Der melancholisch-warme biografische Comic »Portugal« ist das Opus Magnum des französisch-portugiesischen Autors Cyril Pedrosa und eine tiefschürfende Liebeserklärung an »Zuhause«.
Die Krise hat von Simon Muchat Besitz ergriffen. Dem franco-portugiesischen Comiczeichner sind Inspiration und Schaffenskraft irgendwo auf der Wegstrecke seines Lebens verloren gegangen, seine Beziehung hängt am seidenen Faden. Wäre er nicht noch so jung, würde man eine Midlifecrisis vermuten. Diese Krise ist der Ausgangspunkt von Cyril Pedrosas neuem Comic Portugal, für den er 2012 bei Europas größtem Comicfestial in Angoulême ausgezeichnet wurde.
Einiges von Simon Muchats Geschichte erinnert an Pedrosa selbst. Sein Großvater floh in den Wirren des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit seinem Bruder von Portugal nach Frankreich. Warum er blieb, während andere zurückgingen, war lange Zeit ein Geheimnis. Als sein Enkel auf dieses Rätsel stieß, war seine Neugier geweckt – und das Thema von Portugal gefunden. Darin hat er die Suche nach seiner Herkunft verarbeitet. Und doch ist dieser Comic weit mehr als die gezeichnete Aufarbeitung einer Familienbiografie. Er ist ein Psychogramm von Simon Muchat, die Geschichte einer zerstreuten Familie und europäisches Geschichtsbuch zugleich. Und vor allem eine tiefschürfende Liebeserklärung an ein Lebensgefühl, das sich nur mit »Heimat« oder »Zuhause« verbinden lässt.
Seinen Ausdruck findet dieses gezeichnete Bekenntnis an ein Land und seine Menschen in vielfältiger Weise. Die Charaktere, die Pedrosa in seinem Werk auftreten lässt, sind ebenso gelassen wie lebendig. So manches Mal fehlt es diesen in die Jahre gekommenen Kindern an Vernunft, aber niemals an Lebensmut, Humor und Optimismus. Sie alle kennen Entbehrungen, Enttäuschungen und Niederlagen, haben aber nie vergessen, trotz allem das Leben zu genießen. Das Glas Wein in der milden Nachmittagssonne, die nackten Füße im kühlen Dorfteich, der Grashalm im Mundwinkel; das sind die Dinge, die ihr Leben ausmachen und die man als Leser noch während der Lektüre teilen möchte.
Liebevoll sind auch die Anekdoten der sprachlichen Verwirrung, die Simon Muchat immer wieder erleidet und die ihn schließlich veranlassen, die Sprache seiner Vorväter lernen zu wollen. Im französischen Original lebt der Comic von der babylonischen Sprachverwirrung, die sich aus der Nähe von Französisch und Portugiesisch einerseits und der sprachlichen Unkenntnis des Simon Muchat andererseits ergibt.
Detailliert hat Pedrosa seine Zeichnungen ausgeführt. Manche seiner Landschaftsimpressionen erinnern stark an sein Vorgängerwerk Drei Schatten, einige Personen- und Charakterstudien lassen an Manu Larcenets Die Rückkehr aufs Land denken und wenige Szenen rufen die Atmosphäre von Bastian Vives’ Der Geschmack von Chlor auf den Plan. Die Kolorierung mit den bis zur Transparenz verdünnten Wasserfarben schafft darüber hinaus einen Effekt durchschimmernder Konturen, der selten gesehene Bilder hervorbringt. Wie Geister laufen durchsichtige Menschen durch Pedrosas erinnerte Szenerien, als sei das Abgebildete eine über die Echtzeit gelegte, längst verblasste Erinnerung.
Die Erinnerung ist das zentrale und am wenigsten greifbare Element dieses Comics, an dem Pedrosa fünf Jahre gearbeitet hat. Simon Muchat muss feststellen, dass er weder seinen eigenen, vagen Gedankenblitzen noch den lückenhaften Erinnerungen seiner Familie trauen kann. Auch in dem portugiesischen Heimatdorf seiner Vorfahren kann er das Rätsel der Auswanderung seiner Familie nicht lösen; zu viele Fragen bleiben offen.
Am Ende ähneln sich die Geschichte der Familie Muchat und Pedrosas Zeichnungen. Beide haben nur Konturen, die allein noch keinen Sinn ergeben. Um diese Konturen, sowohl zeichnerisch als auch familienbiografisch, mit Leben zu füllen, braucht es die transparente Kolorierung, die sich wie eine Imagination über die Linien legt und Geschichten entstehen lässt. Das Resultat ist mehr, als die Summe der einzelnen Teile.
Mit seiner bewegenden Allegorie auf den Abschied und die Trauer, dem 2008 erschienen Comic Drei Schatten, hatte Pedrosa viele Lesende in eine Traurigkeit versetzt, die nur schwer abzustreifen war. Sein Opus Magnum Portugal ist zwar von einer ähnlichen Melancholie geprägt, endet jedoch versöhnlicher; in der leisen Hoffnung, dass Simon Muchat zu sich selbst gefunden hat.
[…] Aber das Helden-Universum des Franzosen ist gigantisch. Fast zwanzig Serien hat er seit Ende der 1990er Jahre ins Leben gerufen, eine erfolgreicher als die andere; von der Donjon Parade über Die wundersamen Abenteuer von Legenden wie Robin Hood oder Attila dem Hunnen bis hin zu seiner Coming-of-Age-Erzählung Rückkehr aufs Land. […]