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»Wir sind die, die durch die Bücher verändert werden«

Der Berliner Verbrecher-Verlag feiert dieser Tage ein Jubiläum. 1995 ging der Verlag mit einem Buch von Dietmar Dath an den Start. Seitdem haben Jörg Sundermeier und Kristine Listau zahlreiche Preisträger hervorgebracht und einige Projekte verwirklicht, die andere für unmöglich gehalten haben. Eine Reise durch 25 Jahre Verbrecher-Verlag mit 25 Fragen.

  1. Das allererste Buch?

Jörg Sundermeier: Das erste Buch war »Cordula killt Dich! Oder: Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung«, erschienen 1995, zugleich der erste veröffentlichte Roman von Dietmar Dath.

© Lektorat Wengorz

2. Welches ist euer dickster Schinken?

Kristine Listau: Eindeutig der siebenbändige Roman »Das Büro« von J. J. Voskuil mit weit über 5.000 Seiten, aus dem Niederländischen übersetzt von Gerd Busse.

3. Auf welches Buch habt ihr euch am meisten gefreut?

Listau: Auf die Erzählungen von Anke Stelling, die gerade unter dem Titel »Grundlagenforschung« erschienen sind. Nicht nur, weil sie von Anke sind, sondern auch weil wir mit ihnen unsere neue Reihe »kurze form« eröffnet haben, in der noch viel zu erwarten ist.
Sundermeier: Ich freue mich immer sehr auf das nächste Buch!

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4. Welches Buch(Projekt) habt ihr wider aller Vernunft gemacht?

Listau: Die 15 Bände Tagebücher von Erich Mühsam, die zeitgleich vollständig und frei zugänglich im Netz erschienen sind – und so erst zu einer kritischen Ausgabe wurden.
Sundermeier: Sehe ich genauso. Ich will nur noch den Herausgebern Chris Hirte und Conrad Piens danken, die uns dazu verführt haben.

5. Welcher Einzeltitel hat sich in der Geschichte des Verlags am besten verkauft?

Listau: »Schäfchen im Trockenen« von Anke Stelling. Aber auch Manja Präkels‘ Debüt »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« und Bettina Wilperts Debütroman »Nichts was uns passiert« haben sich super verkauft – oder »Welche Farbe hat Berlin« von David Wagner.

6. Welcher Titel hat nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die er verdient hat?

Sundermeier: Es sind einige. Aber ich bin mir immer sicher, dass das nicht an den Büchern liegt, sondern an der Welt, die hier nicht erkannt hat, was sie verpasst.

7. Welches Buch hat in der Aufmerksamkeit selbst eure kühnsten Erwartungen übertroffen?

Listau: »FLEXEN. Flâneusen* schreiben Städte« – wer hätte gedacht, dass so viele Menschen auf die Sicht von weiblichen Flâneusen, Queers und PoCs gewartet haben. Als die Herausgeberinnen Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer uns die Anthologie vorgeschlagen haben, wussten wir, dass das Thema wichtig ist, aber nicht, dass es auf so viel Zuspruch stößt.

8. Von welchem Buch wusstet ihr, dass es erfolgreich sein wird?

Listau: Die Neuausgabe des Buches »Faschistische Ideologie. Eine Einführung« von Zeev Sternhell, übersetzt von Volkmar Wölk. Sie passt leider zu unserer Zeit.

9. Welches Buch nehmt ihr am liebsten zur Hand?

Listau: Ich mag, wenn Bücher Gewicht haben. »Coming of Karlo« von Lisa Kränzler, glatte Goldene Schrift auf offenem schwarzem Papier, das sind viele unterschiedliche haptische Erlebnisse.
Sundermeier: Ich mag »Das Leseleben« von Giwi Margwelaschwili sehr, ein kleiner leinengebundener Handschmeichler. Dazu ist noch jedes Buch ein Unikat, weil die Geschichten in jedem Buch eine andere Reihenfolge haben.

10. Welches Buch hat das größte Format?

Sundermeier: Tatjana Doll, »Neuer Weltatlas«, das hat die Druckerei fast zur Verzweiflung gebracht, weil es größer als DIN-A3 ist.

11. Gibt es eine Buchreihe, deren Abschluss euch besonders mit Stolz erfüllt hat?

Listau: Die Tagebücher von Erich Mühsam.
Sundermeier: Die Briefe von Max Herrmann-Neiße, zwei Bände, in die die Herausgeber Michael Prinz und Klaus Völker immense Arbeit gesteckt haben. Vor allem aber: Seit der Veröffentlichung wurde bislang kein weiterer Brief von Herrmann-Neiße aufgefunden, wir haben also das Recht zu sagen, diese Edition ist vollständig.

12. Welches Buch wurde viel geordert, dann aber überraschend stark remittiert?

Sundermeier: Auch da gibt es Beispiele. Und auch da ist die Welt falsch, nicht das Buch.

13. Welches Buch sollte Schulpflichtlektüre sein?

Listau: Manja Präkels‘ »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß«, der Roman hat nicht umsonst den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen. Es beschreibt nicht nur den Aufstieg der Rechten in der Ex-DDR, sondern auch, wie gefährlich bereits eine Mobbing-Kultur werden kann.

14. Welches ist euer schönstes Buch?

Sundermeier: Sie sind alle schön!

15. Welche Bücher haben für die Entwicklung des Verlags den größten Stellenwert?

Sundermeier: Werkausgaben wie die von Gisela Elsner, Ronald M. Schernikau oder Christian Geissler zeigen Traditionslinien auf, Reihen wie unsere Filmliteratur-Reihe oder die »Golden Books« des NTGent oder auch unsere wissenschaftlichen Bücher vertiefen Inhalte, einzelne Romane verändern den Blickwinkel, Sachbücher rütteln uns auf – wir sind die, die durch die Bücher verändert werden, das verändert den Verlag.

16. Welches Buch aus 25 Jahren liegt euch am meisten am Herzen?

Listau: Das kann man nicht beantworten. Zuerst das erste Buch und dann immer das nächste.

17. Welcher Titel wird am meisten in seiner ästhetischen oder politisch-sozialen Bedeutung unterschätzt?

Sundermeier: Die beiden Bände »Kapitän Wakusch« von Giwi Margwelaschwili vielleicht, deren literarische und politische Bedeutung kaum erfasst worden ist. Oder der nur scheinbar einfache autobiografische Roman »Spinnewipp« von Egon Neuhaus. Viele unserer Titel konnten bislang noch nicht genug Wirkung entfalten, doch ich bin mir sicher: Das kommt noch.

18. Welches Buch oder Projekt hat euch am längsten beschäftigt?

Listau: Die allermeisten beschäftigen uns bis heute.

19. Für welches Buch habt ihr den größten Werbeaufwand betrieben?

Sundermeier: Es ist unser Prinzip, sich für alle Bücher gleich einzusetzen.

20. Welcher Titel war ein echter Selbstläufer?

Listau: Bislang wahrscheinlich »Trigger Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen« herausgegeben von Eva Berendsen, Saba Nur-Cheema und Meron Mendel für die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, denn dieses Buch von uns hat ganz unmittelbar den Nerv der Zeit getroffen.

21. Welcher Titel wurde am kontroversesten debattiert?

Sundermeier: Beinahe alle Bücher von Milo Rau, die wir herausgegeben haben, werden heftig diskutiert.

22. Welchen Titel aus dem aktuellen Programm sollte man unbedingt lesen?

Listau: »Aufklären und einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess« von NSU-Watch. Oder »Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive« herausgegeben von Lydia Lierke und Massimo Perinelli. Oder der Roman »Auwald« von Jana Volkmann. Es kommt schließlich darauf an, welche Antworten man gerade sucht.

23. Welches Buch würdet ihr jemandem empfehlen, der euch noch gar nicht kennt?

Sundermeier: Für Literaturwissenschaftler:innen: »Diskursdisko« von Enno Stahl. Für Liebhaber:innen von sehr guter Sprache: den Roman »Sonne Mond Zinn« von Alexandra Riedel. Wer sich mit relevanter Poesie beschäftigen will, sollte zu Aras Örens »Berliner Trilogie« greifen. Für politische Köpfe: »Das Faschistische Jahrhundert«, herausgegeben von Friedrich Burschel. Für Cineast:innen: »Nazis Können nicht lieben« von Wolfgang Jacobsen. Für die, die scharfe Satire lieben: den Roman »Das Berührungsverbot« von Gisela Elsner. Ich kann das jetzt immer so weiter machen …

24. Last but not least: Gibt es ein offenes Traumprojekt, dass ihr irgendwann einmal machen wollt?

Listau: Einen guten deutschsprachigen Science-Fiction-Roman, geschrieben von einer Person, die man bislang noch nicht kennt.
Sundermeier: Noch mehr linke Klassikerinnen.

25. Welches Buch von Euch wurde auf Messen am stärksten geklaut?

Sundermeier: Geklaut wird immer, das ist schon nicht so schön. Wenn allerdings gar nicht geklaut wird, dann hat man ja auch was falsch gemacht. Lustigerweise wurde aber wohl am meisten unsere Anthologie mit dem Titel »Das Buch vom Klauen« geklaut. Warum wohl?

Wir sind am Ende angekommen, 25 Fragen sind gestellt. Werfen wir noch mit einer 26. Frage einen Blick in die Zukunft. Welches Buch wird euer nächster Bestseller?

Listau: Das gesamte Frühjahrsprogramm 2021.

Jörg, Kristine, vielen Dank für 25 Jahre Einsatz für bewusstseinsverändernde Bücher.

3 Kommentare

  1. […] in Anthologien und Sammlungen publiziert – umfasst Anke Stellings Erzählungsband, mit dem der Berliner Verbrecherverlag zum 25. Jubiläum seine neue Reihe »kurze form« (die in einem wunderschönen, reduzierten Design erscheint) […]

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