Tillie Walden legt mit »Auf einem Sonnenstrahl« eine fantastisch-optimistische Weltraumerzählung vor, die nicht nur einen anderen Blick auf queere Positionen wirft, sondern auch als gelungene Allegorie auf das Erwachsenwerden fasziniert.
Wie eine im All versunkene Burg ragt das mittelalterliche Gebäude vor Mia, Jules und Ell(iot) auf. Sie sollen es restaurieren und die letzten kulturellen Reste der Zivilisation archivieren. Die drei gehören zur Besatzung eines fischähnlichen Raumgleiters, der von Alma geführt wird. Ihr Auftrag besteht darin, architektonischen Weltraumschrott zu restaurieren und wieder nutzbar zu machen. Zur Besatzung des Restaurationsschiffes gehört außerdem die resolute Char(lotte), die mit Alma eine Beziehung führt und ganz gern mal das Kommando auf dem Schiff übernimmt. Wenn etwas nicht wie geplant läuft, wird Char schon mal laut. Etwa als Mia kurz vor Abschluss des Projekts in einen ungesicherten Bereich vordringt und fast in die unendlichen Weiten des Alls stürzt.
Der Beinahe-Unfall löst bei Mia Erinnerungen an ihre Zeit im Internat aus. Denn in für sie verschlossene Räume ist sie dort schon unerlaubt vorgedrungen. Gemeinsam mit ihrer Freund:in Grace ist sie in den Trainingsturm des Lux-Teams ihrer Schule eingebrochen, um einmal in den dunklen Tunneln mit den magischen Gondeln zu fahren und die bunten Planeten zu fangen. Doch in einem unvorsichtigen Moment stürzt sie mit der Gondel ab. Mia will es verheimlichen, doch Grace nimmt die Schuld auf sich, wissend, dass ihr keine Strafe droht. Mia und Grace könnten unterschiedlicher kaum sein. Grace ist eine Einser-Schüler:in, Mia schlägt sich eher mit Ach und Krach bis zu ihrem Schulabschluss durch. Den erlebt Grace aber gar nicht mehr, denn sie wird zuvor von ihren Schwestern abgeholt und zur Großen Treppe am Ende des Universums zurückgeführt. Fortan ist Mia die einsamste Person im All.
Die mit zahlreichen Comicpreisen ausgestattete Amerikanerin Tillie Walden hat mit »Auf einem Sonnenstrahl« eine moderne Space Opera geschrieben, die thematisch eher in den Kosmos von Jillian und Mariko Tamaki als in den von Brian K. Vaughan und Fiona Staples passt. Denn sie verpackt in diesem epischen Coming-of-Age-Comic queer-feministische Positionen ebenso selbstverständlich wie Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem einer lebenswerten Zukunft. Die mehrfach ausgezeichnete Künstlerin hat mit gerade einmal 25 Jahren bereits vier Pageturner-Comic-Books vorgelegt. Nach der autobiografischen Erzählung »Pirouetten«, in der sie ihre Kindheit als vielversprechendes Eiskunstlauf-Talent verarbeitet, das sich schließlich für ein selbstbestimmtes queeres Leben abseits der Klischees entscheidet und dem Roadmovie-Comic über zwei junge Frauen »West, West Texas« ist »Auf einem Sonnenstrahl« der dritte Comic, der von ihr in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Auf sage und schreibe 560 Seiten breitet sie die zuvor als serielles Webcomic publizierte Geschichte von Mia und Grace aus, die sie aus zwei Richtungen erzählt. Denn die Erinnerungen an ihre erste große Liebe lösen eine Sehnsucht aus, die nur Ruhe findet, wenn sie sich auf die Suche nach der plötzlich verschwundenen Freund:in macht. Dabei erhält sie die Unterstützung der Crew ihres queer-feministischen Bautrupps, der zuvor allerdings Char wieder einsammeln muss, die nach dem Beinahe-Unfall abkommandiert wurde. Gemeinsam machen sie sich auf eine Reise, die keine ungefährliche ist. Denn die Große Treppe ist ein besonderer Planet, um dessen wertvolle Ressourcen und außergewöhnliche Fauna schon viele Konflikte geführt wurden. Die Hill-Familie, die diesen riesigen Fels im All regiert, hat sich unter seine Oberfläche zurückgezogen, um dem extremen Wetter und den Angriffen ihrer Feinde zu trotzen. Irgendwann wurde der Planet zum illegalen Gebiet erklärt, sich ihm zu nähern, wurde verboten.
Aber Grace gehört zur Hill-Familie, es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in einer der Felsspalten der Großen Treppe lebt. Wenn Mia sie wiedersehen will, müssen sie und ihre Mitsreiter:innen eine unmögliche Mission starten. Da passt es, dass sich Alma und Char mit unmöglichen Missionen auskennen. Bevor sie sich in die Glieder der Galaxie eingereiht haben, sind sie als Freischärler durchs All geflogen und haben diejenigen eingesammelt, die als Pioniere irgendwo in den Weiten des Alls gestrandet sind und seither dort festsitzen. Nachdem sie nun jahrelang einen Auftrag nach dem anderen ordentlich abgearbeitet haben, ist diese Mission ein neues, vielversprechendes Abenteuer. Der feminine Elliot oder die androgyne Ell ist dabei die wertvollste Person der Mission, denn sie:er kommt von der Großen Treppe und kennt dessen verschlungenen Wege.
In Tillie Waldens Space Opera gibt es so etwas wie das Matriarchat, wenngleich ein wirkliches Herrschaftssystem nicht festgelegt werden könnte. Ja, mehr noch, es gibt im Grunde nur weibliches bzw. queeres Personal. Und diejenigen, die zumindest vom Namen her männlich sein könnten wie Ell(iot) sind in herkömmlichen Geschlechter- und Genderkategorien schwer zu greifen. Der Name spräche zunächst für eine männliche Figur, der Spitzname Ell erinnert an den weiblich markierten französischen Namen Elle. Das Personalpronomen für Ell lautet xier und xien, spätestens hier wird deutlich, dass es sich um eine genderoffene, nicht-binäre Figurenzeichnung handelt. Da ist es nur konsequent, dass die äußeren Erscheinungsbilder oder Rollenmodelle der Figuren ohnehin keinen Rückschluss auf (binäre) geschlechtliche Zuordnungen oder sexuelle Identitäten zulassen.
Diese Umdeutung fertiger Muster setzt sich auch in der atmosphärischen Zeichnung dieser Weltraumsaga fort. »Auf einem Sonnenstrahl« schreibt den eiskalten Weltraum um zu einem herzerwärmenden Raum der Sehnsüchte und Hoffnungen, der Freundschaft und Solidarität, voller Optimismus, Mut und Tatendrang. Dabei wandelt sich das die Weltraumruinen reparierende Kommando in ein Wiederherstellungsteam ganz anderer Art, wenn die Mission zur Großen Treppe verschüttete Hoffnungen freilegt und allen Figuren dabei hilft, sich trotz aller Rückschläge selbst zu finden. So gelesen ist dieser Comic eine wunderbare Allegorie auf das Erwachsenwerden in all seinen Aspekten.
»Je älter man wird, desto mehr vergisst man anscheinend, dass man Dinge ändern kann«, heißt es an einer Stelle. Eine Erinnerung daran, dass es Schicksal nicht gibt, sondern Menschen ihr Leben beim Schopf packen und gestalten können. Walden packt diese Geschichte mit allen Mitteln der Grafik beim Schopf. Das Grid der Panel passt sich permanent an das Tempo der Erzählung an, von klassisch strikt bis hin zur Verwendung raumgreifender Splashpages. Der Stil ist ein Mix aus klassischen Manga-Elementen mit Versatzstücken der frankobelgischen Ligne Claire und Einflüssen der Indie-Comicszene. Die Farbpalette changiert von Kapitel zu Kapitel zwischen Rot-, Blau- und Orangetönen, die den dominanten schwarzen Schatten mehr als nur Akzente abringen. Wenn man Vergleiche ziehen will, wäre man wohl am besten bei Hayao Miyazaki und den Ghibli-Studios aufgehoben.
Der mit dem L.A. Times Book Award ausgezeichnete und von der Kritik gefeierte Comic ist geheimnisvoll verschachtelt und nicht in jedem Detail nachvollziehbar. »Auf einem Sonnenstrahl« ist eine Geschichte wie ein Escher-Labyrinth: von komplexer Universalität und magischer Anziehungskraft, in der der Traum von einer besseren Welt noch lebt.