Christiane Scherer alias Thea Dorn hat sich als erste Frau an den Faust-Mythos gewagt. »Die Unglückseligen« ist ein grandioser Wissenschafts- und Kulturroman, in dem weder Wissenschaft, Philosophie noch Poesie ein Mittel gegen Schmerz und Endlichkeit finden. Beim Schreiben hat es »Deutschlands brutalste Schreiberin« allerdings selbst mit der Angst zu tun bekommen.
Die Faust-Legende ist der Urstoff der deutschen Literatur. Beileibe hat sich nicht nur Goethe dem Mythos zugewandt, aber mit der Aussage seines Dr. Faustus, »dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält«, hat er jenen Schulmeister zum Prototypen des nach Erkenntnis strebenden Menschen gemacht.
Der literarischen Aneignungen dieses Stoffes gibt es einige, Autorinnen aber sind rar unter jenen, die mit diesem zentralen deutschen Mythos gerungen haben. Muss man ein übersteigertes Männerego haben, um Dr. Johann Faust und Mephisto zu bändigen? Diese Frage hat sich Thea Dorn immer dann gestellt, wenn die Zweifel kamen. »Ich hielt es bei diesem Buch für möglich, dass ich es nicht zu Ende bringen könnte. Dieses Gefühl hatte ich bei meinen anderen Büchern nie«, räumt sie im Gespräch zum Roman ein. »In den schlimmsten Momenten habe ich mich bei dem Gedanken ertappt, dass es schon einen Grund haben wird, warum sich – abgesehen von Dorothy Sayers (in den 1930er Jahren, A.d.A.) – bislang noch keine Schriftstellerin an den Faust-Stoff herangewagt hat.«
Ende letzten Jahres wusste sie, dass sie es schaffen würde. Da hatte die Berliner Autorin bereits mehr als anderthalb Jahre zurückgezogen an ihrem Faust-Roman geschrieben. Seit Februar liegt Die Unglückseligen in den Buchläden – es ist einer der wagemutigsten deutschen Romane seit Jahren. Mit hohem stilistischem Aufwand hebt Dorn darin die Geschichte von Dr. Fausts Scheitern sprachgewandt und experimentierfreudig in die Gegenwart.
Schriftsteller griffen jahrhundertelang bei epochalen Umbrüchen zum Faust-Mythos, zuletzt verstaubte er unangetastet in den Schubladen der deutschen Literatur. Für Dorn ist die Zeit für einen neuen Faust-Roman gekommen. »Sollte der biotechnologische Fortschritt, dessen rasante Beschleunigung wir seit ein paar Jahrzehnten erleben, ungebrochen weitergehen, dürfte dies den Übergang zu einer Epoche der grenzenlosen menschlichen Selbstherrlichkeit markieren. Ich bezweifle, dass ich diese Epoche noch miterleben möchte.«
Im Mittelpunkt ihres Wissenschafts- und Kulturthrillers steht die durch und durch aufgeklärte Neurobiologin Johanna Mawet, die die Menschheit von Krankheit, Alter und Tod befreien. Ihr Lebensprojekt besteht darin, »sämtlichen Zellen im menschlichen Organismus Regenerationskräfte zu verleihen, die weit über das natürliche Maß hinausgingen, damit zugleich die Zellalterung abzuschaffen und also den Weg zur Unsterblichkeit zu ebnen.« Gelänge es ihr, die Wundergene der resistenten Zebrafische »in den menschlichen Stammbaum einzuschleusen«, würde sie das Tor zur Unendlichkeit weit aufstoßen.
Dieses scheint Johann Wilhelm Ritter längst durchschritten zu haben. Der zweihundertvierzigjährige (kein Witz!) Universalgelehrte, ein Zeitgenosse von Brentano, Humboldt, Schlegel und Goethe, hat er in abenteuerlichen Selbstexperimenten – die Mawet später am eigenen Leib nachstellt – nach dem Element gesucht, das die Welt im Innersten zusammenhält. Dass er bei der Suche nach dem Kern des großen Ganzen zufällig die Grundlagen der Elektrochemie gelegt hat, gehört zu den kleinen Ironien dieses großen Romans.
Darin läuft der vergessene Frühromantiker der jungen Wissenschaftlerin vor die Motorhaube. Mawet vermutet zunächst, sie habe es mit einem Geisteskranken zu tun. Schnell stellt sie aber fest, dass dieser aus der Zeit gefallene Kauz ein Geheimnis in sich trägt, dass ihr bei der Suche nach dem ewigen Leben hilfreich sein könnte. Was folgt, ist ein aufopferungsvolles, höchst unterhaltsames und von einem allzu bekannten Unbekannten präsentiertes Ringen um die letzten Wahrheiten, bei dem Mawets »Erbsenzählerei« der Humangenetik ebenso ad absurdum geführt wird wie Ritters »Windbeuteleien« der Alchemie. Und während sich Mawet an Ritters esoterischer Naturphilosophie abarbeitet und Ritter sich über das blinde »Professionistentum« seiner Verwandten im Geiste echauffiert, wird dem Leser der Spiegel ob des vermeintlichen Fortschritts des Menschen vorgehalten. »Blinder als die Blinden, tauber als die Tauben, fühlloser als die Gelähmten tappt ihr durch eure schönen neuen Welten hin!«
Dazwischen lesen wir die sarkastischen Einwürfe eines »armen Teufels, der an der Menschheit einen Narren gefressen hat«, wie es im Roman heißt. Das besondere daran ist dessen Ton, der ebenso aus der Zeit gefallen wie zeitlos ist. »O Ritter, o Ritter, was trutzt du der Zeit? Wanderst ruhlos hieniden, und das Grab ist so weit.« Natürlich hat sich Dorn gefragt, ob sie sich nicht lächerlich mache, wenn sie in einem Gegenwartsroman den Teufel auftreten lässt. Ihre Antwort ist eine kongeniale Mephisto-Figur, kein Hirngespinst, sondern rebellierender Gottessohn, in dem sie griechische und christliche Mythologie zusammenführt.
Die Unglückseligen ist ein grandioser Wissenschafts- und Kulturroman, in dem weder Wissenschaft, Philosophie noch Poesie ein Mittel gegen Schmerz und Endlichkeit finden. Thea Dorn führt den Fauststoff erzählerisch kühn und sprachlich brillant aus der deutschen Romantik in die Gegenwart des globalisierten Wissenschaftswettlaufs, in dessen Mahlwerk ihre beiden Hauptfiguren dem Wahnsinn anheimfallen. Sie mixt die Altsprachen mit dem antiquierten Deutsch ihrer unsterblichen Faustfigur und dem internationalen Kauderwelsch ihres verbissenen Wissenschaftsgretchens, und setzt, wie die Romantiker, konsequent auf stilistische Vielfalt. Comiczeichnungen findet man hier ebenso wie historische Fragmente oder wissenschaftliche Analysen. So wagemutig, weise und vergnüglich war deutsche Hochliteratur schon lange nicht mehr!
Nach etlichen preisgekrönten Krimis vollzieht Dorn mit diesem großen Roman, den man für den Deutschen Buchpreis auf dem Schirm haben sollte, entschlossen den Wechsel aus der Genre- in die Hochliteratur, nachdem sie zuvor mit Richard Wagner in Die deutsche Seele hervorragend der deutschen Kultur nachgegangen ist. Einigen Kulturwächtern im Feuilleton scheint dieser Schritt ein Dorn im Auge. Da werden reflexartig vermeintlich klappernde Jamben moniert oder hilflos die Länge des Romans von gerade einmal 552 Seiten kritisiert. Vor allem Letzteres lächerlich angesichts der aktuellen Wälzer etwa von Thomas Glavinic (748 Seiten), dem Gewinner des Deutschen Buchpreises Frank Witzel (817), von Möchtegern-Preisträger Maxim Biller (893) oder dem Leipziger Buchpreisgewinner Guntram Vesper (1008) – offenbar darf Mann mehr schreiben als Frau. Geschmäcklerisch werden die kühne und mitunter absurde Erzählweise sowie die zahlreichen Kunstgriffe mit Text(satz) und Sprache eilfertig abgetan, ignorierend, dass avancierte Erfolgsserien wie Breaking Bad wegen solch erzählerischer Clous reüssieren, wie man es sich für ein Buch nur wünschen kann.
Den Beißreflex des Feuilletons versucht sich Dorn weitgehend vom Leib zu halten, nicht ohne sich der aufgezwungenen Schizophrenie bewusst zu sein. »Als Schriftsteller muss man äußerst dünnhäutig sein, alles an sich ranlassen – sonst kann man nicht schreiben. Um dann aber zu ertragen, was passiert, sobald ein Buch draußen ist, braucht man ein äußerst dickes Fell, sonst wird man verrückt.«
[…] Dorn hat mit ihrem Roman »Die Unglückseligen« (hier unsere Besprechung) einen fulminanten Wissenschaftsroman geschrieben, mit dem sie den Fauststoff in die Gegenwart hebt. […]