Nicht erst seit »Downton Abbey« boomt die völlig verkitschte Darstellung der englischen Upper Class der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Trend fördert eine Nostalgiewelle, die England als »good old Blighty« feiert und zugleich für politisch rechte Propaganda instrumentalisiert wird. Susanne Kippenbergers Biografie »Das rote Schaf der Familie. Jessica Mitford und ihre Schwestern« zeigt nicht nur auf höchst unterhaltsame Weise, was biografisches Schreiben alles kann, sondern auch, dass damals wie heute die Gefahren des Faschismus nicht zu unterschätzen sind – weder in England noch in Deutschland.
»In Großbritannien sind die Mitfords so bekannt wir bei uns die Manns. Nur noch berüchtigter«, konstatiert Susanne Kippenberger gleich zu Beginn ihrer Sammelbiografie über die sechs Mitford-Schwestern und weckt damit hohe Erwartungen bei ihren Leserinnen und Lesern: ein bohemienhafter Lebensstil, höchste künstlerische Leistungen sowie größtes politisches Engagement. Doch hält dieser Vergleich den Erwartungen stand? Können zwei Familien, die fraglos zu den schillerndsten des 20. Jahrhunderts gehören, die aber mit Blick auf soziale Herkunft, Bildung und politischer Einstellung unterschiedlicher nicht sein könnten, auf diese Weise miteinander ins Verhältnis gesetzt werden?
Um es vorwegzunehmen: Auch wenn sich der Vergleich zwischen den sechs Kindern von Thomas und Katia Mann und den sechs Töchtern von Lord und Lady Redesdale zweifellos anbietet, so hinkt er doch gewaltig. Zwar sind sie allesamt ebenso berühmt wie berüchtigt, doch der legendäre Ruf von Nancy, Pamela, Diana, Unity, Jessica und Deborah Mitford basiert vor allem auf der Art und Weise, wie sich die Schwestern mit ihrer Familie, ihrer Gesellschaftsklasse und den politischen Geschehnissen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen: von reaktionär-konservativ bis revolutionär, von antifaschistisch bis kommunistisch. Die Mitfords sind ein gesellschaftliches Biotop – und eine Klasse – für sich.
Wer sind diese legendären, exzentrischen Schwestern, die Susanne Kippenberger gekonnt und detailliert porträtiert? Und wer ist Jessica Mitford, die Kippenberger ins Zentrum ihrer Sammelbiografie stellt? Am Rande der idyllischen Cotswolds – dem Inbegriff englischer Landschaft, circa 150 Kilometer von London entfernt – wachsen die Schwestern als typische Vertreterinnen der Upper Class auf: ohne formale Schulausbildung, dafür aber mit fest etablierten Beziehungen in die höchsten Kreise von Gesellschaft, Politik und Literatur. Egal ob der Schriftsteller Evelyn Waugh oder der Politiker Winston Churchill – die Mitfords kennen alle. In diesem eng gestrickten Familiengefüge sind sich zwar nicht alle Mitglieder zu jedem Zeitpunkt grün – vor allem nicht während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und der Hochphase der britischen Faschisten –, aber im Notfall halten die Schwestern wie Pech und Schwefel zusammen.
Die den deutschen Lesern und Leserinnen wohl bekanntesten Schwestern sind Nancy und Unity. Die erstgeborene Nancy (1904-1973) avanciert mit ihren meist autobiografischen Gesellschaftsromanen (z.B. Englische Liebschaften von 1945) zu einer der bissigsten Satirikerinnen, die ihre Landsleute und ihre eigene Klasse aufs Korn nimmt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt sie – zumindest politisch gemäßigt – bis zu ihrem Tod in Paris. Unity, die vierte Schwester (1914-1948), ist in Deutschland vor allem als innige Freundin Adolf Hitlers bekannt. Hitler empfängt sie mit ihrer Mutter zum Tee, sie reist zu den Nürnberger Parteitagen und nach Bayreuth – stets sucht sie seine Nähe und Aufmerksamkeit. Lange Zeit versteht sie sich als Vermittlerin zwischen England und Deutschland, doch die deutsche Kriegserklärung an England zerstört diese Illusion: Unity schießt sich in München eine Kugel in den Kopf – und überlebt. Ihre Mutter Lady Redesdale pflegt Unity bis zu ihrem Tod. Auch die drittälteste Schwester Diana (1920-2003) ist eine glühende Faschistin. Nach einer kurzen Ehe mit dem Brauereierben Bryan Guinness heiratet sie 1936 Oswald Mosley, den Führer der aufsteigenden British Union of Fascists. Er war den meisten seiner Schwägerinnen ein Dorn im Auge und besonders für Nancy ein steter Quell des Spotts, wie man in ihrem wunderbar bissigen Roman Landpartie mit drei Damen (1935) nachlesen kann. Die Trauung findet in Joseph Goebbels’ Wohnzimmer statt, Hitler ist als Ehrengast zugegen. 1940 werden Diana und Oswald Mosley aufgrund ihrer Kontakte zu den deutschen Nationalsozialisten verhaftet. Dianas dreieinhalbjährige Haft beruht unter anderem auf der Aussage ihrer Schwester Nancy gegenüber dem Kriegsministerium, die Diana als extrem gefährliche Person einschätzte.
Die zweitälteste Schwester Pamela (1907-1994) und die jüngste Deborah (1920-2014) entsprachen wohl am ehesten den gesellschaftlichen Vorstellungen der Upper Class: Pamela – die von ihren Schwestern nicht ohne Spott »Woman« genannt wird – und Deborah bleiben dem Landleben treu. Vor allem Deborah versteht es, ihre adlige Herkunft gewinnbringend zu vermarkten und den Wohnsitz ihres Mannes, Schloss Chatsworth, zu einer Touristenattraktion zu machen. Der einzige Bruder Thomas (1909) ist eine Randfigur im schwesterlichen Gefüge. Im Gegensatz zu den Mädchen erhält er eine standesmäßige Internatserziehung und wird Jurist. 1945 fällt er in Burma – mit ihm endet die Adelslinie der Mitfords, da Titel und Sitz im Oberhaus nicht an Mädchen vererbt werden konnten.
Und dann ist da noch Jessica, genannt »Decca« (1917-1996), die Protagonistin in Kippenbergers Buch und das titelgebende »rote Schaf« der Familie Mitford. Mit 19 Jahren brennt sie mit ihrem Cousin zweiten Grades und Neffen Winston Churchills, dem berüchtigten Esmond Romilly, durch, um im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco zu kämpfen. Sie geht mit ihm nach Amerika, schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch und wird 1941 zur Kriegswitwe. Jessica bleibt im fernen Amerika, tritt der kommunistischen Partei bei, heiratet – zum Entsetzen einiger ihrer Schwestern – einen jüdischen Rechtsanwalt und engagiert sich für die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Sie wird vom FBI überwacht und während der Hexenjagd auf Kommunisten vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe geladen. Ohne jegliche formale Ausbildung wird sie eine der ersten investigativen Journalistinnen, als Buchautorin legt sie ihre Finger in jede Wunde, die sich ihr in der amerikanischen Gesellschaft und im Staat auftut. Ihr Buch über das US-amerikanische Bestattungs(un)wesen, The American Way of Death (1963), wird ein Bestseller und bringt die gesamte Bestatterbranche gegen sie auf – was die Autorin jedoch kaum beeindruckt. Jessica bleibt zeitlebens ein Mitglied der englischen Oberschicht, eine in Amerika lebende Kommunistin und Bürgerrechtlerin, eine kettenrauchende Hausfrau in der kalifornischen Provinzstadt Oakland und Mutter von drei Red Diaper Babies, wie die Kinder von Mitgliedern der Kommunistischen Partei genannt wurden. Sie ist eine obsessive Brief-, später Faxschreiberin, eine Revolutionärin, aber vor allem ist sie eine Mitford.
Susanne Kippenberger ist ein Glücksfall für die Mitfords – und für die Leser_innen. Als erfahrene Journalistin, Tagesspiegel-Redakteurin und Buchautorin weiß sie, wie man auch bei langen Texten die Leserschaft im Bann halten kann. Sie ist eine vorsichtige und genaue Biografin, die eine professionelle Distanz zu ihrem biografischen Gegenstand hält. Ihre Recherchen sind extensiv und – dank des umfangreichen, aber unaufdringlich am Ende des Buches platzierten Anmerkungsteils – eine wahre Fundgrube für interessierte Lesende. Aufgrund der Fülle an erwähnten Personen und Persönlichkeiten wäre ein Register eine sinnvolle Ergänzung des Anmerkungsteils.
Zu den großen Vorzügen von Das rote Schaf der Familie gehört die breite Kontextualisierung der Mitfordschen Lebensläufe. Kippenberger gelingt es nicht nur, kulturelle und historische Querverbindung über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg sichtbar zu machen, sondern die Biografien der Schwestern kongenial darin einzubetten. Dabei verliert sie die komplexen Familienbande und politischen Verstrickungen nie aus den Augen, und auch nach längeren Exkursen kommt sie immer wieder zu ihrer eigentlichen Protagonistin Jessica zurück. Die zahlreichen Illustrationen ergänzen und bereichern die Lebensgeschichte ganz ohne Frage, allerdings hätten sie durchaus auf höherwertigerem Papier gedruckt werden dürfen.
Trotz aller sprachlicher Versiertheit wird Kippenbergers Ton zuweilen zu flapsig und sie schießt mit ihren Wortkreationen über das Ziel hinaus. Dann wird aus Jessica Mitford eine »Stiff-Upper-Lipperin« oder die »Freifrau Miss Billig-Beerdigung«. Selbst wenn Jessica keineswegs »Eididei-Tutzitutzi-Oma« war, sind solche Wortschöpfungen mehr als überflüssig: sie verzerren Kippenbergers ansonsten kluges, authentisches und liebevolles Porträt von Jessica Mitford und ihren exzentrischen Schwestern und bringen keinerlei Mehrwert.
Die Diskussion um Faschismus und das politische Erbe des Nationalsozialismus – in Deutschland in den derzeitigen Debatten um Asylpolitik und brennende Flüchtlingsunterkünfte präsent – ist auch in England ein politisch brisantes und gesellschaftlich pikantes Thema. Brisant, weil auch rechte Parteien wie die British National Party von dem Boom um ein nostalgisches England (das dem Empire hinterhertrauert) profitieren, und weil auch die englische Asylpolitik mehr als kritisch zu diskutieren ist, wie das Flüchtlingsdrama in Calais Ende Juli eindringlich demonstriert. Dass es auch gesellschaftlich pikant bleibt, wurde deutlich, als im Juli in den Tageszeitungen Bilder erschienen, die Queen Elizabeth II als kleines Mädchen beim Hitlergruß zeigen. Der Hof erwägt nun rechtliche Schritte. Allein diese wenigen Beispiele machen deutlich, warum Kippenbergers Buch Das rote Schaf der Familie nicht nur als Lebensgeschichte absolut lesenswert und lehrreich ist: es verbindet Biografie mit historischen und aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten, und dies auf höchst amüsante Art und Weise.
Unterstützend sei dafür ein Beispiel angeführt. Als die minderjährige Decca mit Esmond Romilly durchbrennt, um in den spanischen Bürgerkrieg zu ziehen, beschreibt Kippenberger in ihrem eignen Ton treffsicher die familiäre Krise so: »Der Vater tobte vor Wut, die Mutter war zu Tode betrübt, Debo fühlte sich betrogen, Unity rannte mit den Neuigkeiten zu Hitler, der angesichts des Familiendramas auch ganz traurig war, aber – ‚er ist ein Engel’ – Trost spendete. Tom, diplomatisch wie immer, trat als Vermittler auf, Diana tröstete die Mutter, Nanny Blor weinte sich die Augen aus und sorgte sich, weil Deccas Kleidung doch nicht zum Kämpfen taugte; Mutters Schwester Aunt Weenie, der Oberdrache unter den Tanten, meinte, Decca wäre besser tot; Onkel Jack wollte sie auspeitschen.«
Was für eine Familie! Kein bisschen wie die Manns – und doch wie diese unvergleichlich.