Welche intellektuellen Auswirkungen haben existenzielle und gesellschaftliche Veränderungen? Diese Frage liegt Philipp Bloms neuem Buch zugrunde, in dem er die These aufstellt, dass meteorologische Umstände das intellektuelle Klima prägen.
Der Wiener Historiker Philipp Blom hat uns wunderbare Stunden der Lektüre geschenkt. Wunderbare Stunden des Neuentdeckens alt bekannter Vorgänge und Zusammenhänge. Er hat uns bewusst in die Irre geschickt und dann geschickt an die Hand genommen, um uns seine Interpretationen der Vergangenheiten zu präsentieren. Brillant hat er dies an seinen beiden Monographien zu den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zelebriert, als er mit seinem Buch Der Taumelnde Kontinent die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gegen den Fluchtpunkt der Urkatastrophe dieses Jahrhunderts anschrieb und auch Die zerrissenen Jahre zwischen 1914 und 1938 gegen den Strich der zielstrebigen Unvermeidlichkeit bürstete.
Neben der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich Blom gerne auch mit der Philosophie der Aufklärung. In seinem Buch Böse Philosophen verdeutlicht er an den Philosophen Paul Henri Thiry d’Holbach und Denis Diderot, wie sich deren Ideen gegen das gesamte Fundament des damaligen Abendlandes richteten. In ihrer intellektuellen Radikalität übertrafen sie die französischen Revolutionäre von 1789. Ihr Atheismus führte sie zu einem dem bisherigen vor allem christlichen Denken entgegenstehenden Prinzip, nämlich, dass aus der Sinnlosigkeit ethisches Handeln entstehen könne, ja gerade entstehen muss. Statt wie in der christlichen Glaubenspraxis die eigenen Leidenschaften zu verleumden und den damit Menschen als mit Fehlern behaftetes Mängelwesen zu interpretieren, verfolgt dieser Anspruch an sich selbst und aus sich heraus, die eigenen Leidenschaften zu verfeinern und zu lenken. Dies schaffe die moralische Voraussetzung, sich selbst und der eigenen Umgebung so wenig wie möglich zu schaden und so viel Gutes wie möglich zu schaffen.
In seinem neuen Buch nimmt Blom ein, zwei, drei Jahrhunderte länger Anlauf, um diese Geschichte erneut zu erzählen. Ausgangspunkt ist dabei die Kleine Eiszeit, die Europa Ausgang des Mittelalters und während der Frühen Neuzeit im Griff hatte. Es war eine frostige Zeit, die die Länder dieses Kontinents heimsuchte. Verewigt wurde sie in den Bildern von Pieter Bruegel (1525/1530-1569) und Hendrick Avercamp (1585-1634). Ihre Bilder beschreiben malerisch eine kalte Welt, die ihre Bewohner nötigt, existentielle Bedrohungen mit neuen Ideen zu begegnen und neue Lebensweisen zu finden.
Einfache Fragen waren es, die Blom hier umtrieben: Was verändert sich in einer Gesellschaft, wenn sich ihr Klima ändert? Welche unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen hat eine Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen auf ihre Kultur, ihren emotionalen und intellektuellen Horizont? Im 16. Jahrhundert hatte sich das Klima um mehr als vier Grad gegenüber dem warmen Wetter des Mittelalters abgekühlt. Schlechte Ernten häuften sich und mit ihnen Hungersnöte in ganz Europa. Für eine bäuerliche Welt bedeuteten sie eine Katastrophe. Getreide und Brot verteuerten sich, die Anzahl sozialer Unruhen und bäuerlicher Aufstände nahmen zu, sie wurden oft mit großer Härte niedergeschlagen. Die Konsequenz: »Ein über mehrere Jahrhunderte stabiles System geriet innerhalb von einer Generation ins Taumeln.«
Der Klimawandel wirkte als Katalysator, der soziale Veränderungsprozesse einerseits auslöste und anderseits beschleunigte. Er stellte zugleich einen permanenten Druck dar, der weitere Umwälzungen erzwang oder zumindest begünstigte, weil bislang bewährte und stabile Strukturen den Veränderungen nicht mehr standhielten.
Dass Blom mit diesen Fragen nicht nur die Welt des 16., 17. und 18. Jahrhunderts im Blick hat, ist offensichtlich. Die Welt aus den Angeln bezieht sich unleugbar auf die Gegenwart. Das wird schon in dem vielsagenden Titel deutlich. Wer würde dem derzeit nicht zustimmen, dass die Welt aus den Angeln ist? Noch klarer wird der Bezug zur Gegenwart aber im epischen Untertitel: »Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie die Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart«. Diesen Überlegungen widmet Blom den letzten und spannendsten Teil seines Buches.
Philipp Blom ist ein ungewöhnlicher Historiker. Ungewöhnlich deshalb, weil er historische Probleme weniger systematisch-analytisch behandelt als vielmehr assoziativ. Er ist im besten Sinne ein historischer Eklektiker oder eklektischer Historiker. Ganz wie man will. Seine Werke faszinieren, weil er alte Geschichten neu anordnet und damit mentale wie intellektuelle Veränderungen verdeutlicht.
Blom ist kein Sozialhistoriker. Die Geschichte des Sozialen, des Gesellschaftlichen, die Geschichte dinglicher Ausgestaltung und ihre Veränderungen interessieren ihn weniger. Ihn treibt um, welche intellektuellen Auswirkungen gesellschaftliche Veränderungen haben, auch wenn diese Veränderungen auf klimatische Verhältnisse zurückzuführen sind. Der Autor erzählt hier eine politische Ideengeschichte und die Geschichte der Emanzipation vom Transzendenten. Es geht um eine Selbstfindung des Menschen in der Natur und im Zusammenleben mit anderen Menschen, die weder Gewissheiten noch Wahrheiten oder absolute Theoreme kennt. Diese Geschichte handelt von der Transformation von Wissen und Erfahrungen, von der Ablösung der Annahmen durch die Empirie.
Pierre Bayle, einer der Helden Bloms, erkannte, dass Wissen nicht monolithisch ist. Wissen ist nicht statisch, man kann es nicht wie ein Buch besitzen. Es entsteht vielmehr durch Kontroverse und Dissens, durch den Dreischritt These, Antithese, Synthese. Dieser Prozess der Wissensaneignung und -verarbeitung ist ein offener Prozess ohne sicheres Ende, in dem das bessere Argument der Feind des nur mehr guten Argumentes ist. Wissen ist vorläufig und stets umstritten!
Phlipp Bloms philosophische Besuche führen uns von John Dee über Michel Montaigne zu Rembrandt von Rijn, von René Descartes über Baruch de Spinoza zu John Locke und Bernard Mandeville. Gemeinsam haben all diese Denker, dass sie zur wachsenden professionellen Mittelklasse ihrer Zeit gehörten. Ihre soziale Herkunft machte sie zu intellektuellen und philosophischen Treibern dieser Jahrhunderte.
Jenseits aller Anregungen hinterlassen Bloms Überlegungen zu einer Welt aus den Angeln auch ein Gefühl des Unbehagens. Denn was hat die Kleine Eiszeit mit all dem schlussendlich zu tun? Sind die klimatischen Veränderungen ab 1570 wirklich Auslöser dafür, die Welt neu denken zu müssen? Stimmt die Periodisierung, die Blom vornimmt? Jared Diamond etwa, der mit Kollaps ein faszinierendes Buch über die Auswirkungen von Klimaschwankungen und -wandel geschrieben hat, datiert die Kleine Eiszeit deutlich früher. Seiner Argumentation nach wurde sie den Grönland-Wikingern bereits im 14. Jahrhundert zum Verhängnis. Trug zudem nicht schon die Reformation, die 50 Jahre vor Bloms Datierung der Kleinen Eiszeit liegt, den Keim der »Entzauberung der Welt« in sich? Auch die Entdeckung Amerikas, die enorme politische und wirtschaftliche Auswirkungen in Europa hatte, trug zu mentalen wie intellektuellen Veränderungen bei. Auch bei einigen der Autoren, die Blom bespricht.
Interessant wäre wirklich eine Geschichte der sozialen Veränderungen in Europa geworden, hätte man sie aus der Perspektive der Kleinen Eiszeit und ihren Konsequenzen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik erzählt. Die Geschichte von der Krise der Landwirtschaft, hervorgerufen zur klimatische Veränderungen, die zu einer intellektuellen Krise des 17. Jahrhunderts führt, greift nicht oder viel zu kurz. Die Geschichte sozialer Anpassung an klimatische Veränderungen, ja, das wäre ein spannendes Buch geworden. So ist es ein Buch über die intellektuelle Krise im 17. Jahrhundert geworden, die sich aus vielen Elementen speist, vielleicht auch aus der Kleinen Eiszeit. Vielleicht.
Blom möchte mit der Klammer Klimawandel auf etwas anderes hinweisen: Es geht ihm um die notwendigen Veränderungen, die mit dem vom Menschen gemachten Klimawandel zu tun haben und die die Art und Weise, wie wir produzieren und wirtschaften, betreffen. Sie betreffen den Wandel unserer Wachstumsökonomie und unserer Wirtschaftsideologie, deren Zukunftsfähigkeit ebenso fraglich ist wie die Gefährdung des Klimawandels für uns existenziell. Sie ist das falsche Erbe der Aufklärung, das unser Leben heute prägt. Zum wahren Erbe der Aufklärung gehören die Freiheit universeller Menschenrechte, die Freiheit von Völkern und Nationen und die Freiheit des Marktes dar. Die Allgemeinen Erklärung der Menschenreichte, der Traum der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit, die Gleichheit aller. Die Reduktion auf den Marktliberalismus ist, so schreibt es Blom, nur die »intellektuelle Sparversion der Ideale der Aufklärung«.
Und so endet Bloms Buch, wie im Untertitel angekündigt, »mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart«. Mit spannenden, relevanten Überlegungen, die unser aktuelles gesellschaftliches, demokratisches Zusammenleben betreffen. Ein Zusammenleben in Demokratie, das gefährdet ist. Es ist nicht das meteorologische Klima gemeint, sondern das intellektuelle. Nach wie vor gilt es, das intellektuelle Erbe der Aufklärung zu bewahren und weiter voranzutreiben. Der Traum der Aufklärung ist noch lange nicht ausgeträumt.
[…] intellektueller Umbrüche, so etwa im Europa der Jahre zwischen 1900 und 1914 oder, wie jüngst, im Europa der kleinen Eiszeit. Ebenso interessieren ihn, was wir aus diesen Vergangenheiten lernen können. Zurückzublicken, um […]
[…] Eine verwässerte Zukunft […]