Erzählungen, Literatur

Ein folgenschwerer Achsenbruch

Der Schweizer Jonas Lüscher erzählt in seinem Debüt »Frühling der Barbaren« souverän vom Zusammenbruch aller Werte inmitten eines nihilistischen Urlaubsparadieses.

Totgesagte leben länger. Überträgt man diese Weisheit auf die Literatur, dann ist die Gattung der Novelle schon mehrmals fast gestorben. In diesem Jahr erfreute sie sich einem zweiten Frühling. Ob Ulrich Tukurs surrealistische Fantasiegeschichte Die Spieluhr oder Friedrich Christian Delius’ Kleinevangelium Die linke Hand des Papstes – im Bücherherbst wurde deutlich, dass es nicht immer der Tausendseiter sein muss, um sich lesenderweise eine Welt zu erschließen. Die eindrucksvollste aller im vergangenen Jahr erschienenen Novellen hat allerdings der Schweizer Jonas Lüscher vorgelegt. In seinem literarischen Debüt Frühling der Barbaren lässt er vor den Augen seiner Leser die Welt in ihrem jüngsten Chaos versinken.

Der Schweizer Fabrikerbe Preising strandet aufgrund einer Autopanne in einem abgelegenen tunesischen Ferienressort und platzt am Vorabend des Zusammenbruchs der weltweiten Finanzmärkte in eine skurrile Hochzeitsgesellschaft aus Bankern und Tradern. Diese schütten die sich am Horizont abzeichnende Krise – halbnackt und rücksichtslos-ausgelassen feiernd – mit Gin Tonics und Caipirinhas in ihren Schlund und wiegen sich dabei in der falschen Sicherheit, dass sich die Marktschwankungen recht bald beruhigen werden. Ein Irrtum, wie wir heute wissen. Am Morgen nach dem rauschenden Fest wartet ein bitter-brutaler Kater.

Lüschers für den Deutschen Buchpreis nominierte Novelle beeindruckt in ihrer sprachlichen Souveränität und Prägnanz – jeder Satz besitzt seine eigene, wohl ausbalancierte Dramaturgie. Direkt unter die Haut wandert die weltumfassende, um nicht zu sagen dreiste Weisheit, mit der diese Novelle daherkommt. Der Schweizer Philosophiedozent verarbeitet in seiner Geschichte die gesamte Dialektik der Moderne, die in der tunesischen Wüstenlandschaft wie unter einem Brennglas zum Tragen kommt.

Helden, wie sie jeder Roman kennt, vermisst man in Lüschers Erzählung. Der wichtigste Protagonist ist der Geschäftsmann Preising, der im Rückblick von seiner Reise nach Tunesien erzählt. Dort wollte er sich nach besseren Konditionen für seine Firma umzusehen, was ihn in das Unternehmen eines potentiellen Subunternehmers führte, in dem »durch den Einsatz geflüchteter minderjähriger Dinkas aus Darfur« die Produktionskosten gering gehalten werden. Was den Kulturrelativisten Preising zu der Überlegung bringt, was man da macht angesichts der Aussicht, auf Kosten von Kinderarbeit endlich »marktfähig« zu werden.

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Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren. Verlag C. H. Beck 2013. 125 Seiten. 14,95 Euro. Hier bestellen

Dieser kurze, erschütternde Ausflug in die ethikferne kapitalistische Weltordnung lässt erahnen, was nun folgt. Denn noch bevor Preising, der »die Tugendethik wie eine Monstranz vor sich herzutragen« gewöhnt ist, entscheiden kann, ob er sich auf diesen unmoralischen Deal einlassen will, strandet er nach einer Autopanne in der Oase, in der sich das noble Thousand and One Night Ressort eingerichtet hat. Hier gastiert die Hochzeitsgesellschaft des Londoner Pärchens Marc und Kelly, die mit ihren Broker-Freunden einige ausgelassene Stunden verbringen wollen. Dass sich hier eine besondere Spezies der Gattung Mensch versammelt hatte, wird Preising schnell klar: »Ihre Gehälter rechtfertigten, dass man von ihnen verlangen konnte, immer und überall erreichbar zu sein.« Beim Blick über die sich an Pool und Bar räkelnden Körper stellt er fest, dass die Finanzkrise breite Brust und schmale Hüften trägt und ihre Vertreter selbst nackt »wie in Uniform« wirkten.

Lüscher braucht mehr nicht, als diese wenigen Informationen, um neben dem Bild dieser Hochzeitsgesellschaft auch noch eines unserer Zeit zu evozieren. Körperkult, Selbstgefälligkeit und Technikwahn, das alles zum halben Preis – sollen das die zivilisierenden Säulen unserer Zeit sein? Diese Frage schwingt unablässig mit in dieser packenden Erzählung.

Es kommt natürlich, wie es kommen muss, und in der Nacht des rauschenden Festes brechen die Finanzmärkte zusammen. Die so allmächtigen Kreditkarten der Hochzeitsgäste sind innerhalb von Minuten ihren Plastikträger nicht mehr wert. Die Gäste realisieren mitten im nihilistischen Einheitsgrau der tunesischen Wüste die plötzliche Sinnleere ihres jetzt schon arbeitslosen und völlig überschuldeten Daseins. »Das wird kein gutes Ende nehmen«, unkt der Vater des Bräutigams schon in der Mitte dieser Erzählung, wo noch nicht zu ahnen ist, dass das Hochzeitsfest den kulturellen Verfall gleich im doppelten Wortsinn rauschend feiern wird. Denn im Dunkel der Nacht fallen nicht nur die letzten Anstandshüllen der Londoner Banker-Schickeria. Es purzeln die Werte der euroamerikanischen Geldkultur und es brechen die Achsen der Zivilisation.

Diesem rasanten Kulturverfall folgt der Niedergang des Zivilisatorischen, die barbarischen Urinstinkte in den Hochzeitsgästen bahnen sich mit dem heranbrechenden Morgen ihren Weg ans Tageslicht. Da wird die Poolbar geplündert, der Pool selbst wird zum dystopischen Sumpf der westeuropäischen Müllkultur, es gibt wilde Begattungsszenarien und nie geahnte Gewaltausbrüche. Zugleich gerät auch die nordafrikanische Gastfreundlichkeit auf die schiefe Bahn. Sie entlarvt sich als Kultur des Aufgesetzten, deren Wurzeln in der strauchelnden westlichen Geldmaschine keinen Halt mehr finden. Die Hochzeitsgesellschaft wird an die Luft gesetzt, es gibt empört-arrogante, aber letztlich doch erfolglose Versuche der Wüstenpiraterie.

Jonas Lüscher bündelt in seiner Novelle auf grandiose Weise die brennenden Fragen der Gegenwart. Auf nicht einmal 130 Seiten fordert er seine Leser zu einem atemberaubenden Slalom durch die Herausforderungen der Moderne. Die Stangen, die den Lesern dabei gegen die Schienbeine schlagen, sind die Prinzipien unserer Kultur, die viel weniger stabil sind, als wir annehmen. So kühn, gewinnend und wenig belehrend hat noch niemand die Krise der Moderne beschrieben.