»Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst, so dass es sinnlos wäre, mich anders als durch meine Mannigfaltigkeit definieren zu wollen.« Diese Passage hatte der Philosoph und radikale Aufklärer Jean-Jacques Rousseau zwar nicht auf sich selbst gemünzt, sie passt aber wie kaum eine andere auf den politischen, gesellschaftlichen und moralischen Vordenker aus Genf.
Wer war Jean-Jacques Rousseau? Vater des Gesellschaftsvertrags, Gründer der Naturphilosophie, Autor des Bildungsromans Emile oder über die Erziehung sowie der erst posthum veröffentlichen Bekenntnisse, Enzyklopädist, Morallehrer, streitbarer Aufklärer. Der Rousseau-Experte Josef Vogl bezeichnete den Vordenker der Moderne im Spiegel-Interview als »intellektuellen Projektemacher« und verglich ihn mit einem Brühwürfel, der, löst man ihn auf, das ganze 18. Jahrhundert in die Suppe bringt.
Dieser denkschreibende Brühwürfel wird in diesem Jahr von seiner Heimatstadt Genf gefeiert wie ein Star. Rousseau pour tous, also Rousseau für alle lautet das Motto eines umfangreichen Jahresprogramms mit Musik, Theater, Empfängen, Kolloquien u.v.m. Dabei waren es die calvinistischen Oberen der Stadt, die den spät Zurückgekehrten erneut vertrieben, weil Rousseau in Emile die Offenbarungsreligionen scharf angriff und sich stattdessen für eine Philosophie der Erkenntnis und Moral aussprach, in der das eigene Gewissen die wesentliche Rolle einnimmt.
Eine Idee von Rousseaus Bedeutung zu seiner Zeit bekommt man bei der Lektüre des Geheimen Tagebuchs des Herzogs von Croÿ, welches Hans Pleschinsky im vergangenen Herbst in einer wunderbaren Übersetzung vorgelegt hat. Emmanuel Herzog von Croÿ stammte aus einer alten adligen Familie und führte im 18. Jahrhundert heimlich ein Tagebuch, in dem er sich als bemerkenswerter und aufmerksamer Chronist seiner Zeit beweist. Darin schreibt er mit skeptischem Blick auf die Wirkung des Schweizer Denkers: »Der Geschmack an der Naturphilosophie und ein Geist des toleranten Materialismus breiteten sich aus; die Werke Rousseaus und Voltaires gewannen nur allzu viele Anhänger. Daraus entwickelte sich ein mächtiger Tolerantismus, der das Kernprinzip zu sein schien. Dieses Prinzip zeigte sich als eine Art von Gleichgültigkeit gegenüber allem.«
Später suchte Croÿ Rousseau in seiner Pariser Wohnung in der Rue Plâtrière auf und zeigte sich beeindruckt von der wohlwollenden und zwanglosen Begegnung: »Nichts wirkt gekünstelt…« Was den jungen Herzog von Croÿ aber offensichtlich irritierte, waren zum einen Rousseaus später Verfolgungswahn und Menschenfeindlichkeit, zum anderen dessen Verwurzelung im Religiösen. In seinen Aufzeichnungen erinnert sich der Herzog an eine Diskussion über Atheismus: »Er sagte, er habe nie verstanden, wie man Atheist sein könne. Dass es derzeit insgeheim allerdings eine Menge Ungläubiger gebe, weil man nämlich nicht mehr empfinden und in sich gehen wolle.«
Ist dieser gläubige Rousseau tatsächlich der gleiche Rousseau, der die religiöse Legitimation staatlicher Gewalt per Federstrich für unwahr und politisch falsch abgetan hatte? Ist es derselbe Rousseau, der mit seinem »Gesellschaftsvertrag« die Urquelle der modernen Demokratie entworfen hat? Ja, es ist der gleiche Denker. Nicht umsonst beschreibt ihn der Historiker Philipp Blom in seiner Abhandlung über die Enzyklopädisten Böse Philosophen als »ambivalente Figur«, als »selbstbesessenen und sich selbst zerfleischenden Geist«. Dieser Geist hatte es vor allem am Ende seines Lebens darauf angelegt, alles vorhergehende zu zerstören.
An der Wirkmächtigkeit seines Werkes ändert das freilich wenig. Immanuel Kant ergriff bei der Lektüre von Rousseaus zentralen Werken, dem Gesellschaftsvertrag und Emile, die Erkenntnis, dass der Mensch zu ehren ist. »Rousseau hat mich zurecht gebracht«, schrieb er 1762 in sein Tagebuch. Moses Mendelssohn ist nachhaltig von Rousseaus Kritik an der Ungleichheit der Menschen beeindruckt, tauschte sich mit Gotthold Ephraim Lessing über Rousseaus Schriften aus. Der Vatikan setzte seine Schriften stets auf den Index der verbotenen Bücher – eine Auszeichnung, denn kaum ein lesenswertes Buch von Weltrang wurde nicht von der katholischen Kirche verboten. Der jahrzehntelange Weggefährte Dennis Diderot wollte selbst nach Rousseaus Abwendung nicht an dessen Bedeutung zweifeln. Gefragt, warum er dennoch obsessiv Rousseau lese und über ihn schreibe soll er geantwortet haben: »Fragen Sie einen enttäuschten Liebhaber nach dem Grund seiner hartnäckigen Anhänglichkeit zu einer untreuen Frau, und sie werden etwas erfahren über die hartnäckige Anhänglichkeit eines Literaten für einen anderen Literaten von großem Talent.«
Diderot war es auch, der Rousseau wohl zu seinem größten Erfolg zu Lebenszeiten verholfen hat, dem Preis der Akademie von Dijon. Angeregt von einer Diskussion mit Diderot, als er diesen im Gefängnis von Vincennes besuchte, beantwortete er die Preisfrage der Akademie, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, mit einem soziopolitischen Essay von tiefschürfender Bedeutung. Diderot regte ihn an, einen Text einzureichen, in dem er eine Position einnehmen solle, die garantiert kein anderer Bewerber vertreten würde, nämlich dass der Fortschritt der Zivilisation nicht positiv, sondern negativ sei. Entsprechend preist Rousseau in seinem Text zunächst Künste und Wissenschaft, um dann aber darauf abzuheben, dass diese die tiefe moralische Dunkelheit des Menschen nur überdecken würden: »Unsere Seelen sind in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und Künste vollkommener geworden sind.«
Er appelliert an eine Rückkehr zur Natur (was ihn heute zum Urvater des Schlagworts »Zurück zur Natur« werden lässt), weil sich der Mensch mit Kultur und Wissenschaft von sich selbst entferne. Diese Auffassung von der Beschädigung der Gesellschaft durch eine unmoralische Wissenschaft und Kunst klingt nach tiefstem Katholizismus. Die PID-Debatte ist nicht allzu lange her und wenn selbst ernannte Lebensschützer durch unsere Straßen ziehen und Frauen das Selbstbestimmungsrecht absprechen wollen, dann meint man, diesen Rousseau wieder zu hören.
[…] dabei stets keine unwesentliche Rolle, egal ob es sich um Casanovas Geschichte meines Lebens, Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse oder Catherine Millets Beichte Das sexuelle Leben der Catherine M. handelt. Jan […]
[…] nachts durch die Straßen und über Friedhöfe (parallel dazu liest er nun Jean-Jacques Rousseaus Träumereien eines einsam Schweifenden). Dabei stößt er auf seltsame Botschaften (»Die Gesellschaft existiert nicht«, »Frankreich ist […]