Am zweiten Tag der Berlinale liefen im Wettbewerb außerdem die Weltpremieren von Andrew Haighs Ehedrama »45 Years« und Werner Herzogs Wüstenepos »Queen of the Desert«. Der deutsche Film »Im Sommer wohnt er unten« von Tom Sommerlatte eröffnete das Programm der Perspektive Deutsches Kino.
Andrew Haighs Drama einer Ehe 45 Years präsentiert mit einer formidablen Charlotte Rampling und einem glänzenden Tom Courtenay die ersten Figuren im diesjährigen Wettbewerb, die Tiefe und Substanz haben. Als Ehepaar Kate und Geoff Mercer stehen sie kurz vor den Festlichkeiten anlässlich ihres 45. Hochzeitstages. Da erreicht Geoff ein Brief aus Deutschland: Er erfährt, dass seine Jugendliebe Katja nach über fünfzig Jahren gefunden wurde, eingefroren im Eis eines Gletschers. Sie war bei einer Bergtour abgerutscht und verschwunden.
Diese Nachricht wühlt Geoff auf, er zieht sich zurück, steigt nachts auf den Dachboden und kramt heimlich in seinen alten Sachen. Kate erzählt er erstmals, dass er Katja geheiratet hätte, wäre sie nicht ums Leben gekommen. Ein Schock für Kate, die sich getäuscht fühlt. Mit jedem Tag graben sich Kate und Geoff tiefer in ihre eigene Gedankenwelt ein und entfernen sich voneinander. Die zwei Menschen, die seit 45 Jahren miteinander leben, scheinen sich plötzlich nicht mehr zu kennen. Der erst 42-jährige Andrew Haighs, verantwortlich für die HBO-Serie Looking, beweist mit diesem Film, dass er auch so etwas wie Independent Cinema machen kann. 45 Years lebt von den leisen Momenten, in denen er seine Intensität und erzählerische Dichte entwickelt.
In Werner Herzogs Wüstendrama Queen of the Desert gibt Nicole Kidman als Gertrude Bell die weibliche Variante von Prinz Lawrence von Arabien – und eine neue Variante der weiblichen Abenteuerlust zu Isabel Coixets Festival-Opener Nobody Wants the Night. Während Juliette Binoche von Isabel Croixet auf Kufen durch die eisige Einöde Grönlands geschickt wird, setzt Werner Herzog seine Hauptdarstellerin auf ein Dromedar und lässt sie kreuz und quer durch die steinige Wüste im Nahen Osten reiten. Gertrude Bell war eine unabhängige Archäologin, Schriftstellerin und Orientalistin, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Wüstenregionen zwischen der Levante und dem Golf von Aden bereiste. Sie hat Anfang des 20. Jahrhunderts Winston Churchill bei der Grenzziehung im Nahen Osten beraten und somit wesentlich zur Umgestaltung der arabischen Halbinsel beigetragen.
In Herzogs Beitrag begleitet man die emanzipierte Heldin auf ihren Reisen zu den Beduinen und Volksstämmen, die sie mit Mitbringseln und ihren Arabischkenntnissen von ihren guten Absichten überzeugt. Zwischendurch verliebt sie sich zweimal sehr unglücklich (James Franco, Damian Lewis) und muss immer wieder gegen die britischen Interessen ankämpfen. Dazu kommt die Begegnung mit dem wirklichen Lawrence von Arabien (Robert Pattinson), deren Bedeutung aber, wie so vieles in diesem Film, ein Rätsel bleibt. Wer auf mehr Handlung in den gut zwei Stunden hofft, muss hier enttäuscht werden.
Bis zum Ende des Films bleibt außerdem unklar, ob er nun ein historisch korrektes Porträt von Gertrud Bell, eine Hommage an den Islam als Kultur der Poesie, ein dramatischer Abenteuerfilm oder eine Romanze sein soll. Man fühlt sich – es ist einem fast unangenehm, einen Film von der Galionsfigur des Neuen Deutschen Kinos derart zu vergleichen – zuweilen an das Historienkino des ZDF mit Veronica Ferres in der Hauptrolle der starken, aber leidenden Heldin erinnert. Das geht sogar so weit, dass man manchmal die deutsche Schauspielerin in der Amerikanerin wiederzuerkennen meint, wenngleich diese im Film betont, dass sie ganz froh ist, keine Deutsche zu sein.
Es wäre interessant zu erfahren gewesen, warum ausgerechnet die kühle Europäerin Gertrude Bell in dieser männerdominierten Welt ein deutlich besseres Verhältnis zu den arabischen Führern aufbauen konnte und als Frau problemlos »mit den Männern« ging. Aber eine Antwort auf diese Frage bleibt Herzogs Film schuldig. Außer einiger pathetischer Allgemeinplätze wie »Mein Herz gehört niemandem mehr, nur der Wüste« oder »Wer von der Wüste getauft ist, für den gibt es keine andere Erlösung« erfährt der interessierte Zuschauer auch wenig über die besondere Liebe der Bell zur Wüste. Derart inszeniert kann auch eine Nicole Kidman die Hauptrolle trotz ihrer exaltieren Anlage nicht retten. Die Gertrude Bell, die uns begegnet, bleibt blass und gekünstelt. Der Film ist zum Heulen, aber wie man im Film lernt, hat selbst das etwas Gutes: »Wer viel heult, muss weniger pinkeln!«
In der Sektion Perspektive Deutsches Kino eröffnete Tom Sommerlattes Spielfilm Im Sommer wohnt er unten am Freitagabend das Festival. Matthias (Sebastian Fräsdorf) und David (Godehard Giese) könnten als Brüder unterschiedlicher nicht sein. Während sich der lethargische Matthias im Sommerhaus der Eltern mit seiner französischen Freundin Camille (Alice Pehlivanyan) häuslich eingerichtet hat, versucht David sein Glück leidlich an der Börse, worunter allerdings seine Beziehung mit Lena (Karin Hanczewski) leidet.
Weil David seinen Urlaub mit Lena eigenwillig nach vorn verlegt hat, treffen die beiden Paare im Sommerhaus aufeinander. David und Camille, beide aufbrausend und dominant in ihren Beziehungen, geraten sofort aneinander. In den gemeinsamen Tagen verschieben sich allerdings die Kräfteverhältnisse zwischen und in den Paaren, lange gärende Probleme fordern ihren Tribut.
Der Debütfilm des deutschen Regisseurs Tom Sommerlatte ist von beeindruckender Souveränität und wohl eine der wenigen Ausnahmen, in denen die umgesetzte Sprachenvielfalt der Akteure gewinnend zur Dramaturgie des Films beiträgt.
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