Comic, Interviews & Porträts

»Auf lange Sicht gibt es nur noch Physik«

Der Berliner Zeichner Jens Harder hat den dritten von vier Bänden seiner Erdgeschichte abgeschlossen. In »Beta… Visions Volume II« führt sein Bilderkanon aus der Antike in die Gegenwart. Ein Gespräch über schwierige Bildquellen, riesige Archive und persönliche Akzente.

Jens, je mehr Du Dich der Gegenwart näherst, desto mehr überlieferte Bildquellen gibt es. Wie bist Du bei der Auswahl vorgegangen?
Die Schwierigkeit, eine stimmige Entscheidung zu finden, nahm von Zeitalter zu Zeitalter natürlich immer weiter zu. Wenn ich bei einem speziellen Thema in der Antike beispielsweise zwischen zehn Motiven auszuwählen hatte, waren es in der frühen Neuzeit vielleicht schon hundert und am Ende des Buches viele Tausend. Zum Glück hatte ich meine Bildrecherche aber über die Jahre immer besser strukturiert und immer weiter digitalisiert und konnte somit in relativ überschaubarer Zeit durch meine Sammlung und entsprechende Fundstücke im Netz navigieren.

Wie kann ich mir das vorstellen?
Nach dem Sondieren destillierte ich aus einer engeren Wahl das »Muss« und das »Kann« und baute damit provisorische Seiten zum aktuellen Kapitel, die nach Tagen oder manchmal Wochen noch ihre Gültigkeit zu beweisen hatten (was sehr selten vorkam) oder wieder und wieder überarbeitet wurden (was der Normalfall war), bis eine hinlänglich überzeugende Komposition übrig blieb, die ich dann ganz am Ende des Prozesses reinzeichnen konnte.
Welche Anforderungen musste ein Bild erfüllen, um in den Comic zu gelangen?
Wichtig waren mir nicht nur eine gewisse Repräsentabilität und Wiedererkennbarkeit, sondern im Gegensatz dazu auch Irritation, Brechung oder Überraschung in Bezug auf die Themenstellung. Es gab aber auch simplere Entscheidungsoptionen, die zum Beispiel dem Seitenaufbau oder dem Erzählfluss zu dienen hatten. So musste ein letztes Bild auf einer Seite ja immer wie ein fehlendes Puzzle eingepasst werden. Es musste das richtige Format – hoch, quer oder quadratisch – haben und immer von links nach rechts lesbar sein – also zur Not auch gespiegelt verwendbar sein. Manchmal musste es eine von mir zu erzielende Dynamik oder Bewegung innerhalb der Sequenz unterstützen, im Idealfall sogar für eine in der Theorie sehr wünschenswerte, aber in der Realität leider unerreichbare gewisse quantitative Ausgeglichenheit zwischen verschiedenen Zeiten, Kulturkreisen, Kontexten, Stilen, medialen Quellen und so weiter sorgen.

Jens Harder in seinem Berliner Atelier | Foto: Thomas Hummitzsch

Wie hat sich diese Arbeit im Laufe der im Comic vorschreitenden Zeit verändert?
Allgemein gesagt verschob sich die Recherchearbeit vom Beginn zum Ende des Buches immer weiter vom Erarbeiten und Nachvollziehen lang zurückliegender, mehr oder weniger bekannter Ereignisse und deren adäquater Visualisierung hin zu einem angemessenen Umgang mit sehr komplexen und erst wenige Jahre zurückliegenden mehr oder weniger bekannten Ereignissen, die ich einerseits kaum in ihrer Tragweite erkennen oder bemessen konnte, die mich aber andererseits mit einer Flut an Bildmaterial und Informationen – teils ideologisch gefärbt oder gar irreführend – konfrontierten.

Du sprichst im Nachwort von Deinem »ganz spezifischen Umgang« mit Bildern und Klischees? Wie würdest Du diesen Umgang beschreiben?
Ich wollte bei der Bebilderung eines Zusammenhangs immer den Spagat schaffen zwischen einzulösender Erwartungshaltung und der Vermeidung von Langeweile durch erneutes Aufkochen von allzu bekanntem Material. Ich wollte einerseits eine hohe Wiedererkennbarkeit gewährleisten, also viele Bildikonen und damit auch visuelle Klischees bemühen, andererseits aber auch überraschen, die gewohnte Sichtweise weiten oder gar brechen. Das hieß letztlich, Klischees zu vermeiden oder zu umgehen, indem ich unbekannte Bilder zitierte – auch auf die Gefahr hin, nicht »richtig« gelesen oder verstanden zu werden.

Jens Harder: Beta… civilisations II. Carlsen Verlag 2022. 368. Seiten. 50,- Euro. Hier bestellen.

Die vergangenen zweitausend Jahre sind geprägt vom Eroberungswillen der Menschheit, von Gewalt und Ideologie. Wie bildet man das kritisch ab?
Tja – Kriege und Gemetzel oder gar Folterszenen gab schon in großer Zahl, die wollte ich auch nicht verschweigen oder verharmlosen. Aber ich hatte dabei immer die Freiheit, sie aufzufangen, einzuordnen oder zu kommentieren, teils auch lächerlich zu machen. So sah ich mich zwar genötigt, einige sehr bekannte Bilder zum Aufstieg des Nationalsozialismus im Hitler-Deutschland zu zeigen – wie fanatisierten Massen mit erhobenem Arm oder Hitler während seiner Parteitagsrede vor eine Menschenmenge, die eher einem wogenden Kornfeld als einer Ansammlung menschlicher Individuen glich. Zum einen, weil diese Bilder das Wesen der Machtergreifung und die dabei vollzogene Überwältigung der Massen am besten transportierten, zum anderen, weil die Propaganda-Maschinerie sie ja selbst produzierte und erfolgreich nutzte; sie waren quasi Mittel und Zweck. Im Gegensatz dazu machte es mir auch ein Riesenvergnügen, diese aus dem Selbstverständnis der Nazis heraus generierten Darstellungen gebührend zu konterkarieren, etwa indem ich »Führer«-Karikaturen zeigte wie den geifernden, fast schon geisteskrank wirkenden Hitler in einem Panel von Fufu Frauenwahl aus »Captain Berlin« oder indem ich relativ unbekannte Fotos der Nazi-Führungsriege wiedergab, wie die, auf denen sie in diebischer Freude eine Geburtstagstorte zerteilten, die Zentralasien symbolisieren sollte.

Mir ist an viele Stellen aufgefallen, dass es Dir wichtig war, den westlich-heroischen Blick zu brechen und auf andere Aspekte hinzuweisen.
Eine wie auch immer begründete Sichtweise der white supremacy ist natürlich absolut widerlich und ich versuchte, spätestens seit der Renaissance, über meinen Erzählfluss herauszuarbeiten, dass Europa – und in der Folge auch Nordamerika – sich mehr und mehr zu einer Kleptokratie entwickelte und andere Regionen über die Jahrhunderte aufgrund verschiedener Faktoren – geografische Lage, religiöses Mindset, politische Konstellationen und so weiter – nicht nur überholte, sondern geradezu erstickte. Aber auch »Erfolgsgeschichten« jüngeren Datums mussten von möglichst allen Seiten beleuchtet werden. So würden im Zusammenhang mit der »Eroberung« des Mondes – besser gesagt den ersten zaghaften Versuchen, dort zu landen – viele Leser sicher die Abbildungen der Apollo-Crew, der Reifenspuren im Mondstaub und den Ausschnitt einer Kennedy-Rede, die ich ihnen lieferte, als erwartbar abnicken. Der an seinem Schreibtisch sitzende Werner von Braun und einer der traurigen im Vorfeld stattgefunden Affenversuche trüben auch hier das »heile« Bild. Aber zusätzlich wurde es immer wichtiger, die vielen Mithelfenden zu zeigen, die diese bahnbrechende Expedition überhaupt ermöglichten – das war zumindest mir vor wenigen Jahren noch nicht bekannt. Konkret zeigte ich darum das tolle Foto der Informatikerin Margaret Hamilton neben ihrem frauhohen Stapel an getätigten Flugbahn-Berechnungen oder – in Form des Filmplakates – die vielen als »Hidden Figures« bekannt gewordenen afroamerikanischen Mathematikerinnen.

Ich dachte vor allem auch an die bildhafte Aufarbeitung des Kolonialismus und seiner Folgen.
Den Auswirkungen des weltweiten Kolonialismus widmete ich ja lange Bildstrecken; das ist immer noch extrem bedrückend zu sehen. Aber vor allem auch die daran anknüpfenden antikolonialen Freiheitsbewegungen zeigte ich in all ihrer Breite und Kraft. Dabei nutzte ich zum einen die vor Optimismus strotzenden Propaganda-Plakaten, zum anderen die vielen realistischen, den bewaffneten Kampf unterstreichenden Dokumentaraufnahmen, wobei ich auch immer wieder Kämpferinnen in den Fokus rückte, die einen viel größeren Anteil am Erfolg trugen, als heute noch im Bewusstsein verankert ist. Ich machte absolut keinen Hehl aus meiner Haltung zu den gezeigten Umwälzungen, aus meiner großen Genugtuung darüber, dass die Karten hier – und zwar im globalen Maßstab – endlich neu gemischt wurden. Aber da es auch viel Schatten gibt, wo viel Licht ist, ging ich zumindest am Rande auch auf die negativen Auswirkungen dieser Entwicklungen ein: So deutete ich mit den Plakaten ja auch eine früh einsetzende Verherrlichung und Idealisierung der Ereignisse an, mit den inszenierten Fotos von Fidel Castro beispielsweise den bald einsetzenden Personenkult, mit den zitierten Revolutionsdevotionalien die folgende Kommerzialisierung – man denke nur an die Millionen Che-Guevara-T-Shirts. Darüber hinaus zeigte ich den Übergang von der kolonialen zu einer diktatorischen Ausbeutung, etwa mit der Karikatur eines Afrikaners, der plötzlich eine Rikscha mit einem afrikanischem Herrscher anstatt des weißen Kolonialisten zu ziehen hat.

Weißt Du schon, wie sich Deine Haltung und Genugtuung im abschließenden vierten Band deines Comic-Quartetts niederschlagen wird?
Nun, der Irrsinn geht einfach weiter – es wird natürlich beachtliche gesellschaftliche und technologische Fortschritte geben, aber immer wieder auch Rückschritte, es wird erdrutschartige Umwälzungen geben, aber auch schleichende Verschiebungen, seltsame Allianzen, wahnsinnige Sekten, Entdeckungen, Verwicklungen, Katastrophen, was-auch-immer. Aber die Richtung ist schon klar – alles muss weg, auch wir! Um jetzt nicht allzu defätistisch zu klingen, möchte ich betonen, dass bisher, von sogenannten »lebenden Fossilien« abgesehen, noch keine Art länger überlebt hat als statistisch gemittelt circa eine Million Jahre. Und wir Menschen tun ja gerade unser Bestes, um den dieser »Wachablösung« zugrundeliegenden Wandel in atemberaubender Weise zu beschleunigen. Das ist jedoch nur der naheliegende Erzählhorizont. Da ich in »Gamma… visions« versuche, einen Zeitraum von mehreren Milliarden Jahre abzubilden, bleibt von uns, von der Erde, dem Sonnensystem und allem darin und drum herum am Ende nichts, außer … aber dazu später mehr. Auf lange Sicht gibt es jedenfalls weder Kultur noch Ideologie und schon gar keine Religion mehr, sondern nur noch Physik!