Geschichte, Sachbuch

Über die drei Naturen des Menschen

Die Bibel als »Tagebuch der Menschheit« gibt uns Einblicke in den Prozess der kulturellen Entwicklung und die Vergemeinschaftung des Menschen.

Im Jahre 1936 prägte der Archäologe Vere Gorden Childe den Begriff der Neolithischen Revolution. Sesshaftwerdung und die Einführung der Landwirtschaft waren jene revolutionären Vorgänge, die die Menschheit vermeintlich aus ihrem Schicksal als Jäger und Sammler erlöste. Für Childe war es der Beginn einer Zivilisationsgeschichte, mit der der Mensch die Kontrolle über die Natur gewann. In einem kurzen, aber fulminanten Aufsatz bürstete Jared Diamond Mitte der 80er Jahre diesen wesentlichen Glaubenssatz menschlicher Zivilisation gegen den Strich. Als »The Worst Mistake in the History of the Human Race« bezeichnete der Pulitzer-Preisträger diese Revolution: »Recent discoveries suggest that the adoption of agriculture, supposedly our most decisive step toward a better life, was in many ways a catastrophe from which we have never recovered. With agriculture came the gross social and sexual inequality, the disease and despotism, that curse our existence.« So kurz, so hart die These von Diamond.

Sie ist der intellektuelle Ausgangspunkt des Buches Das Tagebuch der Menschheit – Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Die Autoren sind Carel van Schaik und Kai Michel, ein niederländischer Orang-Utan-Forscher, Anthropologe und Evolutionsbiologe sowie ein deutscher Wissenschaftsjournalist und gelernter Historiker und Literaturwissenschaftler. In einer evolutionsbiologischen und anthropologischen Perspektive nähern sie sich dem »Buch der Bücher« und erkennen in den Texten von den Versuchen der Menschen, ihr neues, sozial anderes, weniger mobiles, anstrengenderes, ungesünderes agrarisches Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Die Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament verraten uns, so Schaik und Michel, die kulturellen Anpassungsstrategien an ein Leben, das sich von der Natur entfernte und unbekannte soziale Probleme mit sich brachte. Die Bibel betrachten die Autoren als eine Zusammenstellung von Zeitzeugenberichten, die in einem Zeitraum von mehr als 1.000 Jahren entstand und an der unzählige Autoren mitwirkten. Sie gemeinsam verfassten eine »Hausordnung der sesshaften Welt« und machten aus der Bibel ein Zeugnis zur kulturellen Evolution des Menschen.

Warum diese Entwicklung nötig war, lässt sich an einem Vergleich darlegen, den Diamond in seinem Artikel beschreibt. Stellt man sich die bisherige Geschichte der Menschheit an einer 24-Stunden-Uhr vor, so repräsentiert jede Stunde etwa 100.000 Jahre. Weit über 23 Stunden lang lebte der Mensch als Jäger und Sammler. Sechs Minuten vor Mitternacht schließlich entwickelte er sich zum sesshaften Bauern und seit diesen sechs Minuten versucht er sein Leben den neuen Bedingungen anzupassen. Nicht immer scheint es ihm zu gelingen. Warum nicht, erläutern Schaik und Michel anhand der drei Naturen des Menschen. Die erste Natur sind die angeborenen Gefühle, Reaktionen und Vorlieben, die sich über Jahrhundertausende von Jahren entwickelt hätten. Sie ist quasi unsere natürliche Natur, eins geworden mit den Anforderungen, den Herausforderungen und dem Alltag kleiner Jäger-und-Sammler-Gruppen. Dazu zählen die Liebe zu unserer Familie, unser Sinn für Gerechtigkeit, unsere moralischen Grundsätze, aber auch negative Emotionen wie Eifersucht und Ekel. Die erste Natur als Grundlage für ein reibungsloses Funktionieren des Menschen in der Gesellschaft meldet sich als Intuition, als Bauchgefühl zu Wort. Die zweite hingegen ist die kulturelle Natur, die große territoriale und ethnische Unterschiede aufweisen kann. Bourdieu nannte sie den Habitus. Zu ihr zählen Sitten und Gebräuche, Regeln des Anstands und der Höflichkeit, all das, was sich gehört oder all das, was man eben nicht macht. Die dritte Natur ist die Vernunft. All die kulturell verankerten Maxime, Praktiken und Institutionen, denen man aufgrund einer weitgehend bewussten Rationalität folgt. Sie ist, das ist der Clou, die schwächste aller Naturen, sie ist aber immer dann nötig, wenn Herausforderungen auftauchen, bei denen die altbewährten Strategien nicht mehr funktionieren. Die zweite und dritte Natur sind Ausdruck einer kulturelleren Entwicklung, die dem Menschen das Leben bzw. das Überleben sichern, ihn aber nicht glücklich machen. Die Anziehungskraft des Neuen Testaments, so eine der Thesen des Buches, hat damit zu tun, dass die Botschaften Jesu Christi unserer ersten Natur so sehr entspricht.

Diese Naturen überlagern sich, zwischen ihnen erwächst aber zugleich ein wachsendes Missverhältnis. Der Mensch entfremdet sich von der Natur und passt damit physisch wie psychisch immer weniger in seine Umwelt und Umgebung. Für die Sesshaftwerdung ist, so die Autoren, der Mensch evolutionsbiologisch nicht ausgestattet. Es kommt zu einem Dismatch. Diese Diskrepanzen werden in der Bibel als Kaleidoskop der menschlichen Natur verarbeitet. Und was für Geschichten wir darin finden: Adam und Eva, die Ebenbilder Gottes, werden aus dem Paradies geworfen. Kain erschlägt Abel, der Bruder den Bruder. Gott schickt die Sintflut und lässt bis auf Noah und seine Familie alle Menschen darin umkommen. Der Turmbau von Babel endet in einem Fehlschlag für die Menschheit, sie verstehen sich nicht mehr. Die Geschichten um die Altvorderen strotzen von Zank und Zwietracht, Betrug und Begehren. Der Tod in Folge von Dürren, Seuchen und Kriege ist beständiges Thema der fünf Bücher Mose. Für die Autoren zeichnen diese Geschichten genau die Krisen nach, die sich aus dem größtem Fehler der Menschheit ergeben. Diese Katastrophen aber löste eine kulturelle Evolution aus als Anpassung an die Widrigkeiten der Welt sowie an die vermeintlichen Irrungen und Wirrungen Gottes.

Die Widrigkeiten der Welt waren immens: Das agrarische Leben war anstrengender, kräftezehrender und ungesünder. Wie umgehen in den größer gewordenen sozialen Gemeinschaften, zu denen auf einmal auch Tiere gehörten, mit den banalen Dingen wie Nahrung, Hygiene und Krankheit. Wie umgehen mit Eigentum? Wer Vorräte besaß, war nicht mehr auf die Solidarität von Nachbarn angewiesen. Wer erhält dieses Eigentum nach dem Tode, vor allem vor dem Hintergrund der Polygynie? Wundert man sich wirklich, wenn in der Bibel die Brüder bzw. Halbbrüder sich ständig an die Gurgel gehen? Und welche Rolle spielten dabei eigentlich die Mütter dieser Söhne? Nicht immer hielten sich die altgewordenen Männer an die Regeln, die sie als junge Männer verfasst hatten. Menschliches, allzu Menschliches wird hier von Schaik und Michel zusammengetragen.

Es gibt aber eine weitere Dimension, eine, die weniger schnell greifbar oder verständlich war. Die biblischen Texte schildern Gewalt, Krankheit, Ungleichheit und Unterdrückung. Sind sie Ausdruck des Zorns von Geistern, Göttern oder des einen Gottes? Wie muss man darauf reagieren, wenn man in dieser Welt überleben will? Besänftigen Kultstätten, Tempel und Rituale diesen Zorn? Noch wussten die Menschen nichts von Krankheitserregern wie Bakterien und Viren, von den Ursachen von Erdbeben, Wetter- und Klimaschwankungen. Es ist ein langwieriger Prozess, von dem die Thora berichtet. Das Ergebnis sind 613 Mitzwot, Verbote und Gebote, die sich in den fünf Büchern Mose finden, um den zürnenden Gott zu beruhigen. Sie dienten zugleich als Bindemittel für eine jüdische Identität. Anders zu sein und es unter hohen Kosten zu zeigen, war als Differenz zu den anderen Völkern im Nahen Osten intendiert.

978-3-499-63133-7
Carel van Schaik und Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt Verlag 2016. 576 Seiten. 24,95 Euro (ab heute auch als Taschenbuch bei rororo für 14,99 Euro). Hier bestellen

Der Monotheismus spielte hierbei eine entscheidende Rolle, schließlich gab es nur noch einen, der Anlass, Grund und Ursache war. An die Stelle eines Glaubens an viele Götter, die sich chaotisch verhalten, sich oft widersprechen und gelegentlich gegeneinander handeln, trat der Eine, Jahwe. Die Menschen zu Zeiten der Thora wollten die Welt berechenbarer machen. Religion ist in diesem Sinne Heimstatt des Rationalen, eine kulturelle Schutzmacht. In protowissenschaftlicher Manier bauten sie durch Beobachtungen der Umwelt ein System unglückreduzierender Handlungen auf, »kulturelle Resistenzen«. Sie nahmen an, dass die Welt von einem einheitlichen, rational rekonstruierbaren Prinzip durchdrungen ist. Gott erwies sich damit als protowissenschaftliche Strategie, um Wissenslücken zu überbrücken. Religion ist in diesem Sinne Heimstatt des Rationalen, eine kulturelle Schutzmacht. Für die Autoren ist dies von höchster Bedeutung, schließlich ist dies die kulturelle Basis, auf der Wissenschaft, Medizin und Recht fußt. Sie reicht bis in die Moderne. Dieter Groh zeigte in seinen Studien zur Göttlichen Weltökonomie. Perspektiven der Wissenschaftlichen Revolution vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, dass die Wissenschaften nicht aus einem Säkularisierungsprozess hervorgegangen sind, sondern aus dem Versuch, die Spuren göttlichen Wirkens in der gesamten Schöpfung zu erkennen.

Die Regeln und Gebote waren Antwort auf einen Gott, den man als zornig erlebte, der zugleich, die Werte aus grauer Vorzeit achtete, indem er maßlosen Reichtum hasste, Ungerechtigkeiten verabscheute, aber auch Nächstenliebe und Solidarität mit den Armen fordert. Es war das ferne Echo der alten Jäger- und-Sammler-Moral. Für Schaik und Michel ist dies die zivilisatorische Leistung der Thora: Als allerorten Despoten herrschten, machte sie die Moral zur Sache Gottes und entzog sie so dem Zugriff der Mächtigen.

Erst in den Psalmen kommt neben dem strafenden auch der fürsorgliche Gott zum Vorschein, der sich um die spirituellen Nöte der Menschen kümmert, der sie heilt und tröstet. Schließlich waren selbst die gesetzestreuesten, leidgeprüftesten Frommen mit Krankheiten, Kriegen und Hungersnöten konfrontiert. Wie sollte man mit wahllosen, unverschuldeten Ungerechtigkeiten umgehen? Die Vorstellung, die das göttliche Regelgebäude stützen konnte, war die Idee eines Jenseits, eines Ortes, wo sich die göttliche Gerechtigkeit erfüllen sollte. Die Jenseits-Vorstellung ist im Alten Testament eine relativ späte Erfindung, die allerdings dem Christentum seinen Erfolg bescherte. Die Widrigkeiten der Welt findet einen Ort des Ausgleichs und der Gerechtigkeit, allerdings jenseits dieser Welt.

Ein weiteres ebnete dem Christentum den Weg, nämlich Jesus Christus mit seinem doppelten Wesen, dem eschatologischen Jesus und dem Jesus als Freund, der mit seiner alternativen Existenzweise, mit seiner Botschaft der Versöhnung und der Predigt vom unendlichen Wert der Menschenseele. Er erweist sich damit als Prophet, der die Sehnsucht des Menschen nach seiner ersten Natur erfüllt. Dabei findet sich im Neuen Testament immer ein doppelter Christus, mit einer fürsorglichen Binnenmoral und einer rigorosen Außenmoral. Darin lag eine Ursache des Erfolgs des Christentums, so die Autoren: »Einerseits eine Religion der Liebe zu sein, die bereit war, jeden, der Gott folgte, in ihren Kreis aufzunehmen, und damit eine Religion zu sein, die es nicht vergaß, sich für die Armen, Schwachen und Kranken einzusetzen; andererseits aber auch eine Religion des Hasses zu sein, immer bereit, die Gegner zu dämonisieren.« Auch hier findet sich jene Moral, jene erste Natur des Menschen, die sich aus seiner Zeit als Jäger und Sammler speist.

Das Tagebuch der Menschheit ist ein anregendes, faszinierendes Buch über die Geschichte der Menschen. Es ist ein Buch über die psychischen, sozialen, kollektiven Defekte, die sich aus dem größten Fehler der Menschheitsgeschichte speisen. Es ist ebenso ein Buch über kulturellen Versuche, damit klar zu kommen, das Beste für eine neue soziale Ordnung zu kreieren. Diese kulturelle Leistung lässt sich dank der Bibel nachzeichnen. Schaik und Michel bezeichnen sich als Agnostiker und natürlich entzaubern sie die religiöse Dimension des Alten wie Neuen Testaments. Obwohl sie religiös unmusikalische Menschen sind, behandeln sie das »Buch der Bücher« mit großem Respekt und profunden Wissen. Sie legen keine theologische Deutung der Bibel vor, diese Dimension überlassen sie denjenigen, für die die Texte des Alten und Neuen Testaments mehr sind als eine Sammlung von Geschichten, Lehren, Geboten und Verboten. Eines bleibt, auch für den Verfasser dieser Zeilen: Man glaubt nicht, weil, sondern obwohl – non quod, sed quia.

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