Diane Arbus gilt als die Fotografin des Skurrilen. Das Außergewöhnliche im Normalen, das Einzigartige im Gewohnten war ihr Metier. Das beeindruckende Werk von Diane Arbus, die sich 1971 das Leben nahm, ist aktuell im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen.
»Ich möchte jeden fotografieren« schrieb Diane Arbus an ihren Freund und Liebhaber Marvin Israel kurz vor ihrem Durchbruch als Fotografin. Dieser kam 1960 mit Die vertikale Reise, einer Fotoserie für das Magazin Esquire. Darin bildete sie einen Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft fotografisch ab – von strippenden Transvestiten in Hinterzimmern über puertoricanische Mütter im Park bis hin zu reichen Damen bei Empfängen. Es folgten zahlreiche Aufträge für das Modemagazin Harper’s Bazaar, dessen Art Director Alexei Brodowitsch von Diane Arbus’ Fotografien begeistert war. Über 250 Fotografien veröffentlichte die amerikanische Fotografin in den kommenden elf Jahren bei Harper’s, Esquire und zahlreichen anderen Magazinen, das MOMA kaufte noch zu Lebzeiten einige ihrer die Fotografiegeschichte prägenden Werke. Sie selbst hatte von ihrem Ruhm nicht viel, nahm sich, von Depressionen geplagt, am 26. Juli 1971 das Leben.
Etwa 200 Fotografien von Diane Arbus – darunter zahlreiche Ikonen, aber auch bislang unbekannte Aufnahmen – sind noch bis zum 23. September (täglich außer dienstags, von 10–19 Uhr) im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Die Amerikanerin begann ihre fotografische Karriere als Modefotografin, wendete sich aber Ende der 1950er Jahre von der Welt des Glamours ab und begann, radikal die unterschiedlichen Wirklichkeiten des Menschen zu dokumentieren. Als Vorbild scheinen ihr für diese radikale Wendung der englische Dichter Geoffrey Chaucer und dessen Canterbury-Tales gedient zu haben. Über Chaucer schrieb sie 16-jährig in einem Schulaufsatz: »Er wendet sich jeder Person einzeln zu und sieht jede als ganzheitliches Wunder, nicht als Verbindung abstrakter Eigenschaften, und er scheint zu wissen, dass jede einzelne immer er selbst sein wird, und das will er.«
Jede Person als ganzheitliches Wunder sehen, so wie sie es bei Chaucer erkannt haben will, war für Diane Arbus die unumgängliche Voraussetzung für die eigene Fotografie. Entsprechend legen ihre Aufnahmen Zeugnis ab von jenen, die sie abbilden. Sie rücken sie in das Zentrum, stellen sie nicht aus oder führen sie vor in exaltierten Posen, sondern zeigen sie in all ihrer Würde und Individualität. Dabei heben die Fotografien das Einzigartige hervor – ohne zu werten oder gar zu urteilen. Der Betrachter sieht plötzlich das Besondere im Normalen, das, was jedem Einzelnen auf der Straße sofort ins Auge fallen würde, wenn er denn nur einigermaßen bewusst hinsähe. Aber wer macht das noch, in dieser schnelllebigen Zeit, in der der sog. zivilisierte Mensch den Kopf zwischen die Schultern nimmt und in sich oder sein Smartphone versunken vor sich hin stapft.
Diane Arbus würde in dieser Welt wohl ihre Schwierigkeiten haben, würde aus dieser Realität der abgewandten Haltung wohl herausfallen müssen. Sie hat sehr genau hingesehen und ihre Entdeckungen für uns festgehalten. Viele der abgelichteten Personen begegnen uns als Freaks, als Unangepasste oder als Einzelgänger. Indem Arbus diese Randfiguren der Gesellschaft ablichtete, stellte sie nicht nur die herkömmliche Ästhetik von Fotografie und Gesellschaft in Frage, sondern verschob auch die Grenzen von Normalität. Sie holte die Randfiguren weg vom Rand und stellte sie in die Mitte der amerikanischen Gesellschaft.
Insbesondere diese Freaks, die Arbus selbst als Legenden bezeichnet, erinnern oft an größere Mythen und Geschichten, die wir mit ihnen verbinden. Etwa bei dem jüdischen Riesen aus New York, der in seiner tumben Erscheinung neben seinen orthodoxen Eltern wie der mythologische Golem erscheint. Bei der Barfrau mit Spielzeughund ist es die verblüffende Ähnlichkeit von Frau und Herrchen, die hier einmal mehr bestätigt wird, selbst wenn der Hund hier nur ein Plastiktier ist.
Arbus erzählt mit ihren Aufnahmen die kleinen und großen Geschichten der Gegenwart. Bei ihrem Porträt Junge mit Strohhut vor dem Abmarsch einer Parade von Kriegsbefürwortern ist es der Kontrast der zierlichen Erscheinung des jungen Mannes mit der drastischen Aussage des kleinen Ansteckers, den er am Revers trägt, der dem Betrachter ins Auge fällt: »Bomb Vietnam« ist darauf zu lesen. Vietnam und die Fassungslosigkeit einer ganzen Nation gehen dem Betrachter auch durch den Kopf, wenn er die Aufnahme Kind mit Spielzeug-Handgranate im Central-Park von 1962 betrachtet. Es sind diese Geschichten, die den Betrachter einfangen und die Arbus auch am meisten selbst interessiert haben. »Für mich ist das Motiv eines Bildes immer wichtiger als das Bild selbst. Und komplizierter. Ich empfinde schon etwas für den Abzug, aber heilig ist er mir nicht. Er ist das, wovon er handelt, und um irgendetwas muss er sich ja drehen. Und wovon er handelt, ist immer interessanter als das, was er ist.«
Es existiert aber auch ein Widerspruch in den Fotografien von Diane Arbus. Auf der einen Seite sind es allesamt Bilder einer vorübergehenden Befreiung vom puritanischen Amerika, wie es uns heute teilweise wieder begegnet. Ihre Aufnahmen aus dem Milieu der Freaks und Abweichler, der Dragkünstler und Transvestiten, der Nudisten und anderer Minderheiten sind Bilder der Befreiung aus dem gesellschaftlichen Abseits hinein in die Mitte. Die Abgebildeten werden durch die Fotografie zum Teil des »vertikalen« Amerikas, das Arbus Ende der 1950er bereiste. Zugleich strahlen die Porträtierten nicht selten eine tiefe Müdigkeit und Resignation aus. An ihre gesellschaftspolitische Befreiung möchten sie scheinbar noch nicht (oder nicht mehr) glauben. Es ist das Können, diesen Widerspruch zu erkennen und abzubilden, was Arbus auszeichnete: »Irgendwie glaube ich schon, dass ich ein besonderes Gespür für Sachen habe. Das ist schwer greifbar und ist mir auch ein bisschen peinlich, aber ich glaube, es gibt Dinge, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografiert hätte.«
Möglicherweise kam die ehemalige Schülerin einer Privatschule für ethische Kultur, die in den 40ern bei keiner geringeren als Berenice Abbott das Fotografiehandwerk gelernt hat, gar nicht umhin, sich einen zutiefst menschlichen Ansatz des eigenen Fotografierens zu suchen. Wie dem auch sei, die Resultate ihres kurzen Schaffens, die nun nach Paris und Winterthur auch in Berlin in Auszügen zu sehen sind und anschließend nach Amsterdam weiterreisen, sind beeindruckend.
Weniger beeindruckend, vielmehr erschreckend ist die unsystematische Sortierung der Fotografien im Gropius-Bau, wobei bereits die Verwendung des Begriffs Sortierung eine Erwartung weckt, die nicht erfüllt wird. Die Fotografien wurden weder chronologisch noch thematisch gehangen, die Ordnung entzieht sich auch einem wissenschaftlichen Ansatz. »Stattdessen sollen die Werke selbst das Auge der Zuschauerinnen und Zuschauer leiten«, liest der Besucher eingangs und wird sich selbst in diesem ebenso grandiosen wie vielfältigen Werk überlassen. Und je weiter man durch die Räume schreitet, umso mehr zweifelt man an den Machern dieser Schau, denn Ansätze, diese 200 Fotografien in eine Grundstruktur zu gießen, hätte es genug gegeben. Von einer lapidaren Chronologie mal abgesehen hätte man etwa Arbus’ Exkursionen in die Szene der Dragkünstler, Transvestiten und Hermaphroditen ebenso versammeln können wie ihre Bilder aus den amerikanischen FKK-Camps. Auch die Porträts mit Prominenten und Vertretern der High Society, darunter Susan Sontag, Helene Weigel, Marcel Duchamp, Norman Mailer, Luis Borges und James Brown, sind im Gropius-Bau auf mehrere Räume verteilt. Man fragt sich, warum. Maskeraden, Jahrmarkt, Kinder, junge Liebe – all dies wären mögliche thematische Ansätze gewesen.
Das größte Ärgernis dieser Schau ist jedoch, dass am Ende der Ausstellung dann doch einige Fotografien in einen Raum gezwängt und damit aus dem Konzept des Nicht-Konzepts ausgesondert wurden. Es sind die Fotos, die Diane Arbus in den letzten Jahren ihrer Karriere in Behindertenheimen aufgenommen hat. Warum dieses in höchst würdevollen Fotografien eingefangene Sujet nicht schon wie alle anderen quer in die Schau gestreut wurde, bleibt rätselhaft. Man will hier nicht von kuratorischer Diskriminierung sprechen, aber dass ausgerechnet diese Bilder gesondert behandelt wurden, entspricht nicht dem Ansinnen von Diane Arbus, diese als Teil der amerikanischen Normalität bewusst zu machen. Dies hätte unter dem hier erprobten Ansatz erfordert, sie in den wilden Bilderkanon einzureihen.
Zum Konzept fehlt der Ausstellung übrigens auch ein eigener Katalog. Daher hat man darauf zurückgegriffen, was von Arbus bereits vorlag und teilweise vergriffen war. Offiziell dient der englischsprachige, chronologisch aufgebaute und erstmals 2003 publizierte Revelations-Bildband mit 500 Abbildungen (davon 200 großformatige Duotone-Tafeln) und drei äußerst lesenswerten Aufsätzen als Katalog zur Ausstellung. Günstiger und nicht weniger vollkommen ist der Monografie-Band diane arbus., das eines der meistverkauften Bücher der Fotografiegeschichte ist und 2011 neu aufgelegt wurde. Und wer sich besonders für Arbus’ Aufnahmen in amerikanischen Behinderteneinrichtungen in ihren letzten Lebensjahren interessiert, dem sei der Band Untitled empfohlen.
[…] Authentizität zu verleihen. Vielleicht ist es diese Eigenschaft, die sie am stärksten mit der Fotografin Diane Arbus verbindet, die sich auch nichts aus Konventionen und Klischees machte. Ihre berühmte Aufnahme des […]
[…] immer Vertreterinnen der einen oder anderen Linie. So hätten die Modeaufnahmen von Ellen Auerbach, Diane Arbus, Annie Leibovitz oder Cindy Sherman, von Hellen van Meene oder Keiko Nomura sicher auch einen Platz […]
[…] Robert Mapplethorpe, Nan Goldin, Peter Lindberg bis hin zu Sam Samore, Ellen Auerbach, Diane Arbus, Bettina Rheims und nicht zuletzt der Ikone der feministischen Kunst Cindy Sherman – hätten es […]