Literatur, Roman

Ein Leben in Ketten

Donna Tartts »Der Distelfink« ist eine Hommage an das Schöne und Hässliche im Leben. Ganz nebenbei ist die fulminante Geschichte des Theo Decker herausragend unterhaltsam als Coming of Age- und Gesellschafts- wie auch als Kunst- und Kriminalroman.

Im Jahr 1654 explodierte im flämischen Delft die städtische Pulvermühle und riss den erst 30-jährigen Maler Carel Fabritius, einen vielversprechenden Schüler Rembrandts, in den Tod. Von Fabritius geblieben ist nur ein knappes Dutzend Gemälde, unter anderem der an einer Kette gefangene Distelfink. Vor diesem Bildnis steht der 13-jährige Theodore Decker zu Beginn von Donna Tartts gleichnamigem Roman. Der Besuch der New Yorker Bilderschau ist das Fanal einer außergewöhnlichen Abenteuergeschichte, die den jungen Helden und Ich-Erzähler wie einen Schiffbrüchigen durch alle Schichten der amerikanischen Gesellschaft und mitten hinein in die euroamerikanische Kunstgeschichte treibt – immer auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wer er ist und wohin er gehört.

Im wahrsten Sinne kommt Theo wie Phönix aus der Asche aus der Katastrophe, mit der der Roman beginnt. Denn als er mit seiner Mutter die Ausstellung besucht, in der Fabritius’ Gemälde gezeigt wird, kommt es zu einer verheerenden Explosion, bei der über zwanzig Menschen ums Leben kommen. Unter den Opfern ist auch Theos Mutter. Da sein trunksüchtiger Vater die Familie vor Monaten verlassen hat, kommt der Junge zur vermögenden Familie seines Schulfreundes Andy Barbour. In dem brokatschweren Appartement in Downtown Manhattan verbringt er die folgenden Monate. In dieser Zeit lernt er den Restaurator Hobie (Mr. Hobart) und das geheimnisvolle Mädchen Pippa kennen. Bei dem Restaurator findet er nicht nur eine Art Zuflucht vor dem gesellschaftlich-aufgesetzten Leben der Barbours, sondern auch etwas, das hier als »Faszination am Vergänglichen« bezeichnet werden soll und den gesamten Roman prägen wird.

In diesem Anschein von Ruhepause taucht Theos egozentrischer Vater auf, der ihn nach Las Vegas holt, wohin er sich mit seiner Geliebten verdrückt hatte. An Theo ist er nicht sonderlich interessiert – er hofft auf eine mögliche Erbschaft – was seinen Sohn in einen Zustand existenzieller Verwahrlosung treiben wird. Was Theo in Las Vegas aber findet, ist die Freundschaft seines Lebens. Bei Boris, dem Sohn eines russischen Minenarbeiters, der ebenso verloren scheint wie Theo, diesen Taumel aber mit der lebensfrohen Wonne eines Tangotänzers zelebriert. Am Rande des Death Valley bittet Boris seinen Freund Theo täglich zu einem drogenberauschten Totentanz, dessen Ausgang ungewiss ist. Wer jemals hinabsteigen wollte in die Scheinwelt des amerikanischen Prekariats, in der Eltern Glücksspielen nachgehen, während sich ihre Kinder mit Klebstoff, Gras, Ecstacy und LSD in die Parallelwelt ihrer abwesenden Eltern beamen, der kann das mit Donna Tartts Distelfink tun. Theos Dasein wird zu einem »alles umhüllenden Gifthauch, … konstruiert aus Scham, Wertlosigkeit und dem Gefühl, anderen zur Last zu fallen«, heißt es im Roman.

Am Ende trägt der Tod aber eine andere Maske, weshalb es Theo zunächst weitertreiben muss – per Bus nach New York in Hobies Arme. Allein die Beschreibung dieser aufgrund eines kleinen Wollknäuels nervenaufreibenden Reise wäre eine eigene Hymne wert. Bei dem Restaurator antiker Möbel findet er ein Zuhause und eine Zukunft. Jahre später wird Theo als Hobies rechte Hand in das Geschäft einsteigen und mit schamloser Geschäftstüchtigkeit den kleinen, aber angesehenen Antiquitätenhandel »Hobart & Blackwell« retten. Bis ein windiger Kunde auftaucht und beginnt, Ärger zu machen. Als die Welt um Theo enger und finsterer wird, taucht der verloren geglaubte Boris wieder auf. Ein Rettungsanker in der Not oder das Teil, das im Katastrophenpuzzle noch fehlt? Eine klare Antwort auf diese Frage enthält der Roman lange vor. Aber er treibt Theo weiter nach Amsterdam, wo alles anders kommt als erwartet.

Theo Deckers abenteuerliche Irrfahrt durch die amerikanische Gesellschaft – vom russischen Einwanderer bis zum alteingesessenen Adel – ist ein möglicher Handlungsrahmen, in den man Donna Tartts Der Distelfink setzen könnte. Der goldene Faden aber ist das gleichnamige Gemälde von Carel Fabritius, das Theo nach der Explosion aus den Trümmern des Museums »rettet« und seither, verpackt in einen Kopfkissenbezug, mit sich trägt. Es ist das Symbol einer letzten Verbindung zu seiner Mutter, deren Lieblingsgemälde es war. Immer, wenn Theo es aus seiner dunklen Hülle nimmt, überwältigt es ihn: »Das Bild strahlte eine Kraft aus, ein Leuchten, eine Frische, wie das Morgenlicht in meinem alten Zimmer in New York, das erhaben und doch erheiternd war, ein Licht, das allem klare Konturen gab und es doch feiner und lieblicher erscheinen ließ, als es in Wirklichkeit war, und umso lieblicher, da es Teil der Vergangenheit und unwiederbringlich war«.

Carel Fabritius: Der Distelfink

Es sind Passagen wie diese, die Tartts Roman zu einer grandiosen Hymne an die Kunst und das Kunsthandwerk machen. Wenn sie abtaucht in die pure Erscheinung von Kunst und ihre Wirkung auf den Betrachter, dann geschieht das so plastisch und nachvollziehbar, dass man beim Lesen das Gefühl hat, selbst vor diesen Kunstwerken zu stehen. So auch bei den Beschreibungen der dunklen, aber wärmenden Welt von Hobies Antiquitätenhandel. Wenn dieser die detailgenaue Ausführung der Restaurationsarbeiten an vermeintlich zerstörten Schätzen erklärt und dabei die kleinen Tricks verrät, mit denen Auge und Geist hinters Licht geführt werden. Oder wenn Theo die Funktionsmechanismen des Kunsthandels entblößt, um sie sich zunutze zu machen. Diese Passagen belegen nicht nur Tartts akribische Recherche während des zehnjährigen Schreibens, sondern sie entführen auch in die magische Welt des »schönen Handwerks«. Sie lesen sich mit ihrer Liebe zum Detail nicht nur ebenso anregend und spannend wie ein Krimi, sondern führen die Handlung auch zu einem solchen hin.

Dazu trägt unweigerlich der Plot um den Distelfink bei, der in der hier beschriebenen Kunstwelt anfangs als zerstört und später als verschollen gehandelt wird. Der traumatisierte Theo Decker dachte, als er das Gemälde einsteckte, kaum daran, es für sich zu behalten. Eine wie auch immer geartete Rückgabe wird allerdings mit jedem Tag unmöglicher. Irgendwann während seiner Odyssee beschleicht Theo der Gedanke, dass aus dem Besitz des Bildes »nichts Gutes erwachsen würde, doch ich wusste auch, dass ich es schon zu lange behalten hätte, um mich noch zu melden«. Das Bild wird zur Allegorie eines Lebens, das von Theo Besitz ergriffen hat, ohne dass er es unter Kontrolle bekommen könnte. So wie der Vogel auf dem Gemälde ein Leben in Ketten verbringt, liegt Theos Schicksal an der Kette dieses Bildes.

Der Distelfink ist nicht nur ein großartiger Coming of Age-, Gesellschafts- und Kunstroman, sondern auch ein hervorragender (Kunst-)Thriller. Und weil es in Thrillern immer auch darum geht, eine Kulisse aufzubauen, hinter der sich Abgründe auftun, taucht hier François de la Rochefoucaulds Weisheit »Wir sind so gewohnt, uns vor anderen zu verstellen, dass wir uns schließlich vor uns selbst verstellen« als übergreifendes Motto auf. Es zieht sich durch alle Beziehungs- und Geschäftsebenen. »Selbst auf höchstem Niveau war alles eine reine Verschleierungstaktik: Jeder möblierte eine Kulisse.«

In die Kulisse der Erzählung hat Donna Tartt Beziehungsgeflechte gesetzt, die der Leser nicht mehr vergessen wird. Am bedeutsamsten ist die Freundschaft von Theo und Boris, die in ihrer bedingungslosen Vertrautheit und ihrem Existenzialismus an Maik Klingenberg und André Tschichatschow erinnert. Wesentliche Teile von Donna Tartts Roman lesen sich gleichermaßen faszinierend und bedrückend wie Wolfgang Herrndorfs Bestseller Tschick.
Allerdings hat die Amerikanerin die Geschichte ihres Duos um einige famos-krasse Umdrehungen weiterführen können, weil sie ihnen mehr Zeit gibt (und selbst mehr Zeit hatte, diesen Roman zu schreiben). Das macht schon die Charakterisierung von Boris deutlich, den man – angesichts einer Vita, die ihn mit fünfzehn Jahren bereits Maden essen, Tschechow auf Russisch lesen und erste sexuelle Erfahrungen sammeln sowie Malaria, Obdachlosigkeit und väterliche Vernachlässigung hat überstehen lassen – einfach ins Herz schließen muss. Entsprechend sieht Boris in den tieftraurigen Augen seines Freundes mehr als andere. Als sie das erste Mal gemeinsam LSD nehmen, spricht Boris von einem »Dunst von Traurigkeit«, der seinen Freund umgibt. »Als ob du wärst ein Soldat oder so was wie eine Person aus der Geschichte, vielleicht jemand, der über ein Schlachtfeld läuft, voller tiefer Gefühle.« Solche Sätze machen deutlich, dass in Tartts Distelfink – auch dank der wunderbaren Übersetzung von Rainer Schmidt und Kristian Lutze – von der (bei Boris fehlerhaften) Satzstruktur bis hin zu den Metaphern und Allegorien einfach alles stimmt.

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Donna Tartt: Der Distelfink. Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt und Kristian Lutze. Goldmann Verlag 2014. 1.022 Seiten. 29,99 Euro. Hier bestellen

»Die Plötzlichkeit der Explosion hatte mich nie mehr verlassen, ständig hielt ich Ausschau nach einem Unglück«, erinnert sich Theo gegen Ende des Romans an das Jahrzehnt, das dem Unglück folgte. Das Bild gab Theo das Gefühl, »weniger sterblich, weniger gewöhnlich« zu sein. Gewöhnlich ist hier tatsächlich nichts, betrachtet man die sich zu einem Leben auftürmenden Ereignisse und Begebenheiten. Wir lesen davon in sorgfältig sortierter Form. Aber das ist Resultat des trickreichen Zaubers der Literatur, den Herta Müller in Mein Vaterland war ein Apfelkern (Hanser Verlag 2014, 240 Seiten, 19,90 Euro) beschreibt: »Es ist schon viel Reales drin, aber alles Wörter voreinander, hintereinander, nacheinander gesetzt – aber im Erlebten war es durcheinander, übereinander, gleichzeitig und gestapelt.« In Donna Tartts Roman Der Distelfink nimmt das Sortieren der Wörter »voreinander, hintereinander, nacheinander« niemals überhand, das Chaos ist hier stets gegenwärtig: fast durchgängig in Theos seelischem Durcheinander, im Über- und Nebeneinander der gesellschaftlichen Schichten in den USA und gelegentlich in den gestapelten Antiquitäten bei »Hobart & Blackwell«. Dem Lesenden wird das erst im Nachhinein bewusst, die Linearität der Lektüre wahrt den Anschein einer Linearität der Ereignisse. Tatsächlich aber muss es sich für Theo Decker anders angefühlt haben.

Zurückblickend schreibt er auf den letzten Seiten, dass er gerade erst anfange zu verstehen, dass man sich sein eigenes Schicksal nicht aussuchen könne. »Wir können uns nicht zwingen zu wollen, was gut für uns oder gut für andere ist. Wir können uns nicht aussuchen, wer wir sind.« Diese Weisheit wird am Ende dieses wunderbaren Romans ein wenig zu plakativ präsentiert. Aber nach knapp eintausend Seiten packender Lektüre ist dies kaum der Rede wert.

»Schönheit verändert die Maserung der Realität«, lautet einer der Lehrsätze in Hobies Antiquitätenhandel. Das gilt nicht nur für Möbel, sondern für alle Arten der Kunst. Diesem Roman, der in den lichtdurchfluteten Museumshallen ebenso brilliert wie in den düsteren Unterwelten des organisierten Verbrechens, wohnt eine Schönheit inne, die unsere Wahrnehmung der Realität verändert. Plötzlich haben wir eine Idee von dem »Gefühl der ablaufenden Sanduhr«, dem »schnell fließenden Fieber der Zeit«, das uns umgibt und unser Leben begrenzt.

»Wir können uns nicht aussuchen, wer wir sind«, aber wir können uns aussuchen, was wir wagen und was wir lesen. Dieser Roman sollte angesichts der engen Grenzen unseres Daseins unbedingt dazu gehören.

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