Rudolph und Gustav Dirks sind die ersten deutschen Comicpioniere, denen der Durchbruch in Amerika gelungen ist. Die umwerfende Monografie »Katzenjammer« lädt nun dazu ein, ihr bahnbrechendes Werk mit allen Hintergründen wiederzuentdecken.
Windsor McCay, George Herriman und Frank King gelten als die großen Pioniere des amerikanischen Comics. Ihre Geschichten von »Little Nemo in Slumberland«, »Krazy Kat« und »Gasoline Alley« haben der Neunten Kunst den Weg bereitet und dürfen noch heute in keiner Zusammenstellung fehlen. Auch bei der Ausstellung »Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde« anno 2016 in der Frankfurter Schirn waren sie prominent vertreten.
Einer, der gern vergessen wird, ist der deutsch-amerikanische Cartoonist Rudolph Dirks, dessen »Katzenjammer Kids« nach dem Vorbild von Wilhelm Buschs »Max und Moritz« entstanden sind. Selbst in dem ebenfalls zu einer gleichnamigen Ausstellung entstandenen Grundlagenwerk »Masters of American Comics« von John Carlin, Parl Karasik und Brian Walker sind dem Namensgeber des Internationalen Preises für Grafische Literatur der German Comic Con nur wenige Zeilen gewidmet.
Dirks konnte vom Aufwind profitieren, den die Cartoons in den amerikanischen Tageszeitungen seit Richard F. Outcaults unheimlich beliebter Ein-Bild-Fortsetzungsgeschichte »The Yellow Kid« hatten. Denn die frühen Funnies der Comicgeschichte erfreuten sich großer Beliebtheit, sie machten die dreckigen Seiten des amerikanischen Kapitalismus etwas erträglicher. Zeitungsmagnat William Randolph Hearst engagierte Outcault für seine Blätter und sammelte Cartoons in mehrseitigen Beilagen. Dafür brauchte er mehr Zeichner, also bekam Rudolph Dirks eine Chance. Am 12. Dezember 1897 tauchten seine »Katzenjammer Kids« erstmals in der Sonntagsbeilage des New York Journal auf.
Über ein halbes Jahrhundert lang erschien die Serie, in deren Mittelpunkt die beiden renitenten Zwillinge Hans und Fritz stehen, erst in Hearsts Blättern, dann bei dessen Konkurrenten Joseph Pulitzer. Damit bildet die Serie, die im Zuge der Rechtsstreitigkeiten zwischen Hearst und Pulitzer in zwei Versionen mit unterschiedlichen Titeln – Dirks konnte seine beiden Hauptfiguren mitnehmen und schrieb deren Abenteuer in der Serie »The Captain and the Kids« fort – weiterlebte, die längste Comicserie aus der Pionierzeit der Neunten Kunst. Sie ist bis heute als Referenz für viele Techniken, da Dirks als erster so etwas wie Speed Lines und Schweißtropfen eingesetzt hat, um Bewegung zu illustrieren.
Wenig ist davon bekannt, es bräuchte mehr Forschung und Auseinandersetzung. »Egal, ob sich der Comic avantgardistisch (und trotzdem bei den Lesern erfolgreich) behauptete oder seine Schöpfer dem Rollenmuster des verkannten Genies entsprachen, das Medium blieb a priori von jeglicher wissenschaftlicher Betrachtung und Beachtung ausgeschlossen«, schrieb Alexander Braun im Katalog der damaligen Ausstellung zu den amerikanischen Comic-Pionieren in der Kunsthalle Schirn.
Der Kunsthistoriker Alexander Braun hat seither seinen Ruf als Comicexperte mehrfach eindrucksvoll belegt. Er ist der einzige Deutsche, der jemals einen der renommierten Eisner-Awards erhielt. Braun hat sogar zwei im Regal stehen. 2015 erhielt er seinen ersten Eisner-Award für die von ihm kuratierte Gesamtausgabe »The Complete Little Nemo« von Windsor McCay, 2020 wurde er erneut für die kompletten Sonntagsseiten von George Herrimans »Krazy Kat«-Serie ausgezeichnet. Im avant-Verlag, aufgrund seiner Verdienste vor wenigen Wochen mit dem Berliner Verlagspreis ausgezeichnet, liegt zudem seit 2020 seine eindrucksvolle und reich illustrierte Monografie »Will Eisner – Graphic Novel Godfather« vor, 2022 erschien der Katalog der von ihm zusammengestellten Ausstellung zum »Horror im Comic«.
In diesen Tagen sorgt Braun nun gemeinsam mit seinem Co-Autor Tim Eckhorst (wie Dirks in Heide in Holstein geboren) erneut für Aufsehen. Grund ist ein fast 500 Seiten zählender Prachtband zu Dirks »Katzenjammer Kids«, der überhaupt ersten umfangreichen Monografie zu diesem Werk. Der im Coffeetable-Format aufgelegte Band erscheint anlässlich der noch bis zum 10. April im Dortmunder Schauraum geöffneten Ausstellung zum 125-jährigen Jubiläum des »ältesten und längsten Comics der Geschichte«.
Die Filmemacherin Martina Fluck hatte bereits 2019 eine abendfüllende Dokumentation »über die Comic-Pioniere Rudolph und Gus Dirks aus Heide in Holstein, die Ende des 19. Jahrhunderts die moderne Comic-Sprache in New York erfinden«, gedreht. An »Katzenjammer Kauderwelsch« beteiligt war damals Tim Eckhorst, einer der beiden Autoren des »Katzenjammer«-Bands.
Die aktuelle Ausstellung und der Band von Braun/Eckhorst machen nun unmissverständlich und unübersehbar die Pionierleistung von Rudolph Dirks (und in den ersten fünf Jahren auch von dessen Bruder Gustav, der sich 1902 das Leben nahm) deutlich. Denn Dirks Arbeiten haben dazu beigetragen, dass sich die Sprechblase als Sprechmedium durchsetzte und stellen eine Art Blaupause für jenen überzogenen Humor dar, der später in den so genannten Screwball-Komödien etabliert wurde.
Die Monografie ist bis in die letzte Fußnote informationsgesättigt, man erfährt hier nicht nur, wie es zur Serie kam, was sie ausmacht und welche Themen sie über die Jahre hinweg aufgegriffen hat, sondern steigt tief in die Comicforschung ein, für die nicht nur erstmals den Nachlass des Comicpioniers systematisch erschlossen wurde, sondern auch unzählige sekundäre Quellen angezapft worden sind.
So zeichnet dieser Band nicht nur das Leben und Schaffen des in »Schleswick-Holstein« geborenen deutschen Zeichners nach, sondern ordnet seine bekannteste Serie auch in die amerikanische Zeitungsgeschichte nebst Grabenkämpfen zwischen Herausgebern, Redakteuren und Zeichnern sowie hinsichtlich ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Neunten und aller anderen Künste ein. Mit unzähligen Illustrationen von Postkarten, Fotografien und Zeitungsausschnitten belegen Braun und Eckhorst Inspirationsquellen, Querbezüge und Motive, die in der Serie wieder auftauchen oder Dirks bei seiner Arbeit beeinflusst haben.
So ist dieser Band auch ein überwältigendes Wimmelbuch, mit dem man in die Welt rund um die Jahrhundertwende ein Amerika und Europa eintaucht, in der technische Errungenschaften, philosophische Geistesblüten, künstlerische Avantgarde und gesellschaftliche Entwicklungen sich gegenseitig beeinflussten. Was in den Roaring Twenties explodierte, gerät Anfang des 20. jahrhunderts ins Brodeln – »Katzenjammer« erzählt auch davon.
Diese überwältigende Monografie stellt in ihrer Zusammenstellung eine echte Pionierarbeit dar, die so viel Material wie noch nie versammelt, reflektiert und sortiert. Sie reicht von den ersten Skizzen über dokumentarische Fotografien und comichistorische Anverwandlungen bis hin zu schrägen Fanartikeln.
Besonders hervorzuheben ist die erstmalige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Leben und Werk von Rudolphs Bruder Gus(tav), der dem Ruf seines Bruders nach Amerika folgt und sich fünf Jahre nach seiner Ankunft das Leben nahm. Die Autoren schälen aus den Quellen die Familiengeschichte der Brüder heraus und würdigen zugleich jeden einzeln. Hans und Fritz sind – mit Abstrichen – mitunter auch als gewitzte Stellvertreter der beiden eingewanderten Brüder und die Geschichte als Allegorie auf zwei Einwanderer zu verstehen, deren Ankommen und Verwunderung in Amerika hier satirisch festgehalten wird.
Während Rudolph seine Erfolgsserie zeichnete, schuf Gustav ein verspieltes, sich Welt und Wille öffnendes Tier-Universum. Seine Arbeiten müssen als frühe Vorläufer der Funnies begriffen werden, die später die Comicwelt eroberten. Eine winzige Selbstkarikatur zeigt Gus Dirks im Stile von Wilhelm Buschs Onkel Fritz, nur dass der deutsche Zeichner nicht von Käfern attackiert wird, sondern diese kontrolliert unter die Lupe hält. Ein Beleg für seine intensiven Naturstudien, die Grundlage seiner Tierzeichnungen bildeten.
Der Stoßseufzer »Ach, Those Katzenjammer Kids« stand über so manchem Strip, eine Art erwachsener Warnhinweis auf das, was die beiden Lausbuben als nächstes anstellen werden. Diesen wortwörtlichen »Katzenjammer« verwandeln Braun und Eckhorst in Juchzer des Erstaunens und der Erkenntnis. Mehr kann man von einer Monografie nicht verlangen, die früh im Jahr schon einen Höhepunkt der Neunten Kunst darstellt, der schwer zu toppen sein wird.