Marica Bodrozic entlockt der deutschen Sprache mit ihrer bilderreichen Poesie einen Klangraum von seltener Klarheit. In ihrem aktuellen Essay »Mein weißer Frieden« erkundet sie Wege, um eine Sprache für das vermeintlich Unsagbare und tatsächlich Ungesagte zu finden. »Weil es sagbar ist«, wie schon Carolin Emcke wusste.
In Dalmatien wurde Marica Bodrozic 1973 geboren, aber erst 1983 kam sie zu ihren Eltern nach Deutschland, die als Gastarbeiter längst nicht mehr in ihrem Herkunftsland lebten. Bis dahin war sie bei ihrem Großvater in Svib aufgewachsen. Erst mit zehn Jahren lernte sie Deutsch, aber was sie seither ihrer zweiten Muttersprache entlockt, macht nicht selten sprachlos. Zahlreiche Literaturpreise hat sie bereits erhalten. Sie ist in einer Reihe mit Terézia Mora, Olga Martynova, Olga Grjasnowa und Sasa Stanisic zu nennen und ein weiterer Beleg dafür, wie sehr die deutsche Sprache von ihrer Eroberung durch Menschen mit Migrationsgeschichte profitiert. Ihre elf erschienenen Romane, Gedichtbände und Erzählungen sind von einer weltbewegenden und weltverrückenden Poesie durchzogen. Ihr inniges Verhältnis zur deutschen Sprache hat sie in ihrem autobiografischen Band »Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern« als Liebesverhältnis bezeichnet.
Für ihren nachdenklichen, philosophischen Essay »Mein weißer Frieden« ist Marica Bodrozic seit 2006 immer wieder in ihr Herkunftsland Kroatien gereist, um in Gesprächen mit den Menschen zu erfahren, was der Krieg auf dem Balkan an den Körpern der Versehrten für Wunden geschlagen und in den Köpfen und Herzen für Spuren hinterlassen hat. Es war eine »Reise zurück zu jenen Landschaften, Orten und Menschen, die mich geprägt, geformt, geknetet und geliebt haben«, schreibt sie zu Beginn ihres Buches, das sich wie ein Reisebericht liest, aber viel mehr ist als nur das. Es ist eine Erkundung des Menschlichen, der Tragweite seiner Güte.
Auslöser dieser Erkundungsreise war ein befremdliches Urlaubserlebnis. Als sie auf der Insel Brač in der Sonne lag und versuchte, etwas zu lesen, nahm sie im Augenwinkel ein blinkendes Etwas wahr. Es war eine Prothese, ein irgendwie unwirkliches Ding, das in seiner Gegenständlichkeit in ihre Wirklichkeit eindrang und diese ein wenig verschob. Seither ging ihr dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf, sie wollte wissen, wie Menschen mit ihrer Erinnerung an den Krieg umgehen und wie sich dies auf die jüngeren Generationen auswirkt. Die Suche nach Antworten, die sie seither immer wieder nach Kroatien führte, brachte auch viele persönliche Fragen mit sich. Etwa die nach ihrem ambivalenten Verhältnis zum Vater, der ihr erst die kosmische Gesamtheit der Dinge erklärte, um sie dann aufzufordern, den »Sternen in den Bauch« zu schießen. Der seine Tochter ein Bild des kroatischen Faschisten Ante Pavelic nach Deutschland schmuggeln ließ und am geschändeten Grab seines serbischen Nachbarn fassungslos bittere Tränen weinte.
Diese Diskrepanz zwischen Ideologie und Emotion tritt in den verschiedenen Gesprächen und Begegnungen, von denen die Autorin berichtet, immer wieder zutage. Sobald das Schicksal einer bestimmten, zuordenbaren Person zwischen die Ideologie der Kriegsparteien und die Beziehungen der Menschen untereinander tritt, werden die Sprache weicher und die Unterschiede kleiner. Der Krieg, das wird in diesen spiegelbildlichen Szenen deutlich, löscht das Individuum aus.
Viele ihrer männlichen Gegenüber berichten der Autorin, dass sich bei ihnen etwas ausgeschaltet habe, als sie in den Krieg zogen. Wie ein natürlicher Schutzreflex wirkt das im Nachhinein. Denn »nichts im Leben könne einen darauf vorbereiten, einen Menschen zu töten«, wie es Filip, ein Cousin von Marica Bodrozic ihr gegenüber einmal formulierte. Filip hat sich das Leben genommen, erhängt in einem Wald, weil er die Lasten der Vergangenheit nicht tragen konnte.
»Alle sind ohne nachzudenken in den Krieg gezogen«, erklärte Antun der Autorin in Split, aber nur die wenigsten kamen unversehrt zurück. Wenn der Körper keinen Schaden genommen hatte, dann meist die Seele. »Mit dem Verlust des Mitgefühls für alle uns umgebenden Geschöpfe verlieren wir unsere wahre Stimme, die mit der Verantwortung nicht nur für uns selbst, sondern auch immer auf den anderen verweist«, schreibt Albert Schweitzer in seinen philosophischen Texten »Die Ehrfurcht vor dem Leben«.
Dieser Verlust des Mitgefühls setzt sich in den Dorfgemeinschaften auf dem Balkan fort, wie Marica Bodrozic beobachtet hat. Um die patriarchalen Strukturen zu erhalten, demütigen die Väter ihre Söhne und diese ihre Frauen und Kinder. Davon zu lesen ist immer wieder schwer zu ertragen, aber es gehört dazu, will man verstehen, welche Systeme in der Region greifen.
Bodrozic hat auf ihren zahlreichen Reisen von ihren Kenntnissen zur Gesprächsführung aus ihrem Studium der Kulturanthropologie profitiert. Sie habe ihre Gesprächspartner immer aussprechen lassen, auch wenn sich in ihr Widerstand geregt habe, erklärt sie bei einem Gespräch in Berlin, so dass dieser seine Wahrheit präsentieren konnte. Bodrozic wurde so zum Echoraum ihrer Gesprächspartner. Profitiert hat sie auch davon, als »eine von ihnen« wahrgenommen worden zu sein. Damit war die Distanz zum »empfindungslosen Europa«, das an den Fernsehgeräten zugeschaut und im Herzen weggeschaut hat, überwunden. Bei den zahlreichen Gesprächen hat sie eines gelernt: Die Welt funktioniert nicht im Singular, sondern nur im Plural. Es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern die vielen Erfahrungen, die Menschen gemacht haben.
Eine besondere Nähe hat Bodrozic zu den Frauen entwickelt, denen sie begegnet ist. Ihr Buch ist einigen von ihnen gewidmet, denn im Kreis von Ismeta und Vedrana, Petra, Saida, Lina und all den anderen Frauen hat sie sich in der Welt wiedergefunden, die sie als Zehnjährige verlassen hat. »Wir sind der kleine Kern von dem, was Jugoslawien einmal war, haben verschiedene Nationalitäten und Religionen«, schreibt sie im Rückblick.
Dieses Buch ist – ähnlich wie Carolin Emckes Essaybände »Wie wir begehren« und »Weil es sagbar ist« – kein politisches Buch, will es auch gar nicht sein. Die politische Dimension kann man ihm dennoch nicht vollkommen nehmen, denn Marica Bodrozic dringt bei ihrer Selbst- und Fremdbefragung natürlich zu Fragen vor, die allein auf individueller Ebene nicht zu klären sind. Wenn man danach fragt, wie so etwas wie das Massaker von Srebrenica mitten in Europa, in einer UN-Schutzzone und unter der Zeugenschaft eines Millionenpublikums an den Fernsehschirmen passieren kann, ist das keine individuelle, sondern eine politische Frage, die nichts an Gültigkeit verloren hat. Denn Srebrenica ereignet sich heute in anderer Form in Syrien, im Irak und in zahlreichen anderen Regionen dieser Welt.
Auch heute führen diese Ereignisse nicht zu einem Ende des politischen Geschachers, der Mantel der Gleichgültigkeit legt sich in diesen Tagen ebenso über unser aller Köpfe, wie er es vorher schon dutzende Male getan hat. »Wie kann man sich als Mensch nicht beteiligt und wie nicht gemeint fühlen, wenn anderen solches Leid geschieht?« Das sind Fragen, die Marica Bodrožić umtreiben und die sie immer wieder zur Haltung zurückführt. »All die guten Dinge, die wir glauben, leben wir nicht«, sagt sie, und man fühlt sich ertappt, wie immer wieder in diesem nachdenklichen Buch über die eigene und die fremde Position angesichts des Krieges, der ein Monstrum ist und bleibt.
Die fatalen Folgen der eigenen und der fremden Position, der eigenen Nichterfahrung und der fremden Erfahrung, beschreibt Carolin Ecke in »Weil es sagbar ist«. Darin schreibt sie, dass Leid und Gewalt zu einem sprachlichen Problem werden. »Die Erlebnisse scheinen nicht beschreibbar, weil die Betroffenen sie selbst nicht verstehen, weil sie alles zu übersteigen drohen, was vorher als Erfahrung zählte. Zu harmlos wirken die üblichen Begriffe angesichts des Schreckens, zu flach. Um die Verwüstungen zu beschreiben, müssten Worte, eines nach dem anderen, an dies angelegt werden, wie Pailletten an einen Stoff, bis sie alles bedecken. Und die Erlebnisse erscheinen anderen nicht vermittelbar, weil sie die, die sie durchleiden, absondern von denen, die verschont wurden. Zu kurz scheint jede Erzählung angesichts des Schreckens, zu dünn, um die Last der ganzen Erfahrung tragen zu können.«
Was bleibt, sind Erinnerungen, Traumata und Ängste, unzählige Fragen und eine zum Himmel schreiende Sprachlosigkeit. Marica Bodrozic hat deren schweren Vorhang immer wieder zur Seite schieben können, weil ihr keine Erzählung zu lang war. Aus der Sprache, die dann frei wurde, hat sie das Wunderwerk einer humanistischen Andacht geschaffen, die uns innehalten, nachdenken und gemeint sein lässt. »Der weiße Frieden«, von dem sie erzählt, ist nicht die äußere Abwesenheit des Krieges, sondern der »unversehrte geistige Kern« im Menschen, der Moment der Unschuld, in dem das Auf- und Abrechnen beendet wird und man sich ohne Vorbehalte begegnet. Dieser weiße Friede fällt den Unversehrten natürlich leichter als den Geschädigten, aber die Schriftstellerin will nicht aufhören, an den Grundsatz der »Helligkeit« in jedem Menschen zu glauben.
Dennoch verschwindet das Dunkle nie ganz, »kein Krieg hört auf, nur weil die Waffen schweigen«. Er hinterlasse ein Erbe, schreibt Marica Bodrozic, »dunkle Gaben, die wie eine lauernde Krankheit in den Gesichtern, Geschichten, Körpern, Sätzen und der Vorstellungskraft der Menschen weiterleben«. In diesem klugen und nachdenklichen Buch begegnen wir ihnen und lernen, was diese dunklen Gaben anrichten.
In einem Gedicht schreibt Bodrozic: »Sitzen die Krähen am Straßenrand und denken sich nichts beim Schwarzsein die Erde aber hat Phantomschmerzen sie denkt mit bedenkt auch die Erinnerung bedenkt die Schwärze der Krähen unter einem Baum an einem Tor an einem Sommer in der eine UN-Schutzzone ein Grab schaufeln ließ für alle Männer eines Ortes mitten in Europa hörten 8000 Liebesgeschichten auf 8000 Gedächtnisse nahm die Erde auf und die Krähen picken noch immer nach ihren Namen sitzen noch immer unwissend auf ihren Schädeln am Straßenrand.«
[…] Die Krähen picken noch immer […]