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Rousseau, der Tausendsassa

Später bereute Rousseau diese Argumentation, sprach davon, dass das er »von dem Moment an verloren« gewesen sei, als er diesen Vortrag gehalten habe. Ist es das, was Rousseau meinte, als er in seinen Bekenntnissen die Ausschreibung der Akademie als eine Art Erweckungsmoment beschrieb: »Im Augenblick, als ich dies las, sah ich eine andere Welt, und ich wurde ein anderer Mensch«?

Dieser Satz gibt dem von Henning Ritter herausgegebenen Edelband philosophischer Briefe seinen Titel. Ich sah eine andere Welt präsentiert zwanzig ausgewählte Briefwechsel von Jean-Jaques Rousseau mit bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit, die der im Juni 2013 verstorbene Ritter für Geisteswissenschaften Henning Ritter aus der mehr als 40 Bänden umfassenden Korrespondenz ausgewählt und übersetzt hat. Er will mit den Briefen, in denen sich Rousseau über Erziehungsfragen, die Aufklärung und seine Positionen zu den Religionen äußert, das »Drama der religiösen und philosophischen Spannungen« von Rousseaus Zeit nachvollziehbar werden lassen.

Der von Henning Ritter präsentierte Rousseau beweist sich an vielen Stellen als Humanist im besten Sinne. Sein Dasein begründet er darin weltlich, zeigt sich aber der Existenz gegenüber religiösen Mythen sehr offen und tolerant, ohne diesen aber eine politische Funktion zuzugestehen. So schreibt er etwa an Voltaire: »Die großartigste Vorstellung, die ich mir von der Vorsehung machen kann, die wäre, dass jedes vernünftige und empfindende Wesen im Verhältnis zu sich selbst auf die bestmögliche Weise eingerichtet ist, mit anderen Worten, dass es für den, der sein Dasein fühlt, besser ist, zu existieren als nicht zu existieren.«

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Henning Ritter (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau. Ich sah eine andere Welt. Philosophische Briefe. Hanser-Verlag 2012. 400 Seiten. 27,90 Euro. Hier bestellen

Voltaire seinen naiven Glauben an eine Unsterblichkeit der Seele eingestehend macht Rousseau aber zugleich auch deutlich, dass derlei Fragen religiöser oder mystischer Positionierung des Einzelnen nicht zum allgemeinen Gut erwachsen dürfen. »Wie sie bin ich darüber erzürnt, dass der Glaube eines jeden nicht die vollkommenste Freiheit genießt und der Mensch es wagt, das Innerste des Gewissens, in das er doch nicht eindringen kann, zu überwachen, als ob es von uns abhinge, an Dinge, für die es keinen Beweis gibt, zu glauben oder nicht zu glauben, und als ob man die Vernunft jemals der Autorität unterwerfen könnte. … Wenn ein Mensch dem Staat redlich dient, schuldet er niemandem Rechenschaft darüber, wie er Gott dient.«

Die Idee eines säkularen Staates, in dem Staat und Kirche getrennt voneinander existieren, zugleich aber ein möglichst hohes Maß an weltanschaulicher Toleranz herrscht, nimmt Rousseau hier vorweg – wohl auch, weil er sich selbst nie vollkommen von einer wie auch immer gearteten Religiosität distanzierte.

Henning Ritters Zusammenstellung der Briefe ist ein literarischer Schatz des philosophischen Diskurses. Aus der Lektüre der Briefe wird das Denken, Umdenken und Neudenken von Positionen und Ansichten deutlich, wie es nur im Dialog entstehen kann. Die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber ist es, die Rousseaus Theorien haben entstehen lassen, wobei – dies muss angemerkt sein – er sich nicht als Wendehals und Anpasser beweist, sondern als prinzipientreuer Moralist, der der Erkenntnis und der Auseinandersetzung gegenüber aufgeschlossen ist.

Es wird ein Dialog sichtbar, der sich zwischen grundsätzlicher Offenheit und persönlichem Rückzug bewegte und wie er auch schon in von Croÿs Aufzeichnungen seiner Begegnung mit Rousseau aufleuchtete. In seinen Briefen tat Rousseau genau das, was er als öffentliche Person und Schreiber nicht mehr wollte: Zeugnis ablegen. Hier greift er die Kritik an seiner Person und das Infragestellen seiner Haltungen auf und ging in die Argumentation.

So hat er etwa den Autokraten und Diktatoren in seinen Briefen an die Tugend jedes Berufen auf seinen Gesellschaftsvertrag aus der Hand genommen, als er schrieb, dass man »die bürgerliche Ordnung von ihren Missbräuchen unterscheiden« müsse. Nur weil sie missbraucht werden könne, sei sie nicht grundsätzlich schlecht.

Den religiösen Eiferern nahm er das Argument, dass der Glaube an ein göttliches Wesen notwendig sei, um Gutes zu tun. All jenen, die die religiöse Moral als unentbehrlich für ein friedliches Zusammenleben ansahen, hielt Rousseau die rote Karte vor. »Das Gesetz, Gutes zu tun, wird aus der Vernunft selbst gewonnen; und der Christ braucht nichts als Logik, um tugendhaft zu sein.«

Teilweise waren die Anlässe der Briefe profaner Natur, dabei aber nicht minder lesenswert. Dem deutschen Prinz Ludwig Eugen von Württemberg gab er brieflich Erziehungsratschläge, weil dieser seine Tochter nach den in Emile niedergelegten idealen erziehen wollte. Den Geschäftsmann Pierre-Alexandre Du Peyrou bat er um finanzielle Unterstützung, in Gegenleistung gab er Botanikstunden. Seiner großen Liebe Sophie d’Houdetot machte Rousseau briefliche Aufwartungen und Komplimente, wissend, dass es vergebens ist, aber in tiefer Verbundenheit für die gemeinsamen Stunden.

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Stefan Zweifel (Hrsg.): Träumereien eines einsam Schweifenden. Verlag Matthes & Seitz 2012. 250 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Bei aller Kritik am Dogmatismus, ob religiös oder atheistisch, hält Rousseau in seinen Briefen seine religiöse Fundierung nie zurück. Die Welt und ihre Entstehung erklärt er sich auf die ihm am ehesten begreifbare Art: Als Schöpfung. Alles andere überstieg seinen Verstand.

Damit war er nicht der Einzige. Schon Philipp Blom präsentierte in seiner Studie Böse Philosophen einen verzweifelten Enzyklopädisten, Thiry Holbach, der vor den Zeichnungen für die botanischen Enzyklopädie-Artikel weinend zusammengebrochen sein soll: »All diese Schönheit, begann der Baron [Holbach; A.d.A.] wieder und zeigte auf die detailgetreu wiedergegebenen Blumen, Blätter, Blüten und Fruchtknoten, all diese Schönheit muss doch der Beweis einer höheren Intelligenz sein! Diderot sah ihn einfach an, ohne zu antworten, woraufhin Holbach weinend zusammenbrach.«

Die an das Ende der Zusammenstellung gestellten Briefe an David Hume, den Marquis de Mirabeau und Laurent-Aymon de Franquières machen deutlich, dass Jean-Jacques Rousseau mitnichten Atheist war. Vielmehr verurteilte er alles, was sich bewusst von Göttlichen abwendete; weil er diese Abwendung für einen rechtschaffenen Bürger als völlig unnötig ansah.

An den Vorsteher der Pariser Zensurbehörde, Guillaume Lamoignon de Malesherbes, der sehr aufmerksam die Aktivitäten der Enzyklopädisten verfolgte, zu denen Rousseau gehörte, schreibt er nach seiner Flucht aus Genf nach Paris: »Ein Wort, das ich sagen, ein Brief, den ich schreiben, ein Besuch, den ich abstatten soll, all dies ist für mich, sobald ich es tun muss, eine wahre Pein. Deswegen ist mir die vertraute Freundschaft so wichtig, obwohl mir der übliche Umgang mit Menschen höchst zuwider ist.«

Hier deutet sich bereits an, was Herzig von Croÿ später bei seinem Buch feststellen musste. Das in Rousseau zwar ein stets wacher und unermüdlich arbeitender Geist steckt, der sich aber nicht mehr öffentlich mit der Welt konfrontieren möchte. Dies macht auch die Tatsache deutlich, dass der letzte der von Henning Ritter versammelten Briefe vom Februar 1770 stammt, acht Jahre vor seinem Tod. Der Brief an seinen späteren Vertrauten, den Grafen Claude Anglancier de Saint-Germain, kommt als eine Art Selbstbefragung daher, trägt erste Grundzüge seiner autobiografischen Gespräche. Rousseau urteilt über Jean-Jacques – natürlich als Dialog angelegt.

Am Ende blieb Rousseau nur der Rückzug, der ihm aber, man mag es kaum glauben, durchaus zuträglich war. Wenig Schriftliches ist noch entstanden, darunter sein letztes großes Werk, die Träumereien des einsam Schweifenden, die nun in einer neuen kommentierten Edition erscheinen. Durch die Natur flanierend und sich an ihrer Schönheit weidend (wir erinnern uns an den verzweifelten Thiry d’Holbach, der an der Nicht-Existenz eines Schöpfers verzweifelte), kommen Rousseau verschiedene Gedanken und Erinnerungen – sein Leben, den Sinn des Daseins, die Logik des Denkens und die Bedeutung des Fühlens betreffend, die er auf Spielkarten notierte und später zu Texten ausarbeitete. Das assoziative Denken, heute ontologische Grundkonstante, wird hier von Rousseau praktiziert, wenn nicht sogar erfunden. Stefan Zweifel wurde für seine Neuübertragung der Rêveries, die oft als Fortsetzung seiner Bekenntnisse bezeichnet werden, mit dem Zuger Übersetzungspreis ausgezeichnet, weil er den Leser in die besondere Musikalität dieses Werkes einführe. Vor allem präsentiert er uns den späten Rousseau, offenbar ausgeglichen und mit sich im Reinen: »Für mich ist auf Erden alles zu Ende. Man kann mir kein Wohl mehr zufügen und kein Weh. Ich habe hienieden nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu fürchten, und so stehe ich daselbst, ganz klanglos in der Tiefe des Abgrundes, ein armer, unglücklicher Sterblicher zwar, aber unerschütterlich wie nur Gott.«

Jean-Jacques Rousseau war ein Tausendsassa: radikaler Aufklärer, demokratischer Vordenker, gläubiger Moralisten, toleranter Gesprächspartner und naturverbundenen Flaneur auf einmal.

2 Kommentare

  1. […] nachts durch die Straßen und über Friedhöfe (parallel dazu liest er nun Jean-Jacques Rousseaus Träumereien eines einsam Schweifenden). Dabei stößt er auf seltsame Botschaften (»Die Gesellschaft existiert nicht«, »Frankreich ist […]

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