Klassiker, Literatur

Zufall ist kein koscheres Wort

Isaac B. Singers Erzählkunst ist auch 30 Jahre nach seinem Tod umwerfend und hochaktuell. Im Suhrkamp-Verlag sind neben seinem Unterweltroman »Jarmy und Keila« und dem Roman »Der Büßer« nun auch zwei Bände mit packenden, unterhaltsamen und tragischen Liebesgeschichten.

Joseph Shapiro könnte ein glücklicher Mann sein. In Celia hat der erfolgreiche New Yorker Geschäftsmann seine Traumfrau gefunden, die mit ihm – „wie es moderne Paare tun“ – über Seitensprünge und andere Abenteuer frotzelt. Ermutigt von seinen Kollegen stürzt sich Shapiro in eine Affäre mit der geschiedenen Hippie-Mutter Liza, die ihm gemeinsam mit ihrer Tochter fortan auf der Tasche liegt. Nach einem handfesten Streit zwischen Mutter und Tochter beschließt er, der heimlichen Liebschaft und damit allen Lügen ein Ende zu setzen. Doch es kommt anders. Zu Hause angekommen beobachtet er, wie Celia im Nachthemd einen fremden Mann aus der Hintertür ihrer gemeinsamen Wohnung schiebt. »Jeder Lügner ist überzeugt, dass er der ganzen Welt etwas vormachen kann. Tatsächlich aber macht er sich selber am meisten vor«, kommentiert Shapiro lakonisch die eigene Naivität.

Isaac Bashevis Singer: Der Büßer. Aus dem Amerikanischen von Gertrud Baruch. Suhrkamp Verlag 2020. 153 Seiten. 11,00 Euro. Hier bestellen

Isaac Bashevis Singer schildert in seinem Roman »Der Büßer« auf gerade einmal 170 Seiten ein jüdisches Schicksal par excellence. Sein Antiheld ist der Hölle Europa entkommen, aber weder Karriere noch Liebe verschaffen ihm Ruhe. Das schlechte Gewissen des Überlebenden rumort in ihm, Erlösung scheint nur die Abkehr von der Welt zu versprechen.

Was folgt, ist ein bittersüßes Purgatorium, das zu meinen besten Lektüren im vergangenen Jahr zählt. Shapiro tut Buße, indem er sich jede Form fleischlicher Gelüste versagt. Es schlagen jedoch zwei Herzen in seiner Brust, eines will das volle Leben, das andere Anstand und »Jüdischkeit«. Er beschließt, nach Israel zu fliehen, »zurück zur echten Jüdischkeit, zu der Quelle, aus der wir alle getrunken hatten, zurück auf den Weg, der zur Tora und zur Reinheit führt.« Doch dieser Weg wird kein leichter sein. Schon auf dem Weg ins Heilige Land erliegt er einmal mehr den irdischen Verlockungen. In Israel angekommen beginnt Shapiro, der sich in einer Linie mit König David wähnt, zu zweifeln – an Gott, der Welt und seiner jüdischen Identität. Denn die weltlichen Juden Israels waren nicht jüdischer als die weltlichen Juden in anderen Ländern. »Der moderne Jude hat sich alle Lügen und Verblendungen seiner Zeit zu eigen gemacht«, stellt er im Laufe seiner Odyssee ernüchtert fest.

Isaac Bashevis Singer: Jarmy und Keila. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag 2020. 464 Seiten. 12,00 Euro. Hier bestellen

Jüdische Zweifler, Seelensucher und Liebende durchziehen das Werk des einzigen jiddischen Literaturnobelpreisträgers. 1903 als Icek Hersz Zynger geboren wuchs Singer im jüdischen Viertel Warschaus auf. Das vertraute Shtetl rund um die Krochmalna-Straße, bevölkert von Händlern, Gläubige(r)n und Prostituierten, taucht in zahlreichen seiner Texte auf. Sein fantastischer Unterweltsroman »Jarmy und Keila«, der erst seit einem Jahr auf Deutsch vorliegt, nimmt dort beispielsweise seinen Anfang. 1935 floh er, wie viele seiner Figuren, in die USA. Dort schrieb er über ein dutzend Romane und ein Vielfaches mehr an Erzählungen. Knapp 30 Jahre nach seinem Tod lädt sein Werk ein, diesen Giganten der jüdischen Literatur wiederzuentdecken.

Shapiro ist dabei so eine Art Stellvertreter für die allzumenschlichen Herausforderungen des Lebens, wie Singer im Vorwort zu seinem schmalen Roman deutlich macht. Vielleicht könnten dessen »Seelenqual und Desillusionierung ihren Teil dazu beitragen, Gläubige wie auch Skeptiker zu einer Selbstprüfung zu bewegen. Die Heilmittel, die er empfiehlt, werden nicht jedermanns Wunden heilen können, aber die Art der Krankheit wird, so hoffe ich, erkannt.« Die Art der Krankheit ist die des Wahns und der verbohrten Gewissheit, auf die man in seiner Literatur immer wieder trifft.

Isaac Bashevis Singer: Ein Tag des Glücks – Geschichten von der Liebe. Aus dem Amerikanischen von Ellen Otten. Suhrkamp Verlag 2020. 383 Seiten. 14,00 Euro. Hier bestellen

Wie zeitlos modern und zugleich klassisch seine Literatur ist, belegen seine Geschichten von der Liebe, die gerade in zwei Bänden erschienen sind. Sie handeln von aufgeklärten Liebenden, die sich über die Vergeblichkeit der Monogamie im Klaren sind und sich nicht mit Fragen der sexuellen Identität belasten, sondern einfach ihre Leidenschaften leben. Sie breiten die Schicksale von Romantikern aus, die sich hingebungsvoll in die Liebe stürzen. Es wird berichtet von Wagemutigen, die liebend Kopf und Kragen riskieren, und Draufgängern, die für jede Spielart der Liebe zu haben sind. Wir begegnen der roten Reisele, die tausend Männer haben konnte, treffen auf Reb Mendel, der seiner Schwägerin im Wortsinn verfällt, lernen Meir Bontz und die Rote Elka kennen, die nicht einmal der Tod scheidet, und fiebern mit dem schwulen Sissel, dessen heimliche Liebe tragisch endet. So manche Erzählung kommt auch anonym daher, weil sie so delikat ist, dass sich jede Enthüllung verbietet.

Isaac Bashevis Singer: Old Love – Geschichten von der Liebe. Aus dem Amerikanischen von Ellen Otten. Suhrkamp Verlag 2020. 349 Seiten. 12,00 Euro. Hier bestellen

Wie stark Singer in seinen Erzählungen eigene oder ihm zugetragene Erlebnisse verarbeitete, erkennt man nicht nur an den Handlungsorten, sondern auch am Setting. In ganz unterschiedlichen Konstellationen erzählen Journalisten oder Schriftsteller davon, wie jemand auf sie zugekommen und ihnen diese oder jene Geschichte erzählt habe, von der man dann liest. Der Autor rückt dabei oft in die Position eines Beichtvaters oder Psychologen, dessen Erzählungen wohl konstruiert ist und in der jede Information eine Bedeutung hat. Vor allem aber entsteht eine Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem, was für Literatur nie schadhaft ist, weil in diese Lücke Ironie und Augenzwinkern passen, aber auch Staunen und Bewunderung.

Mutmaßlich gilt dies auch für den bislang unveröffentlichen Roman »Der Scharlatan«, der im Frühjahr bei Suhrkamp erscheint. Entdeckt im Nachlass Singers, scheint er sich nahtlos zwischen die Erzählung von Joseph Shapiro und Singers gesammelte Liebesgeschichten einzufügen. Laut Ankündigung handelt er nämlich von einem aus Minsk ausgewanderten Juden, der mit der Ehefrau seines Jugendfreunds anbandelt. Die Dinge laufen wohl irgendwie aus dem Ruder »und das Verhängnis nimmt seinen Lauf«. Dass der Verlag hier mit dem Hardcover aus der Optik der Reihe der bisherigen Singer-Romane ausschert, ist bedauerlich.

Isaac Bashevis Singer: Der Scharlatan. Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag 2020. 400 Seiten. 25,00 Euro. Hier vorbestellen

Davon unbenommen aber ist Singers Literatur, jeweils wunderbar übersetzt von Christa Krüger (»Jarmy und Keila«), Ellen Otten (»Ein Tag des Glücks«, »Old Love«) und Gertrud Baruch (»Der Büßer«), erfahrungssatt, mitten aus dem Leben gegriffen und spiegelt die Vielfalt jüdischen Lebens. Sie lebt von ihrer Leichtigkeit, einer sanften Ironie, die das passende Gegengewicht zur Last der Geschichte bildet. Einer Geschichte, in der der Zufall vom Schicksal abgelöst wurde. Indem er das immer wieder deutlich macht, verneigt sich Singer vor den realen Vorbildern seiner Figuren.

Die Liebe »ist eine Art Wahnsinn«, heißt es in der Erzählung »Stark wie der Tod ist die Liebe«. Wenn dem so ist, dann ist es ein überaus unterhaltsamer Wahnsinn, muss man nach der Lektüre von Singers mitreißenden Geschichten ergänzen.

Eine kürzere Fassung dieses Textes ist im Rolling Stone Magazin 1/2021 erschienen.