Die Wahlberlinerin Anke Stelling hat einen Blick wie ein Skalpell. Entsprechend seziert sie die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihren Büchern wie kaum eine andere Schriftstellerin. Demonstriert wird das in ihren gesammelten Erzählungen, die unter dem passenden Titel »Grundlagenforschung« erschienen sind.
Der Titel klingt wie der Ansatz für eine naturwissenschaftliche Studie, und irgendwie geht es im weitesten Sinne auch um chemische Prozesse und physische Vorgänge. Insgesamt 14 Erzählungen – die meisten in den letzten Jahren verfasst und in Anthologien und Sammlungen publiziert – umfasst Anke Stellings Erzählungsband, mit dem der Berliner Verbrecherverlag zum 25. Jubiläum seine neue Reihe »kurze form« (die in einem wunderschönen, reduzierten Design erscheint) aufnimmt. Es sind Erzählungen, in denen Stelling (meist) Frauen in den Blick nimmt, die mit sich und ihrer Situation aus ganz unterschiedlichen Gründen hadern. Die sich damit abgefunden haben, dass es die Welt nicht gut mit ihnen meint oder sie sich fügen müssen in eine Situation, die sie sich nicht ausgesucht haben, aber die sie irgendwie aushalten müssen.
Da sind etwa die befreundeten Paare in der Erzählung »Bei den Wölfen«, die abends auslosen, wer bei wem schläft, da es ohnehin egal ist, ob man als Paar noch Zeit miteinander verbringt oder nicht. »Im selben Bett zu schlafen bedeutet bei ihnen nicht mehr zwangsläufig, beieinander zu sein. Jeder schläft und träumt für sich, um morgens die Augen aufzuschlagen und nachzusehen, ob der andere noch da ist.«
Liebe ist in Stellings Erzählungen oft nicht mehr als ein Wort, und dann nicht einmal eines, dass so etwas wie Wärme oder Zuneigung ausstrahlt. Liebe ist eher etwas Störendes, Unberechenbares, etwas, das nie so ist, wie man es gerade gern hätte. In »Unbeständig und Kalt« wird sie mit einem Tiefdruckgebiet verglichen und wenn man das liest, dann möchte man sich diese Liebe dringend vom Leib halten. »Denn die Liebe ist das Wetter. Tausende von kleinen Fliegen, die von einem gewaltigen Tief nach unten gedrückt werden. Du gehst da durch, uns sie verfangen sich in deinen Haaren, kleben in deinen Augenwinkeln, jucken in deinen Kleidern. So lange, bis es regnet. Dann sind sie für ein Weilchen fort.«
Stellings Figuren sind müde, setzen sich nicht zur Wehr und ertragen die bittere Wirklichkeit. Sie wollen nicht alt werden, keine Familie gründen oder halten das Leben in Familie nicht aus, weil es nicht dem erhofften Idyll entspricht. Immer fehlt etwas für ein glückliches Dasein. Die verzweifelte Hoffnung „wenn doch nur« steckt in jeder dieser Geschichten. Es ist nicht so, als hätten Gefühle von Zweifel und Verzweiflung nicht ihre Berechtigung oder würden nicht jede:n von uns einmal anschleichen, je nachdem, wo im Leben man sich befindet. Aber Stelling verwehrt ihren Figuren eine Erlösung. Sie betreibt insofern eine knallharte »Grundlagenforschung«, als dass sie ihr Personal in aller Kürze und Drastik in die Extreme treibt und beobachtet, was dort passiert. Das ist in gewisser weise hyperreal und niemals langweilig.
Wer genau hinsieht, erkennt in Stellings Geschichten auch versöhnliche Töne. In »Die Stelle« hadert ihre Erzählerin mit ihrem Aussehen und stellt frustriert fest, dass sie aller Bemühungen zum Trotz »leider immer noch nicht schön genug« ist. Nüchtern räumt sie ein, dass sie mit dem Versuch, allgemeinen Schönheitsidealen hinterher zu hecheln vergeblich versucht, »zugleich zur Stelle zu sein und zur Stelle zu werden.« Hier schimmert tatsächlich eine Form der Emanzipation von den Verhältnissen, in denen man lebt auf. »Der Rahmen ist das Problem. Wenn ich dem nur endlich entkommen könnte.«
Die Prosa der Berlinerin ist lakonisch, in knappen Sätzen packt Stelling die Wirklichkeit ihrer Figuren bei den Hörnern. Etwa wenn Simone einmal ausschert und sich dem Rausch hingibt, weil ihr nichts einfiel, was schlimmstenfalls passieren könnte. »Am nächsten Morgen kam die Rechnung: die Kinder, um Viertel vor sechs.« Oder wenn Chrisse seiner Freundin Svenja an den Kopf knallt, »dass ich eine Vergangenheit habe und du nicht« und ihr so klar macht, dass er ihrem Familienwunsch nicht nachkommen will.
Anke Stelling lässt in ihren Texten die Hüllen fallen, zieht die Vorhänge der bodentiefen Fenster zur Seite und macht den Blick frei für die Einsamkeit und Dunkelheit, die sich hinter der Fassade auftut. Das mögen manche nicht, vor allem jene, die sich ertappt und das eigene Dasein ungeschönt beschrieben fühlen. Ihr Roman »Schäfchen im Trockenen« – ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse – handelt von einer Frau, die in ihrem stillen Kämmerlein vor sich hinschreibt und dabei verarbeitet, wie sie von ihrem sozialen Umfeld ausgeschlossen wird. Dieser Ausschluss ist Stelling nicht unbekannt, wie sie im Gespräch zum Buch erzählte. Auch sie musste sich nach »Bodentiefe Fenster« aus dem Umfeld der eigenen Baugruppe die Kritik anhören, dass sie doch die Wirklichkeit nicht so detailliert beschreiben könne, dass sich das nicht gehöre. Das Irrwitzige daran ist, dass es in solchen Fällen gar nicht Stelling ist, die die Vorhänge zur Seite zieht, sondern die Personen selbst, die sich beklagen. In dem Moment, in dem ihre Kritik laut wird, outen sie sich selbst als mögliche Vorlage zur Literatur.
»Süß zu sein, war nicht immer von Vorteil, Bitterkeit konnte einem das Leben retten«, heißt es in der letzten Erzählung »Ranunkeln«, die sie neben der Story »Heilsversprechen« exklusiv für diesen Band geschrieben hat. Bitterkeit ist ein Gefühl, dass wahrscheinlich auch Anke Stelling gut kennt. Der Spiegel spazierte neulich mit ihr durch Berlin und stellte beim Gespräch über ihre Texte fest, dass die Berlinerin »die Unversöhnliche« unter den deutschen Autorinnen sei, die »sich nicht durch literarische Preise besänftigen« ließe. Eine seltsame Formulierung, weil man sich fragt, wofür diese Sanftmut gut sein soll. Denn gerade in der Erbarmungslosigkeit ihren Figuren gegenüber findet Stelling die Worte, die die Widersprüche des Alltags, in denen wir alle leben, so akkurat beschreiben. Dass diese Umstände manchmal schwer auszuhalten sind, verschweigt sie nicht.
»Vielleicht war sie zurzeit einfach nicht dran. So was kam vor; wie sollten denn auch alle stets gleichermaßen berücksichtigt werden im großen Plan. Ab und zu musste jemand aussetzen«, heißt es in der Erzählung »Glückliche Fügung«. Stelling gönnt ihrer Figur noch ein Satz, der sie (und keine:n andere:n) erlöst, und doch so etwas wie universelle Erleichterung ermöglicht. »Aber es war schwierig, zu leben, ohne dran zu sein.« Ihre Geschichten erzählen facettenreich, wie schwierig es ist, dieses Gefühl auszuhalten.
[…] Die Wahlberlinerin Anke Stelling hat einen Blick wie ein Skalpell. Entsprechend seziert sie die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihren Büchern wie kaum eine andere Schriftstellerin. In ihren gesammelten Erzählungen, die unter dem passenden Titel »Grundlagenforschung« erschienen sind, demonstriert sie das einmal mehr. Darin lässt sie die Hüllen fallen, zieht die Vorhänge der bodentiefen Fenster zur Seite und macht den Blick frei für die Einsamkeit und Dunkelheit, die sich hinter der Fassade auftut. Gerade in der Erbarmungslosigkeit ihren Figuren gegenüber findet Stelling die Worte, die die Widersprüche des Alltags, in denen wir alle leben, akkurat beschreiben. Hier gehts zur ausführlichen Kritik. […]