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»Bücher, die niemand erwartet«

Im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2015 erhielt der Berliner Verlag Berenberg den diesjährigen Kurt Wolff Preis. Damit geht der Preis verdientermaßen an einen Verlag, der in seinem Programm gleichermaßen Buchkunst und engagierte Literatur hochleben lässt. Dies hat auch die Leseerfahrung des Autors geprägt.

Sicherlich wäre dem Autor das Werk des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño noch rätselhafter geblieben, als es ohnehin bleibt, hätte er nicht zeitgleich zu dessen fulminantem Roman 2666 auch einen Halbleinenband mit dem Foto eines rauchenden Dandys auf dem Titel entdeckt, der im Berenberg Verlag erschienen ist. Er trägt den Titel Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiografie und liegt seither stets griffbereit auf dem Lesetisch, sobald sich der Autor mit Bolaños Literatur beschäftigt. Darin versammelt sind verschiedene Essays aus der Feder des Mannes, den man am besten als chilenischen Nachfolger von Jorge Luis Borges beschreibt.

Bolaño

Der Band enthält nicht nur das Interview, das Bolaño drei Tage vor seinem Tod der mexikanischen Ausgabe des Playboy-Magazins gab, sondern vor allem einige literaturtheoretische Texte, in denen der Autor aus seiner Leseerfahrung heraus Stellung zu Fragen des Schreibens bezieht. Beispielsweise fragt er sich nach dem Zusammenhang von »Literatur und Exil«. In seinem Text kommt er zum Schluss, dass das Exil eine Option bei der Wahl ist, weiterzuschreiben oder zu schweigen. Bolaño ging, wie man weiß, ins Exil, ließ sich dort »Flügel wachsen« und schrieb weiter an einem Werk, das erst nach seinem frühen Tod hierzulande berühmt-berüchtigt wurde. Dazu beigetragen hat eben jener Heinrich von Berenberg, weit vor dem Durchbruch der Bolaño-Literatur. Er übersetzte die Erstausgabe von dessen Roman Die wilden Detektive im Hanser Verlag (eines der letzten Werke, das noch nicht von Christian Hansen neu übersetzt wurde). Das war 2002, vier Jahre zuvor hatte der Roman den wichtigsten lateinamerikanischen Literaturpreis, den Premio Rómulo Gallegos, gewonnen. Ein Jahr später sollte der Autor an einem Leberleiden sterben.

Das Interesse an Autoren, die etwas zu sagen haben, dafür aber keine Werbemaschine brauchen, macht den Verlag von Heinrich von Berenberg aus. Die lateinamerikanische Literatur ist eine der Säulen des Verlages. Ob Klassiker wie den Kolumbianer Héctor Abad, angehende Klassiker wie den Argentinier Ricardo Piglia oder Neuentdeckungen wie den Mexikaner Juan Pablo Villalobos – der Stil macht das Programm.

Georg Brandes

Man würde diesen Stil wohl etwas altbacken »engagierte Literatur« nennen können oder aber einfach sagen, dass diese Autoren nicht um des Vergnügens Willen schreiben, sondern aufgrund der Umstände, die sie umgeben, einem inneren Drang, einer moralischen Verpflichtung folgen. Dabei entsteht eine Textsorte, »die uns Heutigen leider weitgehend entglitten ist«, wie die Kritikerin Ina Hartwig in ihrer Laudatio zum Kurt Wolff Preis 2015 sagte. Der Berenberg Verlag erinnere mit seinem Programm an die Möglichkeit und Existenz der idealtypischen Verbindung von journalistischen und literarischen Tugenden. Daraus entstehe die programmatische »Mischung aus Analyse, Erzählung und Mitgefühl«, schwärmte Hartwig. Sie untersetzte diese These mit Autoren wie George Brandes, John Maynard Keynes, Léon Blum und Eugeni Xammar, man könnte diesen aber problemlos noch Ben Hecht, Gilbert K. Chesterton, Jean Giraudoux, Paul Léautaud oder Claude Simon hinzufügen, alle »tote große Männer, sanfte Haudegen, die ergreifend kleine Texte geschrieben haben«, wie es Hartwig ausdrückte. Dank Heinrich von Berenbergs Verlag kann man diese kleinen Texte entdecken.

Als »Nischenunternehmen« habe er seinen Verlag anno 2005 gegründet, erklärte von Berenberg anlässlich der Preisverleihung auf der Leipziger Buchmesse, ein Nischenunternehmen sei es geblieben. Ein Grund dafür sei, dass seine Bücher – wie im Grunde die meisten Titel der in der Kurt Wolff Stiftung vereinten Verlage – etwas mit Allgemeinbildung zu tun haben. Eine süße Last, die der Verleger mit Bravour stemmt – vielleicht eine Erklärung des Gewichtheber-Logos des Verlags. Eine andere liegt schlicht und einfach in der Tatsache, dass der Verlag seit seinem Bestehen regelmäßig gewichtige Titel gestemmt hat.

Kalka

Der Anspruch der Allgemeinbildung zieht sich durch das komplette Verlagsprogramm und hat weniger etwas mit Lehrstunden halten als vielmehr etwas mit Vorurteilen aufräumen zu tun. Etwa wenn Joachim Kalka – der als Autor, Übersetzer und Herausgeber an insgesamt 16 der etwa 80 Bücher des Verlags beteiligt ist – zu einem Zeitpunkt über die Sinnlichkeit des Geldes bei Dagobert Duck und George Herrimans Krazy Kat schrieb, als Comics noch als Schmuddelware galten. Hoch unten heißt der ansteckende Essay-Band, auf den sich der Autor hier bezieht und der schon in seinem Untertitel Das Triviale in der Hochkultur deutlich macht, dass es ihm um das Entblößen der vermeintlich intellektuellen Arroganz gegenüber der »Heizware der Hochkultur« geht: dem Comic, dem Science-Fiction- und dem Detektivroman. Denn neben Carl Barks, Walt Disney und George Herriman kommen auch die Werke von Philip K. Dick und H. P. Lovecraft zur Geltung. Auf dem Titel sieht man Zeichnungen des Franzosen Marc-Antoine Mathieu, der hierzulande erst jetzt entdeckt wird. So wie er ihn vor allen anderen entdeckt hat, feiert Kalka darin die Neunte Kunst weit vor ihrem Boom. In seinem aufklärerischen Ton hat er zweifellos zur Akzeptanz dieser Kunst beigetragen.

Der gute Deutsche

Von Berenberg will mit seinen Büchern – die, getreu dem Motto des amerikanischen Historikers Robert Darnton, dass »in jedem dicken Buch ein dünnes [steckt], das schreit: Ich will raus!« selten die 200 Seiten überschreiten – etwas erreichen, Dinge zeigen, die bislang übersehen wurden. Wie aktuell mit einem Buch über die Ermordung des Kameruner Prinzen Manga Bell im Jahr 1914 durch das deutsche Kaiserreich. Zwar durfte der Prinz nach Deutschland reisen und dort Jura studieren, als er jedoch seine Kenntnisse in seiner Heimat auch gegen die deutschen Kolonialherren anwenden wollte, wurde er von den Deutschen aufgeknüpft. Diese in Der gute Deutsche von dem Berliner Journalisten Christian Bommarius erzählte Geschichte dringt in einen düsteren Teil der deutschen Kolonialgeschichte vor, die bis heute aus dem kollektiven historischen Gedächtnis nahezu verdrängt ist.

Berenberg-Bücher liegen nicht selten quer zum Zeitgeist – aber genau darum geht es dem Berliner Verleger immer wieder. Entsprechend forderte er seine Verlegerkollegen auf, dass »wir den Leuten weiter mit Büchern kommen, die niemand erwartet, auch wenn sie manchmal untergehen wie ein Stein.« Natürlich sollen sich die Bücher auch verkaufen, aber die Verlegerei will er nicht den geschäftlichen Überlegungen unterordnen. Vor dieser Einstellung kann man nur den imaginären Hut ziehen, denn dies ermöglicht Bücher wie Michael Maars Proust Pharao, Meike Albaths Rom, Träume oder Georg von Wallwitz’ Mr. Smith und das Paradies. Hier war immer erst der verlegerische Anspruch, das andere Buch zu machen, die Verkäufe kamen erst danach..

Unter Einfluss

Andernfalls kennten wir auch aufregende Autoren wie die Argentinierin María Sonia Cristoff nicht, die inzwischen mit ihrem funkelnden Roman Unter Einfluss, den ansteckenden Reportagen in Patagonische Gespenster sowie der Textsammlung Unbehaust im Verlag zur festen Größe der zeitgenössischen Autoren herangewachsen ist. Die Sprache, auf die sie dabei zurückgreift, ist niemals l’art pour l’art, sondern drängend-dringend, verbunden mit dem Wissensdurst einer Suchenden, die Takt und Rhythmus der Welt in ihren Höhen und Abgründen erkunden und verstehen will. Mit dieser sich vom gekünstelten Intellektualismus abgrenzenden Neugier auf die Welt passt Cristoff wunderbar in dieses feine Programm, dessen edel ausgestattete Halbleinenbände – eine Mischung aus Hardcover und Broschur mit einem Absatzband, dessen Farbe sich auch im Innenteil wiederfindet – Schmuckstücke in jedem Buchregal darstellen.

PS. Den Förderpreis erhielt Peter Hinke für die Connewitzer Verlagsbuchhandlung in Leipzig, »die erfolgreich an Kurt Wolffs Leipziger Vorbild der großen Literatur in kleiner Buchform anknüpft, mit Nachdruck für die Gegenwartslyrik eintritt und auf hohem buchkünstlerischen Niveau Brücken zwischen Schrift und Bild schlägt«.