Literatur, Roman
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Menschlichkeit in Zeiten des Krieges

Heutige Endstation Nam Tok Sai Yok Noi | Foto: Ananda via wikimedia commons

Richard Flanagans Erinnerungsroman »The Narrow Road to the Deep North« setzt der banalen Gewalt des Krieges eine tiefe Menschlichkeit entgegen. Im Oktober gewann er mit dem Roman den Man Booker Prize. Vor der Preisverleihung hatte es intensive Diskussionen um die Änderungen der Regularien des bedeutendsten britischen Literaturpreises gegeben. 

Man schreibt das 46. Jahr des vermeintlich wichtigsten Literaturpreises Großbritanniens, des Man Booker Prize. Erstmals in der Geschichte des Preises werden nicht nur englischsprachige Bücher von Autorinnen und Autoren aus Großbritannien und den Ländern des Commonwealth (inkl. Zimbabwe und Irland) zugelassen, sondern alle Bücher, die im vergangenen Jahr in englischer Sprache und (auch) in Großbritannien publiziert wurden. Diese im September 2013 bekannt gegebene Änderung der Regularien verursachte vor der Veröffentlichung der Long- und der Shortlist hitzige Diskussionen im britischen Kulturestablishment.

Während die Befürworterinnen und Befürworter diese lang diskutierte Änderung als neu gewonnene Diversität englischer Literaturen feiern, lehnt eine Vielzahl von ehemaligen Booker Prize-Gewinnerinnen und -Gewinnern die neue Regelung radikal ab. Argumentiert wird mit dem Verlust literarischer Qualität ob der Flut an Texten und mit der Verwässerung des Profils des Preises hin zur Unkenntlichkeit.

Diese Haltung ist durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass vor allem der anglo-amerikanische Roman – einer der Profiteure dieser Neuregelung – eine große wirtschaftliche Konkurrenz auf dem britischen Buchmarkt darstellt und der Booker bislang als Verkaufsgarant für die Nominierten und die Gewinner galt. Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch die kulturelle Herausforderung, die eine solche Veränderung mit sich bringt: der Booker Prize wird – nicht ganz ohne Arroganz – als genuin britisches Konstrukt im postkolonialen Zeitalter verstanden, der eine, wenn auch lose Einheit der sogenannten »English Literatures« Großbritanniens und der Commonwealth-Länder suggeriert. Mit der Öffnung des Booker Prize für alle englischsprachigen Romane wird diese vermeintliche Einheit und die dahinter stehende Idee von »Britishness« deutlich unterminiert.

Die Wogen um den diesjährigen Booker Prize schlugen im Vorfeld der Preisverleihung am 14. Oktober 2014 also hoch. Umso bestechender erscheint daher die Wahl des Gewinners. Mit dem Australier Richard Flanagan wurde ein Autor als Preisträger erkoren, der das Getöse um den Preis gleich zu Beginn seiner Dankesrede konterkariert. Nicht zufällig bemerkt Flanagan, dass der ansonsten hochgelobte Preis in Australien oftmals als »chicken raffle« – eine Hühnerverlosung im Pub – wahrgenommen werde, er jedoch nie erwartet habe, als Huhn zu enden. Was Flanagan damit – ausgesprochen australisch – zum Ausdruck brachte, darf getrost als Kritik am (britischen) Literaturbetrieb verstanden werden, der sich selbst wichtiger zu nehmen scheint als seinen eigentlichen Gegenstand.

Nach Thomas Keneally und Peter Carey ist Richard Flanagan der dritte australische Autor, der den Booker gewinnt. 1961 in Tasmanien geboren, gehört Flanagan zur einer Riege hochgelobter Autoren in Australien, der aufgrund seiner betont kritischen Äußerungen gegen die Umweltpolitik des derzeitigen australischen Premierministers Tony Abbott auch selbst immer wieder in die Kritik gerät. In Deutschland sind seine Romane zuletzt im Insel-Verlag sowie bei Atrium und im Berlin-Verlag erschienen.

Cover
Richard Flanagan: The Narrow Road to the Deep North. Chatto & Windus 2014. 448 Seiten. 14,95 Euro. Hier bestellen

The Narrow Road to the Deep North ist Flanagans sechster Roman. Inhaltlich fügt er sich wunderbar in das Kriegserinnerungsjahr 2014, in dem Großbritannien ausgiebig des Beginns des »Great War« gedachte. Gerade Großbritannien fällt in diesem Kontext eine einzigartige Rolle zu, da viele ehemalige britische Kolonien aufgrund ihres Commonwealth-Status zur Kriegsteilnahme verpflichtet waren. Zwar erinnert Flanagans Roman nicht an den Ersten Weltkrieg, sondern an den Zweiten, aber die Frage, inwiefern Australien als Teil des Commonwealth in zwei Weltkriegen für das weit entfernte Großbritannien und für ein Modell von »Britishness« kämpfte, das der eigenen nationalen Identität bei Weitem nicht (mehr) entsprach, ist sehr präsent in Flanagans Roman.

Der Roman, dessen Titel sich von einem Gedichtband des 17. Jahrhunderts des japanischen Haiku-Dichters Basho herleitet, erzählt im weitesten Sinne von der Kriegsgefangenschaft des Protagonisten Alwyn »Dorrigo« Evans, dem Vater Richard Flanagans, und dem Bau der sogenannten »Death Railway«. Die 415 Kilometer lange Bahnstrecke zwischen Thailand (damals Siam) und dem japanisch besetzten Burma wurde von Juni 1942 bis Oktober 1943 vornehmlich von asiatischen Zwangsarbeitern und alliierten Kriegsgefangenen gebaut, um Japan längerfristig eine strategisch günstige Angriffsmöglichkeit auf Indien auf dem Landweg zu ermöglichen. Über 100.000 Menschen verloren beim Bau der Thailand-Burma-Eisenbahn ihr Leben, darunter circa 13.000 Australier.

Dorrigo Evans’ Leben mit einer Kindheit und Jugend in Tasmanien, dem Medizinstudium und dem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, seine Zeit als verantwortlicher Offizier im Gefangenenlager und als Held nach dem Krieg bildet den erzählerischen Rahmen des Romans. Flanagan geht es um mehr als das Schreiben einer (lediglich) fiktionalisierten Biographie seines Vaters. Er möchte die essentiellen und traumatischen Erfahrungen des Krieges, der Gefangenschaft und der sinnlosen Gewalt erzählerisch spürbar machen.

Es ist unter anderem der Erzählweise des Romans zu verdanken, dass dies gelingt. Die generell stringent erzählten Handlungsstränge werden durch einzelne Erinnerungen Dorrigos aufgebrochen. In ihrem Verlauf lösen sich diese Erinnerungen zunehmend von denen des Protagonisten und können Erfahrungen anderer Figuren aufnehmen. Das macht den Text erzählerisch und inhaltlich interessanter, weil die Handlung weit über Dorrigos eigenen Horizont hinausgeht und die Essenz verschiedener Erfahrungen einfängt.

Gerade die Schilderungen vom Bau der Bahnlinie, dem Lagerleben und der sinnlos wütenden Gewalt, lassen an Eindrücklichkeit nichts aus, ohne dabei jedoch sinnlos detailliert zu werden. Die Brutalität und Gewalt, der die australischen Kriegsgefangenen im Lager und beim Bau der Trassen ausgesetzt sind und die beispielhaft am Tod des Gefangenen Darky Gardiner erzählt werden, werden mit großer Differenziertheit und Unmittelbarkeit wiedergegeben, ohne zu urteilen.

Diese Differenziertheit ist wohl die größte Stärke dieses Romans. Egal ob einzelne Ereignisse physischer oder psychischer Gewalt, Opfer und Täter – alles wird differenziert und dadurch mit einer tiefen Menschlichkeit betrachtet, die der Roman der sinnlosen Gewalt der Krieges entgegensetzt. Besonders eindrücklich gelingt dies in der Zeichnung der beiden Figuren Dorrigo Evans und des japanischen Lagerkommandanten Major Nakamura. Beide sind oberflächlich gesehen Antagonisten, doch teilen sie auch eine ausgeprägte Liebe zur Lyrik. Sie sind in sich völlig runde Charaktere mit individuellen charakterlichen Schwächen, denen der Roman mit großem Wohlwollen begegnet.

Hörbuch
Richard Flanagan: The Narrow Road to the Deep North. ABC Audio 2014. 15:04 Stunden. 29,10 Euro. Hier bestellen

Den von dem drogensüchtigen und exzentrischen Major Nakamura angeordneten oder selbst verübten Gräueltaten an den Gefangenen und des ihm unterstellten Lagerpersonals stellt der Roman dessen Leben nach dem Krieg als flüchtiger, Angst geschüttelter Kriegsverbrecher und später als liebevoller Ehemann und Vater gegenüber. Dabei stehen jedoch seine Kriegsverbrechen nicht im Widerspruch zu seinem späteren Leben, vielmehr sind diese systemimmanent und entspringen nicht dem vermeintlich Bösen in der Person Nakamura.

So wie Nakamura nicht zum per se Bösen gemacht wird, so wird auch Dorrigo Evans nicht zum Gutmenschen. Als Chirurg ist er nur mäßig erfolgreich, seiner Rolle als umjubelter Kriegsheld und den damit verbundenen Tugenden steht er sehr ambivalent gegenüber. Als Ehemann und Vater scheitert Dorrigo grandios. Seine Ehe mit der pragmatischen Ella erweist sich als weitgehend freudlos, und Dorrigo Evans, der notorische Frauenheld, flüchtet sich in immer weitere Affären. Diese lassen ihn allerdings nicht vergessen, wonach er eigentlich sucht: die wahre Liebe in Gestalt von Amy.

Die Liebesgeschichte mit Amy, der Frau seines Onkels, ist vielleicht das größte Manko dieses ansonsten herausragenden Romans. Die klischeehafte Idee von einer einzig wahren (und unglücklichen) Liebe, auf die kein Liebes- und Lebensglück mehr folgen kann, ist allzu zu stereotyp und widerspricht deutlich der Differenziertheit, die den Roman auszeichnet.

Flanagans Roman The Narrow Road to the Deep North schont seine Leserinnen und Leser nicht. Die großen und existenziellen Erfahrungen von Leben und Überleben, Liebe und Schicksal vereint dieses Buch erzählerisch sowie inhaltlich gekonnt miteinander. Ein sehr persönliches und kulturell wichtiges Buch gerade mit Blick auf den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs im kommenden Jahr.

Ein Wort noch zur englischen Hörbuchausgabe: Das circa 15-stündige Hörbuch hat Flanagan selbst eingesprochen. Obwohl er sicherlich nicht zu den besten Vorlesern zählt, verleihen seine Stimme und der tasmanische Akzent dem Text eine große Authentizität, die in der deutschen Übersetzung verloren gehen dürfte. Reinhören lohnt sich.

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