Sex war am Mittwoch auf der Berlinale ein großes Thema. Ob in Peter Greenaways spielerischer Hommage »Eisenstein in Guanajuato«, in der restaurierten Fassung von Mark Christophers »54: The Director’s Cut« oder in Sam Taylor-Woods Verfilmung des vermeintlichen SM-Bestsellers »Fifty Shades of Grey«.
Schon in dem rumänischen Beitrag Aferim von Radu Jude, der als erster Wettbewerbsbeitrag am Mittwoch Premiere feierte, spielt Sex eine wichtige Nebenrolle. Denn der »Zigeunersklave« Carfin (Cuzin Toma) hat eine leidenschaftliche Affäre mit der Frau seines Herren. Als dieser dahinter kommt, liegt ein Ehrenmord in der Luft. Carfin ergreift die Flucht, der nächste Affront gegenüber seinem Herrn, der den Freischärler Costandin (Teodor Corban) und seinen Sohn Ionita (Mihai Comanoiu) anheuert, seinen Sklaven wieder herbeizuschaffen, um ein Exempel zu statuieren.
Hier setzt der schwarz-weiße Romanowestern von Radu Jude, der mit The happiest girl in the world seinen internationalen Durchbruch feierte, ein. Die Grundlage dieser Geschichte sind historische Dokumente und Lieder, in denen eine ähnliche Geschichte wie diese hier besungen wird. Costandin und Ionita werden in dem Film wie die rumänische Version von Don Quichote und Sancho Pansa inszeniert, die auf der Suche nach dem Carfin durch die rumänische Landschaft reiten. So ergibt sich ein Panorama der feudalen rumänischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem die hierarchischen Machtverhältnisse das Leben der Menschen prägen.
Aferim, ein Schimpfwort für Zigeuner, lebt vor allem von den Monologen Constandins und einiger anderen Figuren. So hält etwa ein orthodoxer Priester, dem die beiden Reiter unterwegs begegnen, einen irrwitzigen Vortrag über die Eigenschaften bestimmter Völker, um zu begründen, warum das Schicksal der Zigeuner darin liege, als Sklaven dienen zu müssen. Dessen Logik nach lieben Franzosen Mode und neigen Italiener zur Lüge. Deutsche rauchen demzufolge viel, Araber haben mehrere Frauen, Türken sind böse und »Zigeuner müssen geschlagen werden«. Hier wird derart mit Klischees gespielt, dass mannbar nicht anders kann als lachen. Insgesamt aber verliert sich Radu Judes Tragikomödie im Westernstil mit Anleihen aus Ritterfilmen in seinem völlig überdrehten Stilmix und dem zusätzlichen Anspruch, aus dem historischen Material einen politischen Kommentar zu formen. Schade, denn der Schwarz-Weiß-Ansatz und die Übertragung des Italowesterns Indie Balkanregion war durchaus vielversprechend.
Am Abend feierte der hervorragend arrangierte und wunderbar spielerische Wettbewerbsbeitrag von Peter Greenaway Eisenstein in Guanajuato seine Premiere. Darin werden vor dem Hintergrund von Eisensteins Dreharbeiten für den niemals verwirklichten Film Que Vida México Fragen nach Tod und Liebe diskutiert. Zehn Tage hat Eisenstein an der Seite seines mexikanischen Führers Palomino Cañedo (Luis Alberti) in Guanajuato verbracht, zehn Tage, »die Eisenstein erschütterten«. Im Zentrum des Films ist ein »Initiationsakt« angelegt, eine Sexszene, die es in ihrer unmittelbaren Intensität in sich hat. Im Mainstream-Kino ist sie in der Form vielleicht nur mit den Aktszenen von Léa Sedoux und Adèle Exarchopoulos in Abdellatif Kechiches Blau ist eine warme Farbe vergleichbar. Doch Greenaway belässt es nicht bei einer Sexszene, sondern erzählt zu dieser die Geschichte der Invasion Lateinamerikas und die der Russischen Oktoberrevolution. Beide assoziiert er mit der Metapher der »Entjungferung«. So wie Sergej Eisenstein durch seinen Begleiter Palomino Cañedo seine Unschuld verliert, haben Lateinamerika und das russische Volk ihre Unschuld verloren. Was auch immer aus diesem Film im Wettbewerb und danach wird, aber allein diese zehnminütige Szene im Zentrum des Films sind schon ein Meisterwerk. Den Film hatte ich gestern bereits hier ausführlich besprochen.
Auch im Director’s Cut von Mark Christophers Hommage an New Yorks legendäres Studio 54 geht es um in weiten Teilen um Sex, allerdings schwingt hier immer auch der Abgrund des Missbrauchs mit. 1998 wurde eine erste, deutlich abweichende Fassung des Musik- und Club-Klassikers gezeigt als die, die der amerikanische Regisseur jetzt auf der Berlinale zeigt. Damals hatten ihn die Produzenten gebeten, 40 Minuten aus seiner Fassung herauszunehmen und 25 davon nachzudrehen und in geänderter Fassung wieder einzufügen. Dieser Eingriff ist nun rückgängig gemacht worden und nun kann man dem 19-jährigen Shane O’Shea, gespielt von Ryan Philippe, auf dem Weg in und durch New Yorks berühmtesten Club folgen, wie es Mark Christopher vorgesehen hat.
In dieser Fassung wird die dunkle Seite der Geschichte stärker nach außen gekehrt. Mark Christopher und Alexander Gruszynski setzen im Original noch stärker auf den Effekt von Licht und Gegenlicht, den sie selbst »Lighting Darkness« nannten. So wirkt der Club noch düsterer als bisher. Zugleich wird der Aspekt des Machtmissbrauchs durch sexuelle Übergriffe stärker sichtbar. Sowohl Shane als auch sein Freund Greg Randazzo (Breckin Meyer) werden hier von Clubbesitzer Steve Rubell (Mike Myers) deutlich offensiver bedrängt, als es in der alten Fassung der Fall war.
Im Studio 54 traf sich die High Society der Vereinigten Staaten, es war der einzige Ort, wo ein Barmann Berühmtheit erlangen konnte – indem er die richtigen Dinge zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten macht. Shane O’Shea ist genau so ein Typ. Aufgeschlossen und wagemutig, hungrig nach Anerkennung und durstig nach Liebe scheint er in dieser glitzernden Welt intuitiv zu wissen, auf wen er sich einlassen kann oder muss, um voranzukommen.
Mark Christophers Film ist eine Hommage an eine Welt, die in der Form nicht mehr existiert. Der Kit Kat Club in Berlin war zu Zeiten, als er noch im Metropol in Schöneberg beheimatet war, hatte zumindest eine ähnliche Art der kultivierten Freizügigkeit praktiziert. Heimat einer Musikkultur, wie es das Studio 54 war, war der Berliner Hedonistenclub ohnehin nie. Deshalb lohnt es sich schon allein wegen des Sounds – von »Keep on Dancing« von Gary’s Gang über »I got my mind made up« von Instant Funk bis hin zu »I need a man« von Grace Jones –, eine der beiden letzten Vorstellungen von 54: The Director’s Cut am heutigen Donnerstag zu sehen. Zumal man mit der jungen Salma Hayek in der Nebenrolle der Garderobendame und Sängerin Anita Randazzo auch noch ein wenig Filmgeschichte geboten bekommt.
Am späten Abend lief dann Sam Taylor-Johnsons Verfilmung des SM-Bestsellers Fifty Shades of Grey. Die Geschichte der schüchtern Studentin Anastasia Steele, die sich Hals über Kopf in den smarten und dominanten Multimilliardär Christian Grey verliebt, ist schon tausend Mal erzählt worden. Ebenso oft ist auf den Umstand hingewiesen worden, dass es in der Romanvorlage nicht um sexuelle Freiheit geht, sondern um das Bestärken eines prüden Weltbildes, in dem der Mann das Sagen hat und die Frau ihm sehnsüchtig erlegen ist. Beides soll an dieser Stelle kein 1001. Mal erfolgen.
Parallel zur Weltpremiere im sanierten Zoopalast fand eine Pressevorführung am Potsdamer Platz statt, die brechend voll zu werden drohte. Denn bereits knapp 90 Minuten vor dem Beginn fingen erste Journalisten an, sich vor dem Kino aufzureihen. Zu Beginn der Vorführung war der Saal nur mäßig gefüllt. Obenhin hatten sich mindestens 90 Prozent der anwesenden Pressevertreter ihre Meinung schon gebildet. Die meisten wollten sie einfach nur bestätigt sehen, wahrscheinlich, um am Morgen des Kinostarts mit umso breiterer Brust über den Film spotten zu können. So wurde bereits bei den ersten, aus dem Trailer bekannten Szenen lauthals hämisch gelacht, selbst dann, wenn es eigentlich keinen Anlass gab. Gemeinsam lacht es sich eben leichter.
Taylor-Johnsons Verfilmung gab aber auch in den verbleibenden zwei Stunden ausreichend Anlass, entweder fassungslos mit dem Kopf zu schütteln oder aber verzweifelt den Unsinn, den man sah, wegzulachen. Dass der gleichnamige Roman von E.L.James schon nur tumbe Dialoge lieferte, ist das eine. Dass die beiden wenig bekannten Hauptdarsteller Jamie Dornan und Dakota Johnson eine noch dümmere Mimik dazu aufsetzen müssen, das andere. So sieht man etwa Anastasia Steele alle zwei Minuten gewollt lasziv auf ihren Lippen kauen, so dass man sich irgendwann zu fragen Beginn, ob es denn keinen Kieferorthopäden gibt, der diesen Überbiss mal beseitigen möge. Christian Grey seinerseits versucht zwanghaft eindringlich zu kucken, um seiner Dominanz Nachdruck zu verleihen. Es bleibt beim Versuch.
Dazu kommt die Inszenierung, die an Kitsch nicht mehr zu überbieten ist. Mitten in diesem Film denkt man schon sehnsüchtig an die gedanklich bereits gestrichene zweite Pressevorführung am Freitag, wenn die Neuverfilmung von Cinderella mit Cate Blanchett und Stellan Skarsgård gezeigt wird. Sie wird zweifellos weniger Kitsch beinhalten, als dieses dümmliche Machwerk. Entsprechend wird hier auch kein aufregender Sex gezeigt, sondern die durchschnittliche Frauenfantasie einer Männerfantasie einer Frauenfantasie. Die Figuren bleiben ambivalent, nicht weil sie zwei Seelen in ihrer Brust tragen, sondern weil ihre oberflächliche Charakterisierung hinten und vorne wackelt. Und nicht zuletzt ist das Product Placement derart unverfroren, dass dies Film auch gut und gern als Dauerwerbesendung durchgehen würde.
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