Bianca Schaalburg geht in ihrem Graphic Memoir »Der Duft der Kiefern« den Biografien ihrer Ahnen auf den Grund und findet die Schattenseiten einer verschwiegenen Geschichte.
Ein schwerer Schrank, eine Spiegelkonsole und ein Bilderrahmen ziehen 2004 bei der Zeichnerin Bianca Schaalburg ein. Es sind Gegenstände, die vorher im Schlafzimmer ihrer Großmutter standen und die Berlinerin erbte. In dem Rahmen eine Fotografie aus den vierziger Jahren, auf der ihre Großeltern mit ihren vier Kindern zu sehen sind. Das Bild löst in Schaalburg die Frage aus, wie es wohl gewesen sein muss, eine Kindheit unter dem Hakenkreuz.
200 Seiten später sieht man sie vor der Spiegelkonsole ihrer Ahnen, um sie versammelt Urgroßmutter Martha, Naziopa Heinrich, Oma Else, Mutter Edda und sie selbst als kleines Mädchen. Sie alle wohnen in ihr, umso mehr nach der Reise zu den dunklen Geheimnissen ihrer Familie, die sie mit diesem eindrucksvollen grafischen Memoir hinter sich gebracht hat. Zentral ist dabei die Frage, welche Schuld Uropa Heinrich in Osteuropa auf sich und die Familie geladen hat.
Normalerweise würde man seine Vorfahren befragen, aber Schaalburgs Mutter und ihre Großmutter leben nicht mehr. Also beginnt sie zu recherchieren, wühlt in alten Familiendokumenten, sucht in den Tiefen von alten Fotos nach Einzelheiten, die ihr weiterhelfen, und besucht – gemeinsam mit ihren Söhnen – Archive. So findet sie heraus, dass ihr Urgroßvater Heinrich schon früh in die NSDAP eintrat und dank seines frühen Engagements nach der Weltwirtschaftskrise einen Job als Buchhalter für die Deutsche Arbeitsfront bekam, den von den Nazis gegründeten Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, der die Zerschlagung der Gewerkschaften zementieren sollte. Die wies dem Großvater auch die Wohnung in der Bruno-Taut-Siedlung im Westen Berlin zu, in der die Zeichnerin Jahrzehnte später ihre heiß geliebte Großmutter Else besuchte. Sie erinnert sich heute noch an den Duft der Kiefern in der Siedlung und ist damit nicht allein.
Schon als Kind fragte Bianca Schaalburg ihre Großmutter, wie das mit den Juden in der Siedlung gewesen sei. Wie die meisten hat auch Else mit »Wir wussten von nichts« geantwortet. Die Recherchen der Zeichnerin aber zeigen, dass das nicht sein kann, denn in direkter Nachbarschaft haben mit Clara Hipp, Carl Loewensohn und Margarete Silbermann drei jüdische Bürger:innen gelebt, die von den Nazis deportiert wurden. Drei Stolpersteine erinnern an deren Schicksale – und jetzt auch ein Comic, denn »Der Duft der Kiefern« ist auch der Versuch, die Biografien dieser drei Menschen zu rekonstruieren. Erfolglos, denn alles bleibt bruchstück- und lückenhaft. »Ihre Geschichten bleiben uns verschlossen. Ihre Stimmen ungehört, ihr Leben verloren«, stellt Schaalburg in ihrem Comic bedauernd fest. Dieses Eingeständnis hat in seiner Gültigkeit für so viele von den Nazis ermordete Menschen etwas Universelles und entwickelt gerade darin seine Wirkung.
Parallel recherchiert die Berlinerin der Geschichte ihres Großvaters hinterher. Ein Foto zeigt ihn vor einer Holzbaracke in der Nähe von Riga. Und natürlich keimt sofort die Frage auf, ob er sich als Mitglied der Wehrmacht an den Verbrechen in Osteuropa beteiligt hat. In Schleifen nähert sie sich den möglichen Antworten auf diese Frage. Wie Nora Krug in ihrem »Heimat«-Familienalbum versucht sich Schaalburg mithilfe historischer Nacherzählungen, weitergereichten Erinnerungen, historischen Recherchen, Mutmaßungen und Zweifeln den historischen Tatsachen zu nähern. Und wenn sie auch keine eindeutige Antwort findet, so ist sie sich sicher, »dass man in Riga nicht leben konnte, ohne mitzubekommen, welch furchtbare Dinge dort geschehen. Dinge, die jegliche menschliche Vorstellung von Grauen übertreffen.« Der Großvater selbst sprach nie darüber, er starb als verbitterter Mann in den fünfziger Jahren. Als seine Tochter Edda, Bianca Schaalburgs Mutter, in den Sechzigern ihre Mutter fragt, was Heinrich in Riga gemacht hat, erhält sie keine Antwort.
Dieses grafische Memoir erzählt auch von den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren und ihrer Prägung, vom Wirtschaftswunder und den Studentenbewegungen, aber im Kern geht es darum, welche Schuld die eigenen Vorfahren am Tod von drei jüdischen Bürger:innen tragen und warum sie das Wüten der Nazis schweigsam hingenommen haben. Schaalburg erzählt das vorsichtig tastend, aber niemals zögerlich. Sie scheut nicht die Wahrheit, weil ein Umgang mit ihr leichter ist als ein Leben mit der Ungewissheit. In der Rekonstruktion der historischen Erzählung nutzt sie alle zur Verfügung stehenden Mittel. Architektur, Mode, Habitus und wie sie sich im Laufe der Zeit ändern, all das zeichnet sie detailliert nach. Sie wechselt souverän zwischen den Zeiten und verschränkt sie, wo es sinnvoll ist – was zuweilen an Dominik Grafs Verfilmung von Kästners »Fabian«-Roman erinnert. Sie zeigt, wie jede:r Einzelne Teil von dem wird, was man Geschichte nennt. Auf diese Weise macht sie Geschichte konkret erfahrbar.
»Der Duft der Kiefern« ist ein mutiges Familienalbum, ein lebendiges Berlin-Handbuch und ein aufschlussreicher Geschichtsband in einem. Gewidmet ist der Comic ihren Kindern, »denn ihr seid das Leben, und ihr seid die Hoffnung«. Bleibt zu hoffen, dass die Generation ihrer Kinder diesen Band liest, um daraus ihre Lehren zu ziehen. Geeignet für die private oder schulische Lektüre ist er allemal.