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»Auch die Weiterentwicklung sehen«

Karsten Singelmann hat für Rowohlt George Orwells Klassiker »1984« neu übersetzt. Seine Übertragung erscheint im Jugendbuch, weshalb etwa der berühmteste Satz des Romans »Big Brother Is Watching You« auch genauso geblieben ist. Wichtig ist dem Hannoveraner, dass man Orwell nicht als Abbild der Gegenwart liest.

Was macht »1984« so zeitlos und gleichermaßen zeitgemäß – auch sprachlich?
Allein schon die Tatsache, dass jetzt so viele Neuübersetzungen erscheinen (was für jedes einzelne Projekt eigentlich ein bisschen peinlich ist – war mir auch nicht klar, als ich den Auftrag angenommen habe), deutet auf ein verbreitetes Gefühl hin, dieser Roman habe gerade in den letzten Jahren (wieder) an Aktualität gewonnen. Es liegt ja auch auf der Hand: Nicht nur der chinesische Staat zieht die Daumenschrauben an, auch im klassische »Westen« zeigen sich zusehends autoritäre und demokratiefeindliche Tendenzen. Was Geschichtsfälschung, die Manipulation der Öffentlichkeit und Repressionen durch den Staat betrifft, bietet die Lektüre sicherlich einige Aha-Erlebnisse. Doch man sollte auch die Unterschiede, die Weiterentwicklung sehen: Anders als in »1984« läuft die totale Vergesellschaftung nicht mehr notwendig über staatliche Inanspruchnahme und Repression. Während in Orwells Welt materieller Mangel herrscht bzw. bewusst erzeugt wird, gehen wir heute ganz in unserem Konsumentendasein auf. Dass wir dafür unsere Daten (pathetisch gesagt: unsere Selbstbestimmung) freiwillig global operierenden Konzernen überlassen, davon weiß Orwells Dystopie noch nichts.

Worauf wollten Sie bei Ihrer Neuübersetzung besonders achten? Wie sind Sie an das Projekt herangegangen?
Meine Übersetzung erscheint im Jugendbuchsektor von Rowohlt. Ich habe dort schon einige Jugendbücher übersetzt, und der Lektorin hat mein »Tonfall« gefallen. So lautete also die vage Vorgabe, dass sich dieser Tonfall auch an diesem Projekt bewähren möge. Klar, es galt, eine zeitgemäße und zugängliche Sprache zu finden, gerade auch für eine Leserschaft, die derart kompakte Texte nicht unbedingt gewöhnt ist. Und kompakt ist dieser Text weiß Gott, das verrät ja schon das Schriftbild. Wenig Dialog. Ausführliche theoretische Passagen, über etliche Seiten Auszüge aus dem programmatischen Buch der Bruderschaft, der angeblichen Untergrundorganisation. Viel Spielraum, gar für einen »jugendaffinen« Stil, bleibt da nicht, schon gar nicht angesichts dessen, was da erzählt und wie es erzählt wird. So lief denn meine stilistische Leitlinie im Grunde darauf hinaus, den Satzbau eher parataktisch als hypotaktisch zu organisieren.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Karsten Singelmann. Rowohlt Verlag 2021. 416 Seiten. 10,00 Euro. Hier bestellen

Gab es sprachliche Wendungen oder Begriffe, die sie an den Zeitgeist anpassen mussten?
Für die Begrifflichkeit an sich, das verwendete Vokabular, habe ich eigentlich keinen Aktualisierungsbedarf gesehen. Es scheint mir nicht an die Entstehungszeit gebunden zu sein, insofern tatsächlich »zeitlos«. Was wir allerdings als zeitlos empfinden, wird sich denn doch im Laufe der Jahre ein wenig wandeln. Eine »zeitgemäße« Übersetzung darf natürlich keine Modewörter, keine aktuell gängigen Wendungen benutzen.
In der bisherigen Referenzübersetzung von Michael Walter siezen die Leute einander, obwohl sie ja Genossen sind. Sogar O’Brien siezt Winston, während er ihn foltert. Das habe ich geändert. Ob das ein Moment von Zeitgebundenheit ist? Keine Ahnung.

Welche Passage hat Sie beim Übersetzen mit Blick auf die Gegenwart besonders bewegt?
»Bewegt« ist vielleicht zu viel gesagt, aber sehr gelungen, scharf gesehen und literarisch überzeugend gestaltet fand ich die Szene, in der Winston im Prollviertel einem alten Mann in einen Pub folgt, um ihn über die Vergangenheit auszufragen – in der Hoffnung, die Geschichtsschreibung der Partei überprüfen zu können. In dieser Szene – die nebenbei noch eine Art »comic relief« darstellt – wird im Grunde Winstons ganzes politisches Projekt – noch vor seiner gewaltsamen Unterdrückung – ad absurdum geführt, indem sie demonstriert, dass das abstrakte Freiheitsbegehren, für das Winston steht (im Unterschied zu seiner Geliebten Julia, die einfach nur ihre (sinnlichen) Bedürfnisse ausleben will), im konkreten Lebensvollzug der »unterdrückten Massen« gar keine Rolle spielt und sogar mit Unverständnis quittiert wird.