Comic

Schatzkiste im Grenzgebiet

Um kaum ein religiöses Artefakt ranken sich so viele Sagen wie um die Bundeslade der Israeliten. Die israelische Comiczeichnerin Rutu Modan lässt in ihrem neuesten Werk eine illustre Gesellschaft im israelisch-palästinensischen Grenzgebiet danach suchen.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, heißt es so schön. Auf den Archäologen Israel Broshi trifft das gleich im doppelten Sinne zu, denn sowohl seine ältere Tochter Nili als auch sein jüngerer Sohn Nimrod sind in seine Fußstapfen getreten. Allerdings hat die Ausgrabungsikone nicht mehr viel davon, denn Broshi ist an Demenz erkrankt und wird von der philippinischen Pflegekraft Shirley in seinen eigenen vier Wänden gepflegt. Nili und Nimrod schauen regelmäßig bei ihrem Vater vorbei. Ihr Erbe, das er ihnen mitgibt, wiegt umso schwerer, zumal er von seinem ehemaligen Assistenten Motke Sarid nicht nur abgelöst wurde, sondern der auch den Ruhm für dessen Entdeckungen eingestrichen hat. Denn es kommt nicht darauf an, wer etwas entdeckt, sondern wer den wissenschaftlichen Aufsatz dazu veröffentlicht, wie man als Leser:in lernt. Dass Nimrod inzwischen der Assistent von Motke ist und für eine Festanstellung auf dessen Fürsprache angewiesen ist, gibt dieser Personenkonstellation einen besonderen Reiz.

Dieser würde aber ins Leere laufen, würde nicht der Antiquitätenexperte Emil Abuloff – der schon mal mit dem IS verhandelt, um in den Besitz kleinasiatischer Kunstgegenstände zu kommen – auf Druck seiner Frau eines Tages entscheiden, seine komplette Sammlung der Universität zu stiften. Das alarmiert Nili, denn sie weiß, dass Abuloff im Besitz einer gefälschten Tontafel ist, auf der ihr Vater eine geheime Botschaft hinterlassen hat. In antiker Keilschrift ist auf der Tafel zu lesen, wo er die sagenumwobene Bundeslade vermutet, der er vor Jahren auf der Spur war. Die Kiste, die angeblich die Tafeln mit den zehn Geboten enthält, ist in ihrer Bedeutung für Archäologen und Mystiker dem Goldenen Vlies oder dem Heiligen Gral zuzuordnen. Nili war als Kind mit bei der Expedition im Westjordanland dabei, die damals aufgrund der Intifada abgebrochen werden musste.

Nun also will Nili verhindern, dass Motke mit dieser Tafel den meist gesuchten Schatz der Israeliten ausfindig macht und noch das letzte bisschen Ruhm ihres Vaters einheimst. Sie weiht Abuloff ein und stellt mit seiner Hilfe ein Team zusammen, um an der alten Ausgrabungsstelle nach der Bundeslade zu suchen, bevor es Motke tut. Dass dies aus dem missionarischen Zionisten Shmuël Gedanken und seinen Anhängern besteht, zu denen später noch ein paar palästinensische Schmuggler stoßen, denen Nili noch etwas schuldig ist, gibt diesem Himmelfahrtskommando von Ausgrabung ordentlich Zündstoff. Zudem taucht ein weiteres Problem auf: die Koordinaten des Vaters führen Nili direkt ins Grenzgebiet, in dem inzwischen eine zwölf Meter hohe Mauer Israelis von Palästinensern trennt. Der größte israelische Schatz liegt nach den Berechnungen ihres Vaters ausgerechnet unter palästinensischen Feldern – auf der anderen Seite der Mauer – vergraben. Den skurrilen Schatzjägern bleibt also nichts anderes übrig, als sich heimlich unter der Mauer hindurch zu graben.

Rutu Modan | © Roni Cnaan
Rutu Modan | © Roni Cnaan

Rutu Modan zeichnet in ihrem Comic in besonderer Weise brisante Fragen des Alltags im Nahen Osten nach, so wie sie es auch schon in ihrem Debüt »Blutspuren« tat. Da löste ein Anschlag eine Kette von Ereignissen aus, die tief in die verletzten Seelen der Menschen in Nahost führen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, den seit Jahrzehnten ungelösten Konflikt ethisch-moralisch zu erklären. In ihrem zweiten Comic »Das Erbe« widmete sich die Mitbegründerin der Comicgruppe Actus Tragicus der europäischen Geschichte der Großelterngeneration und Fragen der Erinnerung.

In ihrem neuen Werk geht es ihr wieder um aktuelle Fragen. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die festgefahrenen Positionen, die die Region seit Jahren fest im Griff haben. Diese sind geprägt von familiären Loyalitäten (Nili und Nimrod), religiösem Dogmatismus (Shmuël Gedanken) und skrupellosem Gewinn- und Machtstreben (Emil Abuloff, Motke Sarid), die von außen betrachtet leicht zu bewältigen scheinen, bei näherem Hinsehen sich aber als tief verankerte Verhaltensmuster erweisen.

Dass dabei die Familienkonstellation eine zentrale Rolle spielt, ist kein Zufall. »Die Familie, selbst wenn sie durch Abwesenheit glänzt (gerade dann), macht uns zu dem, was wir sind, sie ist der Schlüssel zu unserer Identität. In der israelischen Kultur ist die Kernfamilie immer noch eine sehr starke Institution und es ist (bei allen Problemen, die das mit sich bringt) immer noch üblich, von der jüdischen Nation als „einer großen Familie“ zu sprechen. All das macht die Familie zum perfekten Labor, nationale und private Themen zu untersuchen.«, erklärt Modan im begleitenden Presseheft zum Comic.

Rutu Modan: Tunnel. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Carlsen Verlag 2020. 280 Seiten. 28,00 Euro. Hier bestellen

Das Szenario der antiken Ausgrabung und der Suche nach dem heiligen Gral der Israeliten ist alles andere als abwegig, Archäologen suchen gegenwärtig in der Nähe von Jerusalem sowie in der Ausgrabungsstätte von Megiddo nach der Bundeslade. In ihrem Comic lädt Modan diese Suche zusätzlich auf, indem sie ihre Archäologen den Schatz auf palästinensischem Territorium vermuten lässt. Die Sprengkraft, die ein Fund der Bundeslade im Westjordanland hätte, ist kaum zu ermessen. Im Comic wird sie von dem enthusiastischen Zionisten Shmuël Gedanken folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Was immer ihr dort findet, kann die Verbindung zwischen dem Volk Israel und dem Land Israel beweisen. Man könnte dort Juden ansiedeln.« Kurz darauf ergänzt der Hobbyarchäologe: »Die Besiedlung des Landes Israel darf nicht für eine Minute gestoppt werden. Wir müssen bauen und bauen, damit es nie wieder rückgängig gemacht wird.« So verbindet Modan die Erzählung um eine krude Ausgrabung mit der umstrittenen israelischen Siedlungspolitik, nur um kurz darauf Nili mit ihrem palästinensischen Kindheitsfreund darüber diskutieren zu lassen, wer denn nun zuerst dagewesen sei. Die einen mögen das zwangsläufig nennen, andere spielerisch.

»Tunnel« verhindert, wie schon seine Vorgänger im Stil der Ligne Claire gezeichnet, einen moralisierenden Ton. Die Geschichte bleibt trotz Tiefgang federleicht, reflektiert die Aspekte des israelisch-jüdischen Alltags mit Ironie und Augenzwinkern. Etwa wenn die schießwütigen Söhne eines Militärs nach dem ehemaligen obersten Militär des Landes Moshe und Dayan benannt sind oder Shmuël Gedankens Jünger unablässig darüber philosophieren, wie sie eigentlich die Bundeslade bergen sollen, wenn diese tatsächlich 9000 Kilo schwer ist oder es wirklich einen echten Nachfolger des Messias braucht, um nicht bei Berührung der Lade in Flammen aufzugehen. Die von Markus Lemke ins Deutsche übersetzten Dialoge sind ebenso spitz und gewitzt wie die Zeichnungen.

Zudem bricht Modan den Ernst der Erzählung durch Nilis handysüchtigen Sohn, den das alles scheinbar kaum interessiert, solange er auf irgendeinem Handy herumdaddeln kann. Über ihn verbindet sie das Gestern der Archäologie mit der digitalen Gegenwart. Ob der Junge ein Hoffnungsstreif am Horizont ist, weil sich seine Generation für die alten Konflikte nicht mehr interessiert, oder der Anfang vom Ende, weil ihr jeder Bezug zum echten Leben fehlt, darf jede:r anders lesen.

Rutu Modans »Tunnel« ist eine wunderbar kluge Satire auf den Wahnsinn im Nahen Osten, die sich einer Zuordnung zu politischen Lagern verweigert. Dass am Ende jede einzelne Figur ein Schicksal ereilt, das auf ihre menschlichen Werte und Abgründe verweist, zeigt nur, dass der israelischen Zeichnerin nicht nur ihre Figuren, sondern auch die Gesellschaft, in der sie lebt, am Herzen liegt.