Der 95-jährige Stéphane Hessel war der ideologische Vater der demokratischen Aufstände weltweit. Von Arabellion bis Occupy Wallstreet kamen die Menschen seiner Aufforderung nach Entrüstung und Einmischung nach. Gestern ist er in Paris gestorben. Wir haben sein Werk noch einmal gelesen.
Stéphane Hessel hatte einiges in seinem Leben erlebt und geleistet. 1917 in Berlin geboren, 1924 mit den Eltern nach Paris gezogen, als französischer Staatsbürger in der Résistance aktiv, wurde er 1944 von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald verbracht. Nach dem Krieg kehrte er zurück nach Frankreich und unterstützte als persönlicher Referent des beigeordneten UNO-Generalsekretärs Henri Laugier die Kommission, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ausarbeitete. Hessel ist einer der Autoren der Erklärung. Mitte der 1970er Jahre wurde Hessel zum Botschafter Frankreichs bei der UNO in Genf berufen, in den 1980er Jahren dann wurde er zum Ambassadeur de France, einem Ehren-Repräsentanten Frankreichs auf Lebenszeit, ernannt.
Man könnte Hessel wegen dieser von vielen Wendungen geprägten Vita – wunderbar nachzulesen in seinen Erinnerungen Tanz mit dem Jahrhundert – kennen. Tatsächliche Berühmtheit erlangte der französische Diplomat aber erst vor zwei Jahren, als seine Streitschrift Empört Euch! zur Vorlage der demokratischen Erhebungen weltweit wurde. Ob die Ereignisse im Arabischen Frühling oder die globale Occupy-Bewegung – sie alle waren in ihrer Unterschiedlichkeit dennoch inspiriert von derselben Quelle. Empört Euch! wurde zum Ruf, den eine ganze Generation vernommen und ernst genommen hat.
Die insgesamt 14 Seiten (in der deutschen Fassung) seiner Streitschrift wären vom Umfang her an Lächerlichkeit für eine Publikation kaum zu unterbieten, wären sie nicht derart komplex, zeitgemäß, eingängig und grundsätzlich, dass sie auch auf jeder Demonstration als Rede eingesetzt werden könnte. Dabei darf Grundsätzlichkeit nicht mit Willkürlichkeit verwechselt werden, denn Hessels Schrift ist alles andere als willkürlich. Das Geheimnis dieser Flugschrift liegt in ihrem originalen Titel verborgen. Indignez-Vous! lautet die Zauberformel in der französischen Vorlage. Erst in diesem Titel wird die dignitas, die Würde des Einzelnen unmissverständlich deutlich. »Verantwortung des Einzelnen ohne Rückhalt, ohne Gott. … Engagement allein aus der Verantwortung des Einzelnen.« Darum geht es Hessel. Aber muss das sein? Müssen wir jetzt alle auf die Straße gehen, um mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu bekommen? Hessel hätte gesagt »Ja, wir müssen!« Warum? Er erklärte es folgendermaßen: »Der neue Mensch ist nicht mehr der biblische Mensch, dem Gott den Auftrag gab ‚Mach dir die Welt untertan’, sondern der aufgeklärte, der die Lebensvorgänge auf unserer Erde besser versteht.«
Säkulare freute, in Hessel einen renommierten Streiter an ihrer Seite zu wissen. Stets war sein Blick auf Religionen und Dogmen kritisch: »Wenn wir Religionen brauchen, dann als Pendant auch Laizismus«, liest man im aufgezeichneten Gespräch, als Vanderpooten und Hessel auf die Koexistenz kultureller Diversitäten zu sprechen kommen. Dass Hessel zuletzt mit dem Dalai Lama den »moralischen Kompass« erfunden haben will, um die Menschenrechte weltweit durchzusetzen, durfte man durchaus kritisch bewerten (Wir erklären den Frieden!).
Hessel forderte bei seinen öffentlichen Auftritten und in anderen Schriften Engagement und Handeln. Wie gelangt man aber als lokal verortetes Individuum zum Handeln angesichts der sich über den Globus erstreckenden hyperkomplexen Probleme? Dem Schriftsteller und Essayisten Gilles Vanderpooten gelang es im Gespräch mit Hessel kaum (Engagiert Euch!), aus der abstrakten Empörung zu etwas konkreteren (Auf)Forderungen zu kommen. Als Leitbild für eine bessere Zukunft soll die Vision des Nationalen Widerstandsrates in Frankreich in den 1940er Jahren dienen: »Ein entschiedenes Nein zum Diktat von Geld und Profit, zum Auseinanderklaffen von extremer Armut und arrogantem Reichtum, zum Wirtschaftsfeudalismus, ein entschiedenes Ja für eine wirklich unabhängige Presse, für umfassende soziale Sicherheit.« Wie aber jeder Einzelne konkret aktiv werden kann, um sich für eine bessere Gesellschaft stark zu machen, wie man als Individuum wirksam gegen die Verletzung der Menschenrechte, die Zerstörung der Umwelt und gegen die Ungerechtigkeit zwischen den Kontinenten und Generationen vorgehen kann, blieb im Ungefähren.
Wirklich konkret wurde es auch in dem kürzlich erschienenen Band An die Empörten dieser Erde nicht. Darin – so verspricht es der herausgebende Verlag – soll der Weg vom Protest zum Handeln aufgezeigt werden, aber eine wirkliche Roadmap in den Idealzustand gibt es auch hier nicht. Der Band versammelt Hessels Zürcher Rede aus dem Oktober 2011 (ein Audiomitschnitt der Rede kann hier angehört werden), die anschließende Publikumsdebatte mit dem Franzosen sowie ein Gespräch zwischen Stéphane Hessel und dem Publizisten Roland Merk. Der Auftritt des Franzosen in Zürich fand kurz nach den Arabellionen und auf dem Höhepunkt der Occupy-Bewegung statt. Allein aus diesem Grund ist es spannend, Hessels Ausführungen zu folgen, auch wenn sie nicht den großen Ausweg aus der Krise in Form einer Handlungsanleitung liefern. Als Prophet der Aufstände hätte Hessel selbstzufrieden sein können, stattdessen aber blieb er in Zürich beim Grundsätzlichen. Denn erst wenn man den Menschen sage, »ihr sollt Euch empören, ihr sollt euch indignieren, weil eure Würde, eure Dignität als Menschen verletzt wurde«, erst dann horchen sie auf, erklärte er später Roland Merk im Gespräch.
Wer die Hessel-bezogenen Titel der letzten Jahre liest, bemerkt schnell, dass sich viele Passagen wiederholen oder zum Verwechseln ähnlich sind. Hier geht es nicht um das Lücken füllen, auch nicht um die Selbstvermarktung (um eine Fremdvermarktung durch die Verlage schon), es geht hier um die Wiederholung. Denn steter Tropfen höhlt den Stein. Erst die Wiederholung lässt die Information ins Mark und Bein dringen und die Menschen die Wirklichkeit begreifen, die sie umgibt. Es folgt die Rebellion, erst die innere, dann die äußere.
Die Wegmarken, die es nun zu bewandern gelte auf dem Weg vom Protest zum Handeln, lauten Achtung der Menschenrechte, Umweltschutz, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Toleranz und Aufklärung. Es müssten auch einige internationale Organisationen und Gremien gegründet (etwa eine Weltumweltorganisation UNEO) oder reformiert (etwa die UNO) sowie weitere zur Zusammenarbeit gezwungen (darunter die Weltbank, Welthandelsorganisation, Europäische Zentralbank) werden.
Ein neues Denken, ein »Weltdenken«, sei notwendig, um die globalen Probleme lokal zu analysieren und anzugehen, und dennoch global zu lösen. Dieses Weltdenken müsse wieder den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen und Empathie zulassen: »Das Mitgefühl verstehe ich als Basis eines neuen politischen Zusammenlebens. Es liefert die notwendigen solidarischen Beziehungen, um eine Weltgesellschaft etablieren zu können.« Gemeinsam mit dem französischen Philosophen Edgar Morin brachte Stéphane Hessel das alles auf die Formel einer »umfassenden Politik des Wohlergehens« (Wege der Hoffnung).
Und was sagte Hessel zur Lage der Demokratie und den Tendenzen der Postdemokratie? »Dagegen gibt es so eine Bewegung wie die Occupy Wall Street zum Beispiel, aber nicht nur. Die Entstehung eines andauernden Protestes, einer generalisierten Empörung gegen die Art und Weise, wie wir heute wirtschaften, das ist doch das Entscheidende! Woher soll denn die Veränderung kommen? Doch nur daher, dass Menschen sich zusammentun, junge Menschen insbesondere, die die Lage verändern wollen und das vertrauen haben, sie auch verändern zu können. Und daher, dass sie nicht allein den Regierungen und Finanzmächten Gehör schenken, sondern vor allem ihrer eigenen Verantwortlichkeit als Bürger.«
Hessels aufregendes und an Wenden reiches leben kann man nicht nur in seinen Erinnerungen nachlesen, sondern auch in dem Dokumentarfilm DER DIPLOMAT Stéphane Hessel noch einmal Revue passieren lassen. Der Film von Anne Starost, Hans Helmut Grotjahn und Manfred Flügge lief 1995 erfolgreich im Programm der Berlinale und ist nun auch auf DVD erhältlich. Darin wird dem Zuschauer der Diplomat Stéphane Hessel noch einmal präsentiert. Historisches Filmmaterial wird mit Gesprächen und Ausführungen Hessels zusammengeführt. Es ergibt sich nicht nur ein Panorama des Vermittlers Stephane Hessel, sondern aus den verschiedenen Materialien und Informationen setzt sich Kaleidoskop-artig ein Bild des Menschen Stéphane Hessel zusammen, der als Diplomat nicht nur einen politischen Auftrag ausführte, sondern aus seiner Biografie und politischen Position heraus eine innere Motivation entwickelte, sich in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Der Film macht in eindrucksvoller Manier deutlich, dass Verantwortung für Hessel nicht einfach nur ein Wort oder eine Geste war, sondern eine Haltung.
Stéphane Hessel ist gestern im Alter von 95 Jahren in Paris gestorben.