Artbooks, Fotografie

Was wissen wir vom Kaukasus?

Foto: Davide Monteleone

Diese Frage ist Ausgangspunkt der aktuellsten Arbeiten des italienischen Fotografen Davide Monteleone, für die er in den vergangenen Jahren zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten hat. Der 1974 geborene Monteleone zeigt die bitter-zauberhafte Welt hinter der trügerischen Patina der kommunistischen und postkommunistischen Hinterlassenschaften.

Ein Feuerwerk am tiefschwarzen Nachthimmel Grosnys eröffnet Davide Monteleones neueste Publikation spasibo, in der der Italiener die Resultate und Konsequenzen des jahrelangen Augenverschließens und großzügigen Ignorierens der russischen Imperialpolitik im Kaukasus durch den Westen präsentiert. Die hell explodierenden Raketen sind Symbol und Fanal in einem. Sie wurden anlässlich des zehnten Jahrestages der tschetschenischen Verfassung gezündet – einer Verfassung, die einen korrumpierten Clan an der Macht hält, die den Großteil der Tschetschenen ihrer grundlegenden Rechte beraubt und die Knechtschaft einer ganzen Gesellschaft unter einer willfährigen Strohpuppe Wladimir Putins besiegelt. Diese Auftaktfotografie in schwarz-weiß ist Monteleones sarkastischer Kommentar, sein stellvertretend für die normalen Tschetschenen ausgesprochenes »spasibo« (dt. Dankeschön), mit der er hier ein Ausrufezeichen setzt.

Monteleone ist gegenwärtig einer der erfolgreichsten politischen Fotografen. Insgesamt drei Mal hat er in den vergangenen Jahren den renommierten World Press Photo Award gewonnen. 2007 reüssierte er mit seinen Schwarz-Weiß-Fotografien im Normalformat aus dem Libanonkrieg, 2009 mit quadratischen Farb-Aufnahmen aus der autonomen Kaukasusrepublik Abchasien und 2011 mit einer Modeaufnahme von der Fashion Week in Mailand. Im selben Jahr wurde er von der World Press Photo-Stiftung mit dem »Follow-Your-Convictions-Grant« für sein Mittelmeer-Projekt Reverse Sea ausgezeichnet. Im Rahmen dieses Langzeitprojekts will er die Veränderungen der Gesellschaften und Kulturen entlang des Mittelmeers fotografisch festhalten.

Davide Monteleone: Spasibo. Kehrer-Verlag 2013. 164 Seiten. 86 Duplexabbildungen. 58,- Euro. Hier bestellen

Ein anderes Langzeitprojekt führt ihn seit einigen Jahren immer wieder ins Kaukasusgebiet, in Regionen, die so fern klingende Namen wie Ossetien, Inguschetien, Dagestan, Abchasien oder Tschetschenien tragen. Drei Publikationen sind aus den Erfahrungen und Einblicken, die er während seiner Kaukasusreisen sammeln konnte, schon hervorgegangen. 2007 erschien der Bildband Dusha, der farbige »Suchbilder« enthielt, auf denen Monteleone die »russische Seele« festhielt. Im vergangenen Jahr beeindruckte er mit den in Die rote Distel zusammengeführten düsteren Farb-Fotografien aus dem Kaukasus, auf denen er die Menschen inmitten der gesellschaftlichen Trümmer der russisch-kaukasischen Kriege zeigt. Nun folgen mit spasibo nicht nur seine dokumentarischen Fotografien des gegenwärtigen Tschetschenien, sondern auch eine stilistische Rückkehr zur Schwarz-Weiß-Fotografie.

Anhand seiner Aufnahmen reisen wir durch ein Tschetschenien, das in den Fallrohren der Geschichte hängengeblieben und in zwei von Russland geführten Kriegen physisch und psychisch bis auf die Ruinen zerstört worden ist. Wenn Swetlana Alexijewitsch mit Secondhand-Zeit den »sowjetikus debilius« charakterisiert hat, reicht Monteleone hier einmal mehr die entsprechende Dokumentarfotografie nach.

Auch hier steht am Anfang mit dem Kadyrow-Regime eine autoritäre Regierung, in dem Fall sogar eine Strohpuppenregierung, die an die Leerstelle einer Regierung der Massen gesetzt wurde. Die Konsequenzen dessen führt Monteleone vor Augen. Wir sehen die russisch kofinanzierten Prachtbauten, mit denen die tiefen Wunden der zwei russischen Tschetschenienfeldzüge an der Oberfläche geflickt und überdeckt wurden. Wir sehen die Oligarchen-Karosserien und die Putin-Konterfeis an den Wänden neben den größenwahnsinnigen Kadyrow-Projekten und dem Personenkult um das diktatorische Triumvirat Kadyrow Senior – Putin – Kadyrow Junior.

Monteleone zeigt auch die einfachen Menschen, die, die am Rande des Abgrunds existieren und jene, die schon die Kante des Abgrunds hinter sich gelassen haben. Vor allem das Schicksal der Frauen, Kinder und Kriegsversehrten scheint ihm prototypisch für diese explodierte, zerfetzte Gesellschaft. Sie leiden unter den Konsequenzen der islamisch-machistischen Gesellschaftsordnung, die infolge der Radikalisierung der antimuslimischen Kriege den spirituellen Sufismus des Kaukasus abgelöst hat. Ihre Wirklichkeit gewordenen Symbole heißen Zwangsehe, Verschleierung und Patriarchat.

Erlösungsmomente in diesem sozialen Panoptikum verschafft nur die Schönheit der unberührt-gefährlichen Natur im ebenso vernachlässigten wie symbolüberladenen Hinterland der Kaukasusrepublik.

Von der italienischen Vogue befragt, was er sich von diesen Aufnahmen verspreche, machte Monteleone deutlich, dass es ihm um den Transfer von Bewusstwerdung geht: »Wenn ich mich entscheide, ein Buch über den Kaukasus zu machen, dann nicht, weil ich einen enzyklopädischen Eintrag über den Kaukasus schreiben will […], sondern weil ich die Menschen dazu anregen will, sich mit dem Kaukasus zu befassen. Ich will etwas zur Verfügung stellen, das Menschen dazu bringt, eine Tür aufzustoßen und sich damit auseinanderzusetzen, was da gerade im Kaukasus geschieht. Das ist das Ziel meiner Fotografien und sollte das Ziel der Dokumentarfotografie als solcher sein. Fotografien sollten keine Fragezeichen oder nur Fenster zur Welt sein; es geht insofern weit darüber hinaus, als das Fotografien Betrachter anziehen und in Kontakt bringen sollten mit einem Thema, dass  sie normalerweise nicht interessieren würde.«

Davide Monteleone: Rote Distel. Kehrer-Verlag 2012. 128 Seiten.70 Farbabbildungen. 35,- Euro. Hier bestellen

Es wundert daher nicht, dass Davide Monteleones Aufnahmen den Betrachter zwischen Traditionalismus und reaktionärem Roll-Back in der kaukasischen Gesellschaft hin- und herwerfen. Er wird in die Situation der Tschetschenen versetzt und befindet sich in der berühmten Situation wieder, zwischen Pest und Cholera zu wählen. Arrangiert man sich mit dem repressiven, frauenfeindlichen Traditionalismus oder dem russischen Darwinismus des »Survival of the fittest and corruptest«?

Über das abgebildete hinaus erhalten Monteleones Fotografien vor allem ihre Faszination in dem, was sie dem unbedarften Betrachter im ersten Moment nicht zeigen. Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen hat dazu gerade ein faszinierendes Essay verfasst. In Der Schatten des Fotografen schreibt er nicht nur über die Wirklichkeit der Fotografie, sondern auch über ihr soziokulturelles Erbe, das, was in ihr ruht, aber nicht im Vordergrund abgebildet ist. Dies ist auch hier der Fall. Hinter jedem Bild Monteleones verbirgt sich eine Geschichte. Wir sehen nicht nur, was abgebildet ist, sondern können in einer eingelegten Broschüre nachlesen, warum sich Monteleone für diese Aufnahmen entschieden hat – und lernen dabei eine Menge über das Drama der tschetschenischen Gesellschaft.

An die Geschichten hinter den Bildern zu kommen, sie zu durchdringen und symbolisch abzubilden, ist der große Verdienst von Monteleone. Gegenüber der New York Times, für die er vor wenigen Wochen die Aktivisten des Euro-Maidan porträtiert hat, erklärte er in einem Interview, dass die Recherchen ihn immer wieder zu Fragen der Menschenrechte und der russischen Antiterrormaßnahmen geführt hätten. Auf solche Recherchen reagieren die tschetschenischen und russischen Behörden höchst empfindlich. »Ich hatte keine Angst um mich selbst, aber ich fürchtete mich für einige Menschen, mit denen ich in Verbindung stand und die entschieden hatten, mir ihre Geschichten zu erzählen.»

Diesen Menschen baut der Italiener seit Jahren ein Denkmal, das mit jedem weiteren Foto und jedem neuen Betrachter wächst und an Bedeutung gewinnt. Schon aus diesem Grund müssen diese zum Himmel schreienden Aufnahmen viele Betrachter finden.

Homepage von Davide Monteleone