar etwas hoch gegriffen, aber der Koreaner schlägt mit seiner nächtlichen Industriefotografie ohne Zweifel ein neues Kapitel in der Geschichte der Dunkelfotografie auf.

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Suejin Shin, Markus Hartmann (Hrsg.): Taewon Jang: Stained Ground. Mit Texten von Suejin Shin u.a. Englisch. Hatje Cantz Verlag 2014. 160 Seiten. 35,- Euro. Hier bestellen

Seine Arbeiten könnten minimalistischer kaum sein. Er hat die ideale Perspektive gesucht, das Stativ aufgestellt, auf den Fernauslöser gedrückt und dann das Licht seine Arbeit machen lassen. Der Mensch scheint beim Prozess des Fotografierens selbst fast genauso abwesend wie auf den Aufnahmen, aus denen alles Leben gewichen scheint. Wasseroberflächen erhalten bei den langen Belichtungszeiten den schweren Schimmer von Quecksilber, die Landschaften werden in das unnatürlich rot-blaue Licht der Dämmerung getaucht oder lösen sich in Grau- und Schwarztönen außerhalb des Lichtkegels auf. Auf einigen der Fotografien wirkt diese farbliche Entfremdung so überzogen, dass man meint, hier die unkontrollierbare atomare Energie schimmern zu sehen.


Dieses Schimmern fehlt den neuen Fotografien, die der in London lebende Israeli Nadav Kander in den militärischen Sperrgebieten Kasachstans gemacht hat. Man sieht die Gefahr nicht, die am Rande des Aralsees in der Luft schwebt; Kander und sein Team konnten sie aber hören. Mal flüsterte und mal brüllte sie durch den Geigerzähler, den er an seinem Gürtel trug. Denn in den verwüsteten Gebieten um die Ortschaften Kurtschatow und Priosersk an den Rändern des Aralsees, der selbst die Geschichte eines einmaligen ökologischen Dramas verkörpert, wurden zu Sowjetzeiten unter höchster Geheimhaltung Langstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen getestet. In der Nähe der ahnungslosen Bevölkerung von Kurtschatow wurden zwischen 1949 und 1989 fast fünfhundert Atombomben gezündet. In einem menschenverachtenden Langzeitexperiment hat man die Folgen der atomaren Strahlung für die Bevölkerung der Region beobachtet. Noch immer herrscht in der Region die größte Krebsrate der Welt.

Nadav Kander hat wie Peter Bialobrzeski zunächst den ressourcenverschlingenden Aufstiegs Chinas dokumentiert (Yangtze – The Long River), bevor er dann der Verletzlichkeit des Menschen ein neues (an die Renaissance erinnerndes) Bild gegeben hat (Bodies. 6 Women. 1 Men). Nun kehrt er zurück zur Katastrophenfotografie, zeigt den Menschen nicht als potentielles Opfer, sondern als dezidierten Täter. Statt das Fiasko im Livemodus zu dokumentieren, hat er sich diesmal entschieden, dessen Hinterlassenschaft festzuhalten. Auf den Bildern, die Nadav Kander in dem Sperrgebiet um Kurtschatow gemacht hat, sind nicht viel mehr als ein paar Trümmer im weiten Raum der staubigen Turanischen Senke zu sehen. Was die 457 Atombombentests überstand, wurde nach 1989 mit dem Bulldozer plattgemacht, um die Spuren der Atomtests zu beseitigen. Aber noch immer lagert unter den Trümmern der Atommüll. Kander zeigt dieses bedrohliche Nichts, und gerade das verleiht seinen Aufnahmen die besondere Authentizität.

Auf dem Militärstützpunkt von Priosersk, auch Moskau 10 genannt, stehen noch viele der Häuser. Winddurchwehte Ruinen sind es heute. In ihrer morbiden Romantik erinnern sie an die Beelitzer Heilstätten bei Berlin. Aber auch hier liegt die Gefahr des Strahlentods in der Luft. Das Ticken des Geigerzählers habe ihn immer wieder daran erinnert, dass die Faszination der malerisch bröckelnden Ruinen eine besonders trügerische ist. Es gibt hier es keine Romantik mehr, sondern nur noch den Tod.

Titel-Dust
Nadav Kander: Dust. Mit Texten von Nadav Kander und Will Self sowie einem Gedicht von Ted Hughes. Englisch. Hatje Cantz Verlag 2014. 120 Seiten, 65,- Euro. Hier bestellen

Nadav Kanders Fotografien zeigen, wie der Mensch mit der Welt, die ihn umgibt, letztendlich auch sich selbst zerstört. »Der Mensch ist des Menschen Wolf«, schrieb vor knapp 550 Jahren der britische Philosoph Thomas Hobbes. Sieht man sich an, wie strukturiert er an der eigenen Vernichtung arbeitet, muss man korrigieren und sagen, dass der Mensch des Menschen Werwolf ist. Er macht sich selbst zum Zombie in der zuvor bewusst zerstörten Welt. Wie diese aussehen könnte, davon vermitteln Kanders Fotografien aus Kurtschatow und Priosersk eine Idee. In ihnen bleibt nichts mehr, was in einem Menschenleben noch zu retten wäre. Zukünftig werden immer mehr Generationen unter den Spätfolgen des menschlichen Einflusses auf seine Umwelt zu leiden haben. Zwar wird sich die Natur die betroffenen Regionen wieder einverleiben, doch es wird eine kranke, schon in ihrer Wurzel verheerende Natur sein. Ob der Mensch in dieser noch einen Platz hat? Wer weiß.

1 Kommentare

  1. […] Nail Houses nennt man in den chinesischen Großstädten die Häuser, die durch konsequentes Bewohnen… Auf dem Land gibt es das nicht, da die Landflucht derart viel Leerstand verursacht, dass mehr Häuser verlassen als neu bewohnt werden. Für mittellose Paare wie Ma und Guiying sind diese zurückgelassenen Häuserruinen aber die einzige Hoffnung, um den traditionellen Familienstrukturen zu entkommen und sich eine eigene Existenz aufzubauen. […]

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