Matthias Fersterer ist einer von drei Übersetzer:innen hinter der preisgekrönten Übersetzung von Ursula K. Le Guins Opus Magnum »Immer nach Hause«. Er hat außerdem Essays der amerikanischen Autorin herausgegeben, gerade ist seine Übertragung ihrer Odyssee-Variation »Lavinia« erschienen. Le Guin hat in seinen Augen die Grenzen des Phantastischen erweitert und stets aus einer Perspektive des Mehr-als-Menschlichen geschrieben.
Wie sind Sie auf Ursula K. Le Guin und ihr Werk gestoßen?
Werk und Autorin haben mich buchstäblich gerufen. In einer dunklen und stürmischen Nacht im Herbst 2017 habe ich, einer Intuition und einer Kindheitserinnerung nachgehend, folgende Anfrage in eine Online-Suchmaschine getippt: »US-amerikanische SF-Autorin mit französischem Namen«. So landete ich in Sekundenschnelle bei Ursula K. Le Guin, auch wenn die Erinnerung aus meiner Kindheit sich auf eine ganz andere Autorin bezogen hatte. Als erstes entdeckte ich ihre Essays, ihre mutige Rede zum National Book Award 2014 und ihren großen utopischen Roman »Immer nach Hause«. Augenblicklich fühlte ich mich ihrem Denken und Schreiben derart verbunden, dass ich mir dachte: Wow – warum entdecke ich das erst jetzt?! Als Übersetzer und Verleger war es für mich naheliegend, damit anzufangen, Texte von Le Guin zu übersetzen. Daraus ging die 2020 erschienene Essaysammlung »Am Anfang war der Beutel« hervor.

Wie kam es denn zur gemeinschaftlichen Übersetzung von »Immer nach Hause«?
Über den Kontakt zu Le Guins Sohn und Nachlassverwalter Theo Downs-Le Guin lernte ich wenig später den mutigen Verleger Hannes Riffel, die Übersetzerin Karen Nölle und den Übersetzer Helmut W. Pesch kennen. Alle vier hatten wir schon unterschiedlich lange den Wunsch gehegt, Le Guins Opus Magnum »Immer nach Hause« einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen. Und so konnte dieser so umfangreiche wie inspirierende Wälzer 2023, fast vierzig Jahre nach der englischsprachigen Erstveröffentlichung, tatsächlich im neu gegründeten Carcosa Verlag endlich auf Deutsch erscheinen. Der jahrelange Einsatz und das Herzblut aller Beteiligten, nicht zu vergessen der Typograph und verlegerische Kompagnon Hardy Kettlitz, in Verbindung mit einem großzügigen Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds haben es möglich gemacht. Dass sowohl der Roman als auch unsere Übersetzung 2024 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet wurden, freut mich natürlich. Ich bin sehr dankbar dafür, so arbeiten zu dürfen!
Warum faszinieren Le Guins Texte bis heute die Leser:innen?
Sie erweitern unseren Möglichkeitssinn hin zu der Erkenntnis, dass gesellschaftliche Konventionen und Sozialbeziehungen keineswegs genau so sein müssen, wie wir sie heute gewohnt sind, und Machthierarchien alles andere als zwangsläufig sind: Alles könnte auch ganz anders sein! Diese kulturrelativistische Einsicht, die auch anthropologisch-archäologische Literatur wie etwa »Anfänge« von David Graeber und David Wengrow auszeichnet, steht im Mittelpunkt von Le Guins Werk. Dabei geht es aber nicht nur darum, Gesellschaft »irgendwie«, anders zu denken, sondern in einem Sinn, der das »gute Leben alle« – oder eben dessen Abwesenheit – in den Blick nimmt. Die Welten, die Le Guin, erdacht und gebaut hat, sind nicht beliebig, sondern fußen auf anthropologischer Beobachtung, fast möchte ich sagen: Sie sind, wenngleich fiktiv, in einem menschheitsgeschichtlich Sinn »wahr«.

Wie hat Ursula K. Le Guin die Science Fiction beeinflusst und verändert? Was ist ihr zentraler Beitrag zum Genre?
Sie hat die Science Fiction in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts enorm geprägt. Das ganze »Star Trek«-Universum ist inspiriert durch Le Guins Hainish-Zyklus mit dem Weltenbund »Ekumen«. Gene Roddenberry hat sich Zeit seines Lebens vor ihr verneigt. Und auch die Grundprämisse der erfolgreichen Filmreihe »Avatar« wurde leider auf eine sehr freche, platte und sinnverstellende Weise aus Le Guins Roman »Das Wort für Welt ist Wald« geklaut. Das lässt sich nicht beschönigen. Ursula K. Le Guin war empört über diese Dreistigkeit und sicher auch darüber, dass die Botschaft im Blockbuster ins glatte Gegenteil verkehrt wurde. Aus Le Guins Roman, mit dem sie seinerzeit wutentbrannt gegen den Vietnamkrieg angeschrieben hatte, wurde auf der Kinoleinwand eine konventionelle Heldengeschichte.
Le Guin hat soziale Gerechtigkeit, Anarchismus, Subsistenz, daoistische Philosophie, scharfe Kapitalismuskritik und, bereits relativ früh, Genderthemen in die SF-Literatur eingeführt, ohne dabei je dogmatisch zu sein oder dröge Thesenromane zu schreiben – ganz im Gegenteil! Als ungeheuer kluge und neugierige Person hat sie sich selbst zeitlebens neue Themen und Fragestellungen erschlossen. An ihren Erkenntnissen und offenen Fragen lässt sie uns als die Lesenden teilhaben. In diesem Sinn betrachte ich sie auch als Lehrerin, von der ich posthum noch sehr viel lernen darf. Dass ihr Werk gerade eine derartige Renaissance erlebt und nicht nur von jüngeren Generationen an Lesenden neu entdeckt wird, sondern nun auch in akademischen Kontexten gebührend wahrgenommen wird, freut mich ungemein!

Was macht Le Guin aus Ihrer Sicht zu einer literarischen Vordenkerin der Gegenwart?
Le Guin hat stets aus einer Perspektive des Mehr-als-Menschlichen geschrieben, wie der Philosoph David Abram das in seinem Buch »Im Bann der sinnlichen Natur« nennt: Menschen galten ihr nie als Krone der Evolution, menschliche Rationalität nie als einzig relevanter Maßstab. Ganz anders als in westlichen, patriarchal geprägten Denktraditionen – in der »Mensch« leider bis heute noch oft mit weißen, westlichen Männern gleichgesetzt wird –, betrachtete sie uns als eingebetteten Teil einer großen Gemeinschaft von »Leuten«, zu der sie nicht nur Tiere und Pflanzen zählte, sondern auch Landschaften, Flüsse, Steine, Wetterphänomene, Regenbögen usw. All diese Leute sind bei Le Guin mit Sprache, Gefühl und Bewusstsein begabt.
Am konsequentesten hat sie das in ihrem Roman »Immer nach Hause« und in dem Essay »Weithin verwandt« (in: »Am Anfang war der Beutel«) durchgespielt. Interessant und wegweisend ist auch, dass Le Guins Figuren in aller Regel nicht »weiß« sind. Darum machte sie aber nie großes Aufheben. Wir lernen etwa die Charaktere in »Erdsee« kennen und lieben und erfahren erst irgendwo nach Seite 50 eher beiläufig, dass weiße Hautfarbe als abnormale Besonderheit gilt, die in dieser Welt nur auf einem kleinen, abgelegen Inselreich auftritt und, ganz anders als bei uns, keineswegs mit Dominanz über andere Leute verknüpft ist. Das finde ich eine für die Zeit der 1960er Jahre sehr couragierte und heute noch geniale antirassistische Denkbewegung.
Ursula K. le Guin – Romane, Erzählung- und Essaybände











Wie erklären Sie es sich, dass ihr Werk so souverän zwischen den Genres schwimmt?
Le Guin scherte sich nicht um Genrekonventionen und -grenzen. Sie war enorm neugierig und hat die Grenzen des Phantastischen stets erweitert. Sie selbst bezeichnete sich meist als Autorin Spekulativer Fiktion, dazu zählte sich auch (pseudo-)historische Romane wie Lavinia, der im spätbronzezeitlichem Latium spielt, oder ihren »Orsinien«-Zyklus, in dem sie von den wechselhaften Geschicken eines fiktiven osteuropäisches Landes erzählt. Oder in sogenannter realistischer Literatur wie etwa der Familiengeschichte des fiktiven Küstenstädtchens »Searod« (in deutscher Übersetzung: »Die Regenfrau«) an der US-amerikanischen Pazifikküste. Bei Preisverleihungen und ähnlichen Anlässen warb sie stets dafür, Literatur nicht in Genreschubladen einzusortieren, und kulturchauvinistische Konzepte wie das, was im Deutschen Literaturbetrieb als Unterhaltungs- und Erbauungsliteratur bezeichnet wird, über Bord zu werfen. Für sie gab es nur gute und schlechte Literatur. Punkt.
Wo würden Sie »Lavinia« in Le Guin Werk einordnen?
»Lavinia« nimmt in der Tat einen besonderen Platz in Le Guins Werk ein. 2008 im Original erschienen ist es ihr letzter Roman. Er spielt zwar auch in einer fernen Welt, aber eben nicht in der Zukunft oder auf einem anderen Planeten, sondern in der fernen Vergangenheit des spätbronzezeitlichen Latiums. Natürlich ist das nicht weniger fiktiv oder spekulativ, als die anderen Szenarien, die sie durch meisterlichen Weltenbau entwarf. Der Roman basiert auf den letzten sechs Büchern von Vergils »Aeneis«. Ursprünglich hegte Le Guin den Wunsch dieses epische Gedicht aus dem Lateinischen ins Englische zu übersetzen, musste dann aber erkennen, dass sie Reichtum und Schönheit von Vergils Sprache nicht ins Hier und Jetzt herüberholen konnte. Also entschied sie sich für eine Übersetzung in eine andere Form, die des Romans. Dass sie dabei die Königstochter Lavinia zur selbstbewusst handelnden Erzählerin gemacht hat, ist wiederum ein genialer Kunstgriff. Bei Vergil hat Lavinia als Nebenfigur nicht einmal eine Sprechrolle, sondern blieb als »Brautpreis« für den trojanischen Helden Aeneas seltsam blaß.

Bei Le Guin hingegen nimmt Lavinia ihr Schicksal selbst in die Hand. Auch in anderer Hinsicht ist Le Guins letzter Roman, den ich nun erstmals ins Deutsche übersetzen durfte, ungemein zeitgemäß: Bootsflüchtlinge, die vor Krieg und Zerstörung aus dem Nahen Osten übers Mittelmeer fliehen, gelangen nach beschwerlicher Reise an die Küste Europas und suchen Asyl. Ein selbstgefälliger Demagoge hetzt das Volk gegen die Fremdlinge auf, und schnell herrscht Einigkeit: Es muss Krieg geben. Klingt das nicht auf geradezu unheimliche Weise bekannt und gegenwärtig? Le Guins meisterlicher Roman ist für mich vor allem eine große Erzählung über die Bedingungen friedlichen Miteinanders in kriegerischen Zeiten. Zudem enthält er ein berührende Liebesgeschichte, die der patriarchalen Tragödie von Dido und Aeneas etwas entgegenstellt: Tiefe Verbundenheit zwischen zwei Menschen über den Tod hinaus, inklusive Trauerbewältigung und Befriedung aufgehetzter Kriegsparteien. Ich meine, das könnte uns heute viel zu sagen haben.
The Word for Worlds. The Maps of Ursula K. Le Guin

Wenn Ursula K. Le Guin eine neue Geschichte schrieb, begann sie mit dem Zeichnen einer Karte. Die Londoner Ausstellung »The Word for World: The Maps of Ursula K. Le Guin« präsentiert eine Auswahl dieser Zeichnungen und Karten, von denen viele noch nie zuvor öffentlich gezeigt wurden. Sie belegen, wie sie ihre imaginären Welten geografisch angelegt hat, um Denk- und Konstruktionsfehler zu vermeiden. Sie bieten Bewusstseinsreisen jenseits der konventionellen Kartografie, von den Archipelen von »Erdsee« über ihre Planetenwelten bis zu den talismanischen Karten von »Immer nach Hause«. Außerdem zeigt die Ausstellung Le Guins Originalkunstwerke und bisher unveröffentlichte persönliche Archivstücke.
Inwiefern ist das Werk von Le Guin ein Gesamtkunstwerk?
Durch Le Guins Werk ziehen sich viele rote Fäden: Die Subsistenz, also der Blick auf das, wovon die Menschen wirklich leben – Land- und Gartenbau, Fürsorge, soziales Miteinander – hat Le Guin als Thema seit den frühen 1980er Jahren stark beschäftigt, etwa auch in »Tehanu«, dem vierten Band ihrer »Erdsee«-Reihe, der einen völlig anderen Blick auf eine altbekannte Welt wirft. Ein anderes Thema sind Liebesbeziehungen auf Augenhöhe zwischen Menschen gleich welchen Geschlechts: Besonders zu erwähnen ist hier etwa der Roman »Die Überlieferung«, der in meisterhafter Neuübersetzung meiner Kollegin Karen Nölle vorliegt. Le Guin wirft stets einen anthropologischen Blick auf Themen und Welten, sei es in ihren Romanen, Erzählungen, Essays oder Gedichten. Und alle, die schon einmal kulturanthropologisch gearbeitet haben, wissen: Die Wirklichkeit ist nie ein für allemal festgeschrieben – es könnte stets auch anders sein. Darin liegt ein starkes emanzipatorisches und selbstermächtigendes Moment. In dieser Perspektive können Menschen angesichts kollabierender Systeme Orientierung finden, und darin schimmern Wege auf, wie wir dem Einbruch von Unbekanntem möglichst aufgeschlossen, neugierig und angstfrei begegnen können. Das ist für mich ein Grund, warum sich Le Guins Werk gerade heute, in diesen prekären Zeiten steigenden Interesses erfreut.

Als Übersetzer sind sie nah am Rohstoff, der Sprache. Gibt es so etwas wie eine dezidiert eigenen sprachliche Handschrift?
Seit den frühen 1980er Jahren, also in jener Phase, die ich als die feministische und subsistente Wende in Le Guins Werk bezeichnen würde, wurde ihre Sprache karger, lakonischer und schlanker, orientierte sich stärker an mündlichen Erzählformen und sparte zunehmend das Fette, Blumige, Elaborierte aus, das oft kennzeichnend für Romanform ist. Ihre Literatur ist zwar ungebrochen meisterlich konstruiert, ihre Sprache wurde jedoch immer »beuteliger«. Die theoretische Grundlage dafür legte sie in ihrer »Tragetaschentheorie des Erzählens«, in der sie sich weg von der einseitigen »Heldenerzählung«, hin zu multiperspektivischen »Lebenserzählungen« oder eben »Beutelgeschichten« bewegte. Diese Sprache angemessen ins Deutsche mit seinen ganz anderen syntaktischen und semantischen Gegebenheiten zu bringen, ist eine herausfordernde, aber auch beglückende Arbeit.
Ursula K. Le Guin in der Übersetzung von Matthias Fersterer



Was sind die besonderen Herausforderungen beim Übersetzen von Le Guins Werk?
Das ist zum einen die »beutelige« Sprache, in der sich geschliffene Formulierungen und Umgangssprache, ausführliche Alltagsbeschreibungen und manchmal überraschende Assoziationen zu einem großen Ganzen verbinden, das wie ein unbegradigter Fluss lebendig durch die Landschaft mäandert. Zum anderen ist das die die Fülle an Themen und Fachgebieten, an natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Feldern, in denen Le Guin sich selbst als lebenslang Lernende bewegte. Als Übersetzer muss ich ihr in all die Bereiche, die sie sich aneignete, folgen und darf dabei unendlich viel lernen. Sie ist, wie meine Kollegin Karen Nölle gern sagt, »äußerst gute Gesellschaft«.
Haben Sie einen Lieblingstext von ihr?
Einer reicht leider nicht: Das ist zum Einen »Immer nach Hause«, in dem das Spektrum der Romanform experimentell erweitert und die Möglichkeiten guten, gleichwürdigen, erdverbundenen Lebens beinah sinnlich erfahrbar wird; bei den Essays ist es im Moment ein Text, der im Anhang dieses große Romans enthalten ist: »Legenden für eine Neues Land«. Darin stellt Le Guin inspirierende postkoloniale Überlegungen an und drückt ihre Verbundenheit mit Native Americans aus, mit denen sie, die in einem Anthroplogenhaushalt aufwuchs, von Kindheit an befreundet war. Und dann ist es immer auch der Text, an dem ich gerade arbeite, derzeit also: »Lavinia«.

