Literatur, Roman

»Es schläft sich so schön mit Propofol«

David Wagner auf der Buchmesse in Leipzig 2013 | Foto: Thomas Hummitzsch

Essayistisch reflektiert David Wagner in »Leben« sein Dasein mit einer Leber zerstörenden Autoimmunerkrankung sowie das Drumherum um die lebensrettende Organtransplantation.

»Zu leben ist ja viel komplizierter, als tot zu sein«, stellt David Wagner in seinen autobiografisch geprägten Betrachtungen unter dem Titel Leben fest. Man möchte meinen, dass es nicht erst einer schweren Erkrankung bedarf, deren Folgen in der Selbstzerstörung der Leber bestehen, um dieser Binse gewahr zu werden. Die Binse erhält aber die Kraft eines Meteoriteneinschlags, berücksichtigt man den vorangehenden Satz und den Kopf, in dem er entspringt. »Ich konnte mir viel leichter vorstellen, nicht mehr dazusein, als irgend etwas zu werden«, liest man zuvor. Der Kopf, in dem dieser Gedanke entstand, gehört David Wagner im Alter von 16 Jahren, inmitten der Blüte seiner Jugend.

Als er zwölf Jahre alt war, stellte man bei David Wagner eine Autoimmunhepatitis fest, was dazu führte, dass sein Körper die eigenen Leberzellen als Fremdkörper attackierte und die Leber Schritt für Schritt zerstörte. Vor wenigen Jahren brauchte er ein neues Organ. Diese Zeit der inneren Auseinandersetzung mit der notwendigen Transplantation und dem unumgänglichen pausenlosen »Endoskopieren, Sonographieren, Computertomographieren und Magnetresonanztomographieren« hat David Wagner in seinen mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten  Reflexionen Leben verarbeitet.

Wagners Ausführungen berühren die grundsätzlichen Fragen der Existenz. Etwa wenn er darüber nachsinnt, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis er nach der Organtransplantation zum Spender steht. »Bist Du Nichte, Tante, Gewebe-Cousine?« Vielleicht spielt das aber auch gar keine Rolle, weil mit der Transplantation nicht Verwandtschaften sondern Besitzverhältnisse neu aufgestellt werden? »Wem gehört ein transplantiertes Organ? Wurde es mir geschenkt, oder gehört es weiterhin Eurotransplant, der Klinik oder der Krankenkasse?« Wagner fragt sich weiter, ob er »Container« eines Organs auf seinem Weg durch die Körper ist, ob er sich dieses Organ verdienen muss und ob es ihm wieder entzogen werden kann, wenn er es nicht in respektabler Weise, etwa durch regelmäßigen Sport oder den Verzicht auf Alkohol, pflegt. Und »arbeitet dieser Körper, der da liegt, dieser Körper, in dem ich offensichtlich stecke, für die Apparate?«

Wagner erzählt, dass er, überwältigt von der Situation, eine erste mögliche Organtransplantation abgelehnt habe. Warum er dies gemacht hat, entzieht sich jeder Bewertung. Die Tatsache, dass sein behandelnder Arzt nicht mit Kopfschütteln reagiert hat, macht deutlich, dass es keinesfalls ungewöhnlich zu sein scheint, dass es Menschen plötzlich mit der Angst zu tun kriegen, wenn ihnen »die Verlängerung des eigenen Lebens« angeboten wird. Aber auch hier wirkt Wagners Reflektion des eigenen Tuns wie eine Jonglage mit dem eigenen Dasein; im wahrsten Sinne des Wortes erscheint dies wie das existenzielle Spiel des Intellektuellen mit der eigenen Existenz.

Die knapp 300 Seiten entziehen sich jeder literaturtheoretischen Einordnung. Der Ansatz des Schreibens aus der persönlichen Betroffenheit heraus erinnert an Carolin Emckes beeindruckenden Essay Wie wir begehren, der im Vorjahr für den Buchmessepreis in Leipzig in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert war. Dass Wagners Buch in diesem Jahr in der Sparte Belletristik ausgezeichnet wurde, zeigt, wie sehr sich essayistische Titel einer grundsätzlichen Kategorisierung entziehen. Möglicherweise hat sich die diesjährige Jury für die Kategorie Belletristik entscheiden, weil Wagner immer wieder betont hatte, dass der Ich-Erzähler seines Buches gar nicht er selbst sei. Ein Bild, das vor dem Hintergrund seiner Biografie immer wieder vergegenwärtigt sein muss, da es sonst kaum zu halten ist.

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David Wagner: Leben. Rowohlt Verlag 2013. 286 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Unter literarischen Aspekten enthält Wagners Buch geniale Züge – etwa die des Vergleichs des auf die Liege des Magnetresonanztomographen geschnallten leberkranken Patienten mit dem an den Felsen geschlagenen Prometheus, an dessen Leber sich die gottgesandten Adler laben. Er spricht von sich als »Krankenhausodysseus«, der durch »Klinikarkadien« wandelt und in dessen Adern »Wälsungenblut« fließt. Wagners Erzähler schwimmt aller Maladie zum Trotz vergnüglich im Becken der Hochkultur. Und wenn dieser auf eine Leber angewiesene Odysseus mit amüsiertem Blick auf den klinischen Speisezettel bemerkt, dass er Leberwurst noch nie gemocht habe, lacht man als Leser laut mit dem Autor auf. Aber diese aufblitzenden Geniestreiche drohen in der elaborierten Selbstreflexion der Erkrankung auch immer wieder unterzugehen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Niemand will es Wagners Erzähler (und schon gar nicht Wagner selbst) absprechen, das eigene Schicksal mit einer herbstlichen Melancholie zu betrachten. Es muss aber gefragt werden dürfen, ob das literarisch preisverdächtig ist. Denn ein beträchtlicher Teil des Buches beschäftigt sich mit dem matt-lähmenden Alltag als »Nachthemdgespenst« im Krankenhaus, dem Wegdämmern und Aufwachen des Erzählers und den Schicksalen seiner Zimmergenossen. Ist das eine kongeniale Übertragung des eigenen Dämmerzustands auf den Leser, ein Zumuten des Unzumutbaren? Möglich, aber nicht unumstritten.

In die leeren Dämmerzustände hinein drängen sich kontrapunktisch Erinnerungen an bessere Zeiten, an Anekdoten des eigenen »ErLebens«, der Erzähler lässt noch einmal sein Leben vor dem inneren Auge Revue passieren. Hier an Marcel Proust zu denken, scheint nicht ganz abwegig zu sein.

David Wagners knappe, in Anekdoten und Bruchstücken aufgezeichnete Betrachtungen des eigenen Darniederliegens und Ausgeliefertseins erinnern zuweilen an das Tagebuch Christoph Schlingensiefs So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, das in seiner Intimität berührt. Wagner lässt seine Leser jedoch nicht so nah an sich heran. Sein Werk ist keineswegs eine Dokumentation des eigenen Innenlebens, sondern eine kulturgeprägte Reflektion der eigenen Erlebnisse, die er an einen Erzähler delegiert. Der Rückschluss soll trotz ständiger Anbindung ausgeschlossen werden, was die Distanz der Erzählperspektive steigert.

Eingebaut in seine Selbstbetrachtungen hat David Wagner eine Sammlung mit Meldungen über skurrile Todesarten, die er vor Jahren im Berliner Café Burger bei einer Lesung vortrug. Da stirbt eine Aushilfskraft in einem Kessel heißer Schokolade, weil sie von einem Schlag des Rührgeräts getroffen wurde. Ein Mann erliegt einer Sepsis, nachdem er in seinem Garten Kompost verteilt und sich einen Schimmelpilz eingefangen hat. Ein anderer ertrinkt am Abfluss eines Whirlpools, weil seine Freundin die Wasserdüsen zu weit aufgedreht hatte. Und eine Frau erstickt auf dem eigenen Dachboden, nachdem ihr Mann ihr den Mund mit Paketband zugeklebt und sie auf den Dachboden gebracht hatte, weil sie ihm zuviel redete.

Diese absurden Geschichten machen in konzentrierter Form das deutlich, wovon David Wagners Leben erzählt: wie irrsinnig seltsam und bewundernswert einzigartig der Umstand unseres Lebens und Sterbens ist.

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