Der Österreicher Nicolas Mahler zeichnet wie ein Berserker. Die Schlagzahl seiner Publikationen ist beeindruckend, seine Zeichnungen an Genialität kaum zu überbieten. Und auch die großen Klassiker können ihn nicht einschüchtern. Mit »Der Mann ohne Eigenschaften« hat er nun Robert Musils Jahrhundertroman in Bildern umgesetzt.
Dieser Mann eifert in seinem Genre dem derzeit erfolgreichsten und populärsten Deutschen nach: er ist der Sebastian Vettel unter den Comicautoren. Mahler veröffentlicht nicht nur in einem Höllentempo eine graphische Arbeit nach der anderen, sondern er steigert mit jedem neuen Werk, das er ins Rennen um die geneigte Aufmerksamkeit schickt, seine Siegesquote. Allein in diesem Jahr erscheint nach Alice in Sussex, Mein Therapeut ist ein Psycho und Gedichte mit Der Mann ohne Eigenschaften sein viertes Buch von allerhöchster Qualität.
Mit Robert Musils Mammutwerk ist Mahler sein bislang dreistester Coup gelungen. Möchte man den Vettelschen Vergleich noch einmal bemühen, dann ist Mahlers Umsetzung von Musils Jahrhundertromans wie ein Triumph durch das Drücken eines Pause-Knopfes, bei dem die anderen stehen bleiben und Vettel an allen vorbeizieht. Mahler betrügt nicht im eigentlichen Sinne, aber wirklich lauter sind die Mittel seiner »Adaption« nicht.
Schon auf dem Titel wird ein wesentlicher Unterschied zu seinen vorhergehenden Umsetzungen deutlich. Wo es bei seiner VersinnBILDlichung von Thomas Bernhards Alte Meister noch »gezeichnet von Mahler« und bei seiner eigenwilligen Carroll-Artmann-Melange Alice in Sussex »frei nach Lewis Carroll und H. C. Artmann« hieß, steht auf dem neuerlichen Titelblatt »Mahler nach Robert Musil«. Allein diese Formulierung lässt die Deutung zu, dass hier nicht nur Mahler nach Vorlage von Musil zeichnet, sondern ein Mahler entsteht, wie ihn sich Musil gedacht haben könnte: »Ein Mahler nach Robert Musil!«
Darüber hinaus standen bislang die Titel seiner Werke zwischen dem Namen der Autoren, derer Originale er sich bediente, und seinem eigenen. Nun stellt sich der Österreicher erstmals direkt neben einen klassischen Literaten. Dies liegt auch daran, dass es sich bei seiner Fassung von Der Mann ohne Eigenschaften nicht um eine Adaption im herkömmlichen Sinne handelt, sondern vielmehr um eine großzügig ausgelegte Interpretation von Musils Romankoloss. Um dessen literarische Größe und Umfang schert er sich dabei nahezu gar nicht. Die fast 2.200 Seiten der Musilschen Vorlage setzt er auf weniger als 160 Seiten um. Die über 200 Kapitel des Originals fasst er in 16 Episoden zusammen. Auf die Endlosigkeit der Sätze, Phrasen und Fragmente Musils lässt er sich mit gerade einmal 102 Sätzen ein – wobei dies schon großzügig gezählt ist, denn Exklamationen wie »Nein!«, »Ohne Zweifel.« und »Ganz gleich.« sind hier schon als Sätze berücksichtigt.
Mahlers Mann ohne Eigenschaften ist auch nicht Musils Ulrich, sondern irgendein gut situierter Mann, der abgesehen vom Hut- und Schirmtragen der Geschlechtsgenossen seiner Zeit, keinerlei greifbare Wesensmerkmale ausgebildet hat. Dies wird schon auf dem Titel dieser Publikation deutlich, denn der dort abgebildete Mann hat weder klare Konturen, noch ein Gesicht; er ist eine Nebelfigur. Diesem Menschengeist lässt Mahler die galante Verlorenheit und hilflose Sinnsuche angedeihen, die den eigenschaftslosen Ulrich aus der Musilschen Vorlage umtreiben. Auch der für diese Suche nicht ganz unwesentliche Verschwörungskreis der »Parallelaktion« findet sich hier wieder – als »Wesen und Inhalt einer großen Aktion«, was wiederum nicht vielmehr ist, als ein Haufen absurder Gestalten, die sich im Nebeneinander ihrer Gedankenwelt üben. Am Ende ist alle Suche vergebens, Ulrich bleibt ohne Eigenschaften. Oder wie es bei Musil am Ende heißt: »Von Ulrich war nichts mehr zu sehen.«
Bei Mahler bleibt natürlicherweise vieles von dem, was Musil explizit und im Detail ausführt, im Ungefähren und Ungesagten, um nicht im Nebel zu sagen. Vieles bleibt hinter den Mauern und Vorhängen, die sich wie lebende Kulissen in seine Bilder schieben und Geschichte seines Mannes ohne Eigenschaften im wahrsten Sinne des Wortes verschwinden lassen.
Vergebens ist diese Neuinterpretation von Musils Weltliteratur keineswegs. Ganz im Gegenteil, Mahler leistet hier etwas unverschämt Bemerkenswertes: Er bringt in diesem Werk die Intellektualität der Neunten Kunst zum Vorschein, wie niemand vor ihm. Er lenkt mit seinen dekorfreien, aufs Wesentliche reduzierten und federleichten Zeichnungen alle Aufmerksamkeit auf die Grundtechnik des Comics: das Zusammenspiel von Wort und Bild in der Sequenz. Wenn er den Satz »In solcher Weise verging die Zeit.« mit jeweils einem Bild über sechs Seiten dehnt, weiß man als Leserbetrachter genau, wie diese Zeit vergeht, von der er uns erzählt. Oder wenn er die Leere des Tages, mit der sich der Held dieser Erzählung auseinandersetzen muss, einfach nur als das zeichnet, was sie ist: leer – ohne Dekor und ohne Worte. Wenn man dies liest – besser gesagt – wenn man diese Bildliteratur ausliest, ist man entzückt ob des geistesblitz-funkensprühenden Vergnügens, den das bereitet.
Was diese graphische Lektüre aber endgültig zu einer intellektuellen Herausforderung macht, sind die verwirrend kohäsiv-diffusen Seiten, die den Leser-Betrachter in bislang ungewohnter Weise darüber nachdenken lassen, was für einer Erzählung er da eigentlich gerade folgt. Das Gefühl, nicht verstanden zu haben, was der Künstler womöglich mit seiner Kunst hat sagen wollen, gehört zum Lesegefühl all jener, die sich Mahlers Werken stellen. Es ist nicht so, dass es an Kohäsion mangeln würde. Dennoch beginnt die Suche nach den Zusammenhängen der einzelnen Elemente immer wieder von vorn. Wenn das Nachdenken über das Wahrgenommene eine Eigenschaft der Literatur ist, dann ist Mahlers frech-eigenwillige Anlehnung an Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften nicht nur von großer Originalität, sondern auch von großem literarischen Wert.
Chuzpe und Kongenialität beweist Mahler auch in seinen lebensweisen Bild-Gedichten, die als Zwei-Bild-Sequenzen von den kleinen und großen Dramen des Lebens erzählen. Seine Gedichte funktionieren wie ein Bildlexikon, das mal antithetisch, mal chiastisch, mal contradictisch nach den Unterschieden zwischen Neugier und Blödheit, Abenteuer und Langeweile, Hochmut und Mitgefühl, Geburt und Vorbestimmung, Glaube und Wahn oder Tag und Nacht fragt. Insgesamt zwanzig dieser Begriffspaare erkundet Mahler in sinnerweiternd und zeichnend. Mit seinen ironischen Zeichnungen macht er die Bedeutungsunterschiede des zugrundeliegenden Wortmaterials genau dort deutlich, wo meist die Worte fehlen, wo die Sprachlosigkeit herrscht. In seinem kleinen semantischen Wörterbuch erhält das Unsagbare eine bildhafte Gestalt.
Gedichte ist nach Längen und Kürzen bereits Mahlers zweite »poetologische« Versuchsanordnung. Wenngleich seine Erzählung um einen gescheiterten Autoren insgesamt durchaus ambivalent ist, zeigte Mahler schon dort, welche Kraft die Rhythmisierung von Text und Bild für die comicale Erzählung hat und wie groß die Bedeutung der unterschiedlichen Strukturierung der Elemente im Einzelbild ist. Mahler treibt in seinen Werken das Zusammenspiel von Text und Bild immer wieder auf die Spitze und vervollkommnet beides mit den einfachsten Mitteln bis zur gegenseitigen Stimulation zu einem neuen Ganzen. Diese »Technik« wendet er auch in seinen »Gedichten« an.
Seine festgelegten Begriffspaare sind natürlich genauswenig wie die dazugehörigen Zeichnungen zwangsläufig. Vielmehr bleiben sie als Konditionalpaare Möglichkeiten von Mahlers Interpretation des Seins. Es gilt das Motto: »Wenn diese Zeichnung für jenen Begriff steht, dann könnte eine solche Folgezeichnung für einen derartigen Gegenbegriff stehen.« Wahrscheinlich ist, dass auch jede andere Zeichnung für den ersten x-beliebigen Terminus und somit auch jede mögliche begriffliche und zeichnerische Abweichung davon für einen abgeleiteten Counterpart stehen könnte. Nicolas Mahler wäre zweifelsohne in der Lage, einen ganzen Kosmos von wortdeutenden Illustrationen und graphologischen Termini entstehen zu lassen. Die Verrücktheit dieses Gedichtbandes besteht darin, wie uns Mahler mit seinen bildsemantischen Erläuterungen glauben macht, dass es weder zu seiner völlig willkürlichen Paarbildung noch zu seinen intuitiven Zeichnungen eine Alternative gäbe. Beim Betrachten dieses illustrierten Wörterbuchs – das genauso gut ein kategorisiertes Bilderbuch sein könnte – überfällt einen der Gedanke, dass Mahler nur diese Bilder zu diesen Begriffen zeichnen konnte. Sie scheinen in ihrer allenfalls oberflächlichen Verankerung zugleich folgerichtig und schlüssig zu sein. Einen genialeren Kommentar zum ambivalenten Dasein in der Moderne könnte man kaum verfassen.
Es gibt jedoch auch Grund, sich zu ärgern. Suhrkamp-Cheflektor Raimund Fellinger zeigt sich erstaunlicherweise der Komplexität des Mediums einerseits und der Simplizität des Mahlerschen Stils andererseits nicht gewachsen. Dass er sich in seinem redseligen Nachwort von den Grundregeln der Neunten Kunst fasziniert zeigt, begründet vielleicht den Einstieg des Verlags in die graphische Literatur, aber keineswegs die Genialität von Mahlers Arbeiten. Man muss auch kein avancierter Comicleser sein, um zu wissen, dass die von Mahler angewandte »1-Seite = 1 Bild«-Architektur keineswegs eine Innovation des Österreichers ist, wie es Fellinger behauptet. Offen gesagt ist es nicht einmal eine Rarität der Neunten Kunst, deren Eigenschaften hier pennälerhaft deklamiert werden. Und damit das Ganze dann auch fachlich anständig kling, werden die großen Theoretiker des Genres Scott McCloud, Andreas Platthaus (der als Herausgeber der Suhrkamp-Comics fungiert) und Ole Frahm noch aufgerufen.
Am dramatischsten aber ist Fellingers verzweifelte Suche nach einem gedichtähnlichen Aufbau von Mahlers graphischen Arbeiten. Wenn dies den Versuch darstellen soll, diesen Band in das literarische Programm der kleinen aber feinen Insel-Bücherei einzupassen, dann geht er nach hinten los? Denn der Suhrkamp-Lektor würde damit den Zeichnungen Mahlers genau das absprechen, was sie zu leisten imstande sind: Die Grenzen von Literatur zu sprengen und dabei mehr zu sagen, als alle Worte dieser Welt. Die Reihe der schönen Bücher der Insel-Bibliothek sollte die »literarische und künstlerische Entdeckungen allerersten Ranges« ermöglichen, sagte einst Siegfried Unseld. Aus genau diesem Grund sind Mahlers Zeichnungen hier richtig aufgehoben – auch wenn sie nicht in Versmaßen aufgehen.
Alle Arbeiten von Nicolas Mahler: www.mahlermuseum.at
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