Literatur, Roman

Am Anfang war das Wort

Am 28. März wird die Berliner Kritikerin und Autorin Gisela von Wysocki mit dem Heinrich-Mann-Preis 2017 der Akademie der Künste ausgezeichnet. Damit wird nicht nur Wysockis umfangreiches essayistisches Werk geehrt, sondern dezidiert auch ihre Romane, in denen es der Schriftstellerin gelungen sei, »den poetisch durchleuchteten Lebensmoment zum Element einer Großform zu machen, in der das Romanhafte und Autobiographische ineinanderschwingen«, so die Jury. Doch bedeutet literarische Virtuosität nicht zwangsläufig eine lohnende Lektüre, sondern manchmal auch verpasste Chancen, wie sich an Wysockis zweitem Roman »Wiesengrund« ablesen lässt.

Es mutet schon beinahe sakrosankt an, wie die junge Protagonistin und Erzählerin Hanna Werbezirk zu Beginn von Gisela von Wysockis Roman unter ihrer Bettdecke heimlich jedem Wort des ihr namentlich unbekannten Denkers im Radio lauscht. Dass es einer der wichtigsten Philosophen und Medienkritiker der deutschen Nachkriegszeit und Begründer der Frankfurter Schule Theodor W. Adorno ist, dessen Vorträge über (Neue) Musik oder Literatur in der Reihe Nachtstudio ausgestrahlt werden, entgeht der Salzburger Gymnasiastin vorerst. Sie ist gebannt von den Worten, von der präzisen Artikuliertheit der Stimme und von den ihr nicht immer zugänglichen Gedanken des mitternächtlichen Sprechers.

Adorno – oder Wiesengrund, wie sie ihn nach dem von ihm selbst abgelegten Nachnamen seines Vaters nennt – wird zu ihrem intellektuellen Fixstern, der ihr eine andere Gedankenwelt eröffnet als ihr Vater, ein angesehener Astrophysiker, den sie liebevoll Alasco tauft. Denn während Alascos Firmament und Gestirne nur allzu wohl geordnet und vertraut erscheinen, ist es Adornos Denken, das ihre Welt ins Wanken bringt: »Kippfiguren. Philosophen, dachte ich immer, haben mit der Wahrheit zu tun. Ich wundere mich darüber, dass der gestrige Mitternachtsgast sich wenig darum kümmerte. Bemitleidenswert wirkt sie trotzdem nicht auf mich, die Wahrheit. Eher im Gegenteil, sie platzt aus allen Nähten. Kommt in abenteuerlichen Aufzügen daher mit Gesichtern, die mal so und mal so aussehen.«

Einige Jahre später reist Hanna Werbezirk als frischgebackene Studentin der Philosophie nach Frankfurt, um nicht nur Adornos Stimme zu lauschen, sondern um bei ihrem Wiesengrund zu hören, um seine Schülerin zu werden. Dass sich der charismatische Sprecher zuerst zu ihrem »Puck«, dann zu ihrem »Mann mit dem Hut« und schließlich als »ein untersetzter Herr, der einen grauen Anzug trägt« wandelt, verwundert kaum. Allerdings schmälert diese Entmystifizierung Hannas intellektuelle Bewunderung und Liebe – »eine Liebesgeschichte, auch ohne Haut und Haar«, wie sie später einräumt – für ihren philosophischen Stern, ein »Zauberer«, der auch »schlechte Tage haben kann«, nicht. Man geht gemeinsam in die Zoohandlung, ins Café und zu Empfängen, trifft sich im Hörsaal, bei den Sprechstunden und im Fahrstuhl – und bleibt ansonsten bei dem, worauf sich beide verstehen: beim Wort, beim Sprechen und Hören, und manchmal auch beim Schweigen.

Gisela von Wysocki, selbst einst Adorno-Schülerin, greift in Wiesengrund sicherlich auf ein für unsere Zeit ungewöhnliches Sujet zurück. Denn die Zeiten der Heldenverehrung eines Intellektuellen (gar eines Philosophen), wie sie uns aus den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland, aber vor allem in Frankreich im (kollektiven) Gedächtnis geblieben sind, scheinen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Es ist nicht das Wort, das kritische, kühne, provokante Denken, das unsere kulturellen und politischen Diskurse größtenteils bestimmt, sondern die abwehrende Abgrenzung und ungläubige Ohnmacht eines materiellen, postfaktischen und post-postmodernen Zeitalters, das keinen Halt im eigenen Denken mehr findet. In Wysockis Roman klingt dadurch sicherlich eine gewisse Wehmut über ein vergangenes Zeitalter an, die dieses Werk auch in die Tradition Heinrich Manns stellt, wenn auch anders als von der Jury des nach ihm benannten Preises angeführt. Diesen Schleier des Vergangenen fängt Wysocki sprachlich virtuos in der Darstellung von Hannas Sinneswahrnehmungen und Gedanken ein. Der Text ist von Hannas leicht vagem, nebulösem und assoziativem Erzählen geprägt. Ein Spiel mit Worten und Sprache, der zum Inhalt des Romans passt, inklusive der punktuellen Verstiegenheit von Hannas Erzählstil.

Wiesengrund
Gisela von Wysocki: Wiesengrund. Suhrkamp Verlag 2016. 264 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen

Doch trotz der literarischen Virtuosität verpasst Wysocki mit diesem Roman auch eine Chance. Nicht nur bleiben die Charaktere der Erzählerin Hanna Werbezirk und ihres geistigen Idols Theodor W. Adorno allzu schemenhaft und, im Falle Hannas, zum Teil sogar unglaubwürdig. Sondern vor allem verpasst es der Roman, damals wie heute wichtige politische Themen ausreichend in den Blick zu nehmen. Zum einen betrifft dies die kritische Auseinandersetzung mit Adornos Exilzeit während des Zweiten Weltkrieges und dem mehr oder weniger latenten Antisemitismus in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, zum anderen die Auseinandersetzung mit einem männlich geprägten Wissenschaftsbetrieb, dem »Geschlechtertrara«, wie es Hanna Werbezirk an einer Stelle bezeichnet.

Während Exil und westdeutscher Antisemitismus zumindest noch in einer Szene wenigstens ansatzweise ins Licht rücken, wird die Geschlechterfrage komplett ausgeblendet. Dies führt zu einem massiven Ungleichgewicht in der Figurenkonstellation, die von weiblichen Haushaltsmitgliedern und männlichen Geistesgrößen geprägt ist. Dies mag zwar im Großen und Ganzen die – historische – Realität widerspiegeln, dennoch versäumt Wsyocki die nötige kritische Reflektion darüber. Da helfen weder schöne Worte noch wohlgeformte Sätze. Dies überrascht und enttäuscht umso mehr, als Wysocki sich bereits mit sehr klugen und durchaus feministischen Wort- und Schriftbeiträgen in die Genderdebatte eingebracht hat und damit auch bekannt wurde.

Wiesengrund ist weder ein Roman für die breite Masse noch erzählt er von einem Massenphänomen. Vielmehr bleibt es eine individuelle Entscheidung, in welchem Ausmaß das Wort – in seinem Wohlklang, in seiner Gestalt – über dem Inhalt stehen darf, und davon hängt ab, ob man Wiesengrund als lohnende Lektüre oder als Roman der verpassten Chancen wahrnimmt.