Birgit Weyhe hat mit ihren Comics schon viele verdrängte Geschichten an die Oberfläche geholt. In ihrer neuen Arbeit erzählt sie von zwei Frauen, die ihren Kampf gegen Diktatur und Gewalt mit dem größtmöglichen Preis bezahlt haben.
Die Hamburgerin Birgit Weyhe ist eine der einflussreichsten und erfolgreichsten Comickünstlerinnen des Landes, auch weil es ihr immer wieder gelingt, in ihren außergewöhnlichen, oft historischen Geschichten aktuelle gesellschaftspolitische Themen anzusprechen. In »Madgermanes« hat sich sich mit dem Schicksal der mosambikanischen Gastarbeiter in der DDR auseinandergesetzt, in »Rude Girl« mit Fragen von Rassismus und kultureller Aneignung am Beispiel einer amerikanischen Germanistik-Professorin mit karibischen Wurzeln und in dem Gemeinschaftsprojekt »Wie geht es Dir« um die Folgen des 7. Oktober. Als erste Comicschaffende überhaupt war sie für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Ihre aktuelle Arbeit »Schweigen« ist in meinen Augen das beste deutschsprachige Comic der Saison. Darin erzählt sie die Geschichten von zwei Frauen, die das Schicksal im 20. Jahrhundert nach Argentinien führt. Die Jüdin Ellen Marx flieht 1939 vor den Nazis nach Argentinien, gut 30 Jahre später verschwindet ihre Tochter spurlos, während die faschistische Militärjunta das Land übernimmt. Während der argentinischen Militärdiktatur verschwindet auch die Theologentochter Elisabeth Käsemann, die sich als Studentin in den 70er Jahren politisch in dem Land engagiert.
Ellen Marx zumindest ist nicht ganz unbekannt, der Jurist und Menschenrechtler Wolfgang Kaleck hat in seinem Buch »Mit Recht gegen die Macht« über seine Freundschaft mit ihr geschrieben. Darin beschreibt er sie als »eine der klügsten und stärksten Frauen, denen ich je begegnet bin«. Sie machte Kaleck auf das Verschwinden ihrer Tochter aufmerksam, um ihn zu gewinnen, in Deutschland Klage gegen de argentinischen Militärs zu erheben.
Weyhe erzählt die Geschichten von Leonor Marx und Elisabeth Käsemann im Wechsel nebeneinander. Zwischen die einzelnen biografischen Rekonstruktionen fügt sie immer wieder kurze Kapitel ein, in denen sie die politischen Verhältnisse und Hintergründe erklärt. Im Mittelpunkt ihres Sachcomics stehen zentrale Fragen der Erinnerungskultur, es geht um Wahrheitsfindung, Aussöhnung und Zukunftsbildung, aber auch um die stille Diplomatie und ihren hohen Preis.
Denn die deutsche Politik interessierte sich wenig für die Verbrechen der argentinischen Faschisten. Vielmehr arbeitete man an besseren diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Nach dem Militärputsch explodierten die deutschen Exporte (darunter viele militärische Güter) und Investitionen in Argentinien, deutsche Unternehmen stampften Fabriken aus dem Boden, in denen Arbeitnehmerrechte mit den Füßen getreten werden konnten. »Wer Lohnerhöhungen und Arbeitsschutzmaßnahmen forderte, galt dem Militär als Staatsfeind und wurde liquidiert. Allein im argentinischen Werk von Mercedes-Benz »verschwanden« unter Mithilfe der Geschäftsführung vierzehn Gewerkschafter. Unter den während der Militärdiktatur liquidierten Menschen waren auch die Kinder von deutschen Juden, die wenige Jahrzehnte zuvor Hitler und seinen Schergen entkommen waren. Ein Kapitel in der deutschen Geschichte, über das bis heute großzügig geschwiegen wird.
Das titelgebende »Schweigen« steht in dieser Erzählung oft zwischen den gesellschaftlichen Brüchen, legt sich wie ein dunkler Schatten über die Vergangenheit, um eine Zukunft zu ermöglichen. Wie belastbar kann diese aber sein, wenn die verübten Verbrechen nicht aufgeklärt und strafrechtlich verfolgt werden? Wenn aus politischem Kalkül das kollektive Wegsehen zur politischen Doktrin erhoben und damit das Schicksal der Opfer in Zweifel gezogen wird? Diese Fragen wirft Weyhe in ihrem neuen Comic erzählerisch, aber auch künstlerisch fesselnd auf.
Das künstlerische Werk von Birgit Weyhe









Wie schon in anderen Alben arbeitet sie auch hier mit Überblendungen und Überschreibungen, die Schatten der Vergangenheit greifen hier auch visuell auf die Konturen der Gegenwart über. Ihre symbolisch und metaphorisch aufgeladenen Bilder entwickeln so eine ganz eigene Kraft, die immer tiefer in diese düstere Geschichte führt und so Licht ins Dunkel der viel verschwiegenen Vergangenheit bringt. »Schweigen« ist eine augenöffnende Erzählung, die von der Notwendigkeit des Stillhaltens in Zeiten der Repression, aber auch von den fatalen Folgen des Schweigens in und nach finsteren Zeiten handelt.
Schweigen, so versteht man hier, ist eine ohrenbetäubende Stille, hinter der ein beständiger Lärm tobt. Wenn wir uns mit diesem Lärm nicht auseinandersetzen, werden wir keinen Frieden finden.