An Don Winslow kommt man in diesem Büchersommer nicht vorbei. Gerade ist sein Roman »Das Kartell« als Fortsetzung des fulminanten Bestsellers »Tage der Toten« erschienen, parallel dazu sind die beiden ersten Bände der vierteiligen Miniserie um seinen Ermittler Neal Carey erschienen. Bis Oktober soll die Serie, mit der Winslows einzigartige Karriere als Krimiautor begann, abgeschlossen werden.
Im Mittelpunkt der in den 1960er Jahren angesiedelten Buchreihe steht – wenig überraschend – Neal Carey, der im zarten Alter von elf Jahren an den irischen Privatermittler Joe Graham gerät, als er ihm versucht, seine Geldbörse zu stehlen. Doch statt dem Jungen die Ohren langzuziehen, erkennt Graham in ihm das Potenzial, dass es braucht, will man im halbseidenen Geschäft der Schattenwirtschaft reüssieren. Also nimmt er den Sohn einer Heroinabhängigen Prostituierten unter seine Fittiche, bringt ihm bei, wie man Personen verfolgt und dabei mit den Kulissen der Stadt verschmilzt, Ermittlungen und Verhöre durchführt, Indizien sammelt und seine Schlüsse zieht, aber auch, wie man seine Wohnung sauber hält, kocht und sich gesund ernährt und wie man sich gegenüber Mädchen und Frauen benimmt. Kurzum, er macht ihn zu einem Oliver Twist seiner Zeit. Es ist alles andere als ein Zufall, dass Graham später von seinem Ziehsohn mit dem Eigenschaftswort »faginesque« beschrieben wird, angelehnt an Fagin, den Boss der Londoner Diebesbande in Charles Dickens Roman, der den Waisenjungen das Klauen beibringt.
Nach dem Ende seiner Ausbildung ist Neal Carey bereit, zum »Hausmeister der Reichen und Mächtigen« zu werden, denn er wird Teil der amerikanischen Wirtschaftsmafia, hier »Friends of the Family« genannt. Die Family meint die Kunden der Bank von Ethan Kitteredge, der einen in seiner Branche schmeichelhaften Ruf genießt: »Er machte aus altem Geld neues, aus neuem altes oder ließ es so aussehen, als sei es ganz verschwunden«, wie es im zweiten Band der Neal-Carey-Reihe heißt. Das System seiner Bank besteht in einer Rundum-Versorgung ihrer Kunden, hier kommt dann der Sicherheitsdienst des Geldhauses, die Friends, ins Spiel. »Ethan Kitteredge war so gut darin, sich um das Geld anderer zu kümmern, dass er im Nebenberuf sogar noch für Ordnung im Privatleben seiner Investoren sorgte. »Friends of the Family« kümmerte sich um die Freunde der Familie – das heißt um Menschen, die genug Geld in die Bank der Kitteredges investiert hatten, um diesen eine Existenz in stiller Herrlichkeit zu garantieren.«
In dem ersten Teil der Serie London Underground erhält Carey den Auftrag, eine verschollene Politikertochter wiederzufinden. Die rebellische Allie Chase ist zuletzt in London gesehen worden, scheint dort aber in die Drogenszene geraten zu sein. Carey, der sich eigentlich viel lieber auf mit der Abschlussarbeit seines Literaturstudiums über das Werk des schottischen Schriftstellers Tobias Smollett vorbereiten würde, muss also in die britische Hauptstadt fahren. Er hat nur wenige Wochen, um die missratene Senatorstochter zu finden und wiederherzustellen, um pünktlich zum Wahlkampfauftakt neben dem lieben Vater in die Kamera zu lächeln. Doch in London tauchen plötzlich ungeahnte Schwierigkeiten auf, die dem Fall eine mysteriöse Note geben. Zwar findet der Carey das Mädchen relativ schnell im Umkreis eines Drogenrings, dessen Boss stellt sich jedoch mehr als quer, als es darum geht, Carey das Mädchen zu überlassen. Dazu kommen seltsame Nebenfiguren, die einen Erfolg der Mission scheinbar mit allen Mitteln vereiteln wollen, so dass sich relativ schnell die Frage stellt, ob Neil Carey nicht nur ein Bauernopfer darstellt, um zu verheimlichen, dass Allie Chase niemals in den USA ankommen soll. Denn innerhalb der Familie schlummert ein Geheimnis.
Carey wird tatsächlich stärker in die Schusslinie geraten, als ihm lieb ist, aber dass er den Fall überlebt, macht die Fortsetzung der Serie um den literaturwissenschaftlich gebildeten Privatcop deutlich, der nicht unbedingt hoch motiviert ist, was seine Aktivitäten für die »Friends of the Family« betrifft. Entsprechend wenig begeistert ist er, als ihn zu Beginn von China Girl sein Ziehvater im schottischen Hinterland aufsucht, wo er sich von seinem letzten Fall in London erholt. Er überbringt ihm einen Auftrag von Mr. Kitteredge persönlich. Carey soll den amerikanischen Wissenschaftler Robert Pendleton wiederfinden, der seit einer Konferenz in den USA verschwunden ist. Zuletzt wurde er mit einer bildschönen Asiatin gesehen, die ihn um den Finger gewickelt hat.
Bei dem geheimnisvollen China Girl, nach der der umfangreichste der vier Carey-Romane benannt ist, handelt es sich um die Künstlerin Li Lan, mit der sich Pendleton ein neues Leben aufbauen will. Doch als es zu einem Treffen zwischen Pendleton, Lan und Carey kommt, überschlagen sich die Ereignisse. Erst lockt die Chinesin den jungen Neal Carey nackt in einen Whirlpool, um sich dann mit ihrem Wissenschaftler aus dem Staub zu machen, während auf den Privatermittler geschossen wird. Es folgt eine spektakuläre Verfolgungsjagd durch San Francisco über Hongkong bis nach China, wo Pendleton von Maos vermeintlicher Spionin angeblich gelockt werden soll. Denn nach den Katastrophen vom Großen Sprung und der Kulturrevolution braucht China endlich eine Erfolgsmeldung und das Regime hofft, dass Pendleton mit seinen Erfahrungen wesentlich dazu beitragen kann. Carey soll das allerdings verhindern und gerät zwischen die Räder von ideologischer Weltpolitik und dem pragmatischen Utilitarismus der chinesischen Innenpolitik.
Schon in diesen ersten beiden Romanen von Don Winslow wird deutlich, dass man es hier nicht mit Massenware der Kriminalliteratur zu tun hat, sondern mit klug komponierten Plots, die weder Tiefgang noch echte Charakterköpfe vermissen lassen. Zwar haben sie noch nicht die konstante Wucht von Tage der Toten oder Kings of Cool, aber sie klingt hier immer wieder an.
Allein Neil Carey hat es in sich, da er seinem Ziehvater Joe Graham überaus loyal und dankbar verbunden ist, dessen »Auftragsgeber«, der »Friends of the Family«, aber mit einer selbstbewussten Ablehnung gegenübersteht. Außerdem ist der Smollett-Liebhaber ein echter Literat; und Belesenheit hat Ermittlern noch nie geschadet. So auch hier, etwa wenn er auf eine als verschollen geltende kommentierte Erstausgabe von Smollets Die Abenteuer des Peregrine Pickle stößt oder es versteht, mit seinem chinesischen Dolmetscher über Huckleberry Finn zu sinnieren, um zwischendurch dann mal Smolletts Schelmenroman Die Abenteuer Roderick Randoms zu lesen; anders scheint die Welt für ihn sonst nicht erträglich. Es ist anzunehmen, dass Neil Carey in den beiden die Reihe abschließenden Bänden Smolletts verbleibende Abenteuerromane von Ferdinand Fathom und Launcelot Greaves lesen, um dann vielleicht auch mal seinen Abschluss an der Universität zu machen. Zuvor wird er sich gewiss auch in die weiblichen Protagonisten verlieben, die er in diesen Romanen suchen muss.
Erzählerisch beeindruckt insbesondere Winslows zweiter Roman, da er dort durch verschiedene Winkelzüge nicht nur das Drama der chinesischen Innenpolitik auf wenigen Seiten anschaulich und verständlich herunterbricht, sondern auch des geopolitische Macht- und sicherheitspolitische Ränkespiel zwischen den USA und China in einem vielschichtigen Plot verarbeitet. Es ist sicherlich kein Zufall, dass China Girl bereits 1997 unter dem Titel Das Licht in Buddhas Spiegel erschienen ist. Als Teil der Carey-Serie kann man es aber nun erstmals einordnen in den Gesamtkosmos dieses Ermittlers und seiner prägenden Geschichte, die Elementar für das Verständnis seines Handelns und seiner Beziehungen ist.
Conny Lösch hat Winslows literarische Debüts ins Deutsche übertragen. An ihrer Übersetzung gibt es nur wenig auszusetzen, die größte Schwäche – die Sprache der Protagonisten trifft nicht immer den Ton ihrer Zeit – ist für den Erfolg der Bücher wiederum die Stärke, weil diese Geschichten nicht ein halbes Jahrhundert entfernt wirken, sondern eher hiesig, fast modern. Als Leser ertappt man sich immer wieder dabei, die Geschichte in der Gegenwart zu verorten. Wo die Übersetzerin aber alle Register zieht, ist bei der feinfühligen Ironie und dem hintergründigen Sarkasmus, die Winslows Romane prägen und zu so lesenswerten Perlen der Crime-Literature gemacht haben.