Der Berliner Germanist Joseph Vogl zeigt in seiner formidablen Funktionsanalyse der Finanzpolitik, wie Zentralbanken als unabhängige Regierungsenklaven entworfen wurden und unter den Vorzeichen demokratischer Modernisierungsprozesse zu konstitutionellen Aus(nahme)fällen geworden sind. Deren systemimmanentes Ziel bestand immer darin, die existierende Finanzpolitik aus Selbstzweck zu perpetuieren. Inzwischen stehen auch sie machtlos vor dem selbstgeschaffenen Götzen Markt.
Wer ist in der globalisierten Welt, in der internationale Rating-Agenturen wie Moody’s und Standard & Poor’s die Kredibilität von Staaten wie Griechenland oder Italien bewerten, deren Finanz- und Geldpolitik wiederum von supranationalen Konsortien wie der Eurogruppe sowie informellen Aufsichtsgremien wie der Europäischen Zentralbank oder dem Internationalen Währungsfond diktiert wird – die aufgrund ihrer Struktur keinerlei demokratische Legitimation besitzen –, eigentlich der Souverän? Diese Frage stellt der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl in seinem überaus lesenswerten Essay Der Souveränitätseffekt, der unter anderen neben Philipp Thers Geschichte des neoliberalen Europas für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.
Es spricht nicht unbedingt für die ökonomischen Wissenschaften, dass die beiden für den Messepreis nominierten Sachbuchtitel mit Wirtschaftsbezug von zwei Geisteswissenschaftlern geschrieben wurden. Offenbar braucht es aber die intellektuelle Distanz zur inneren Logik des ökonomischen Systems, um es kritisch durchleuchten zu können.
Ausgangspunkt von Vogls Analyse ist die Feststellung, dass sich ein spezifischer Machttypus abseits von Volkssouveränitäten formiert habe, der in den politischen Prozessen äußerst exklusive Entscheidungsbefugnisse innehat. In seinem neuen Buch macht er sich auf die Spur dieses Typus, um dessen Gestalt und Funktionsweise zu ergründen. Der Souveränitätseffekt schließt dabei an sein bereits preisverdächtiges Vorgängerwerk Das Gespenst des Kapitals an, in dem Vogl vor dem Hintergrund der Finanzkrise die Geltung der ökonomischen Glaubenssätze, die Oikodizee, hinterfragt hat. Nun geht es ihm weniger um das Hinterfragen von Grundmustern, als vielmehr um das Entblößen der Agenten, die diese Grundmuster unaufhörlich in den Vordergrund stellen.
Das Skandalöse an der aktuellen Situation besteht darin, dass die Ideen und Konzepte, die zur Implosion der Finanzwelt geführt haben, nicht hinterfragt und abgebaut worden sind, sondern nach einer kurzen Phase der Läuterung nun eine unheimliche Renaissance als Allheilmittel erfahren. Vogl zeigt, dass das Ziel der notorischen Austeritätsprogramme im Umbau der politischen Strukturen nach den Mechanismen des Marktes liegt. »Die sogenannte Marktdisziplin ist zu einem grundlegenden Kriterium der Politik geworden und hat das Interventionsvermögen von finanzökonomischen Operationen und Akteuren erhöht«, schreibt Vogl in seinem »historisch-spekulativen Versuch«, wie er seine aktuelle kulturwissenschaftliche Studie selbst nennt.
Schaut man sich an, was auf dem Finanzmarkt so geschieht, dann ist das, was Vogl betreibt, alles andere als Spekulation. Er analysiert die historische Genese des informellen Machttypus, der in der gegenwärtigen Situation immer stärker direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt und sich dabei den Anschein gibt, als ginge es ihm um das Bewahren einer gesellschaftlichen Grundordnung. Tatsächlich aber geht es um das Stützen einer ökonomischen Ideologie, die unterstellt, »dass sich Gesellschaften durch Marktmechanismen besser regieren lassen«, wie es Vogl schon vor fast vier Jahren in einem Interview mit Die Zeit formuliert hat. Kein Wunder also, dass sich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise eine Ausnahme- und Notstandspolitik etabliert hat, in der vermeintliche Expertenkomitees, wissbegierige Regierungsgremien und hektisch einberufene Arbeitsgruppen de facto Regierungsgeschäfte übernommen und Maßnahmen ergriffen haben, deren gesellschaftliche Wirkung (nicht nur) aus Vogls Sicht zumindest zweifelhaft ist. »Während Banken, Finanzinstitute, Gläubiger, Rentiers und Eigentümer großer Vermögenswerte zu den Profiteuren der Kontrolle von Inflation und Inflationsvarianz gehören [A.d.A. Stichwort to big to fail], verteuert eine strikte Einhaltung von Preisstabilität die Kosten von Staatsdefiziten und schlägt zum Nachteil von Schuldnern, arbeitsintensiven Industrien, Rohstoffproduzenten und Lohnabhängigen aus.«
Wie schon in Das Gespenst des Kapitals ergründet Vogl die historischen Vorläufer der modernen grenzüberschreitenden »politischen Ökonomie«, die er in der Finanzpolitik der Republik Genua, dem Handel der Fugger und der schuldenbasierten Staatsfinanzierung Britanniens durch die Bank of England im siebzehnten Jahrhundert sieht. Die Bank von England, ein Zusammenschluss von einigen privaten Geldinstituten zu einer Art Zentralbank mit Quasi-Regierungsauftrag, spielte schon in Vogls Vorgängerwerk eine zentrale Rolle, um die Genese des öffentlichen Kreditwesens zu erklären. Wegen Kapitalbedarfs in Krisenzeiten – »Schuldenkrisen sind ja Gründungsurkunden moderner Staaten« (Joseph Vogl) – hatte der englische König wiederholt Werte von britischen Kaufleuten beschlagnahmt, die schließlich in einen öffentlichen Kredit umgewandelt wurden. Um die Staatsschulden zu organisieren, für ständigen Nachschub an finanziellen Mitteln zu sorgen und die Geldstabilität zu sichern, wurde die Bank von England gegründet. Hier begann das Staatswesen, sich selbst an private Finanziers zu veräußern.
Der Notstand wird als legitimierende Drohkulisse in Auftrag und Selbstverständnis des Zentralbankwesens institutionalisiert. Darauf gründet sich dann die Dynamik des modernen Kapitalismus, denn diese Machtfiguren »generieren, garantieren und vervielfältigen die Konnexionen zwischen politischen Strukturen und privater Geschäftstätigkeit, verknüpfen Finanzierungsprozesse mit der Organisation des sozialen Feldes, schaffen eine Klasse dominanter Rentiers, sie begründen und stabilisieren die Zyklen von Fiskalschuld und öffentlichem Kredit und somit ein verlässliches Kreditsystem überhaupt, sie bieten die Infrastrukturen für den expandierenden Geld- und Kapitalverkehr.« Unterstützt werden diese Prozesse von der turnusmäßigen Rotation des Funktionspersonals zwischen Großbanken, Wirtschaftsunternehmen, Regierungsposten und Zentralbanken unter den Vorzeichen der systemrelevanten Expertise. So bilden die Zentralbanken zu jedem Zeitpunkt einen wichtigen Eckstein des Finanzsystems. Die Erwartung, sie könnten als Korrektiv des Finanzwesens auftreten, basiert auf der fehlerhaften Annahme, es handelte sich um unabhängige Regierungsinstitutionen.
Von der Bank von England über die amerikanische Federal Reserve und die Deutsche Bundesbank bis hin zur EZB sind die Zentralbanken der Ort im politisch-ökonomischen System, wo Staats- und Finanzwesen eine verheerende Ehe eingehen. Vogl beschreibt diese Geldhäuser als »vierte Macht« im Staat. »[I]n dem Maße, wie sich der neuzeitliche Staat über die schrittweise Verstetigung von Staatsschuld, öffentlichem Kredit und Steuerwesen selbst auf Dauer gestellt hat, ist ihm in Fiskalangelegenheiten eine quasi-souveräne Macht zugewachsen, die sich mit ihrer dauerhaften Ausnahmegestalt dem souveränen Zugriff zugleich entzieht (und in späteren Zentral,- National- bzw. Notenbanken ein institutionelles Format erhalten wird). Er spricht hier von einem sich bildenden »Souveränitätsreservat« flexibler Gestalt.
Nun bewährt sich der Literaturwissenschaftler in seiner Berufung, denn statt sich mit den bekannten Kratzern an der glänzenden Oberfläche des Finanzsystems zufriedenzustellen, hat er sich in die Details der Gründungsdokumente der Geldinstitutionen vertieft, um ihren Auftrag sowie die Kompetenzausstattung offenzulegen und diesen die Notwendigkeiten demokratischer Legitimation gegenüberzustellen. Doch eine solche Legitimation findet nicht statt, diese Institutionen sind verfassungspolitisch gesehen »queer ducks«, schräge Vögel. Vogl enthüllt die fatale Gestalt dieser Geldhäuser, die als vermeintliche Regierungsinstitutionen den Regierungen, denen sie angeblich unterstehen, ihre finanzpolitische Ausrichtung diktieren. Dabei geht es nicht um die Frage, wie man unter gegebenen politischen Bedingungen den Freiraum des Marktes aussondern und abgrenzen kann, sondern darum, »die Ausübung von Macht selbst nach marktwirtschaftlichen Prinzipien zu regeln.«
Die in jahrelanger Kungelei zwischen Politik und Finanz entstandenen intransparenten verfassungsmäßigen Regelungen, die Vogl hier zutage fördert, sind von einer hanebüchenen Qualität. Etwa wenn er aus der Zurückweisung einer Klage gegen das Ratifizierungsverfahren in den Maastrichter Verträgen durch das Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 1992 zitiert. Dort heißt es nicht nur, dass »die Einflussmöglichkeiten des Bundestages und damit der Wähler auf die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch europäische Organe […] nahezu vollständig zurückgenommen [wurden], soweit die Europäische Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ausgestattet wird«, sondern auch, dass der Politikbereich, der »das öffentliche Finanzwesen und die davon abhängigen Politikbereiche bestimmt«, »der Weisungsbefugnis von Hoheitsträgern und […] zugleich der gesetzgeberischen Kontrolle von Aufgabenbereichen und Handlungsmitteln entzogen« wurde. So fällt die Währungspolitik bei einer unabhängigen Zentralbank nicht mehr in die Einflusssphäre der staatlichen Hoheitsgewalt oder die parlamentarische Verantwortlichkeit, »um das Währungswesen dem Zugriff von Interessentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandatsträger zu entziehen.«
Allein für diese aufklärerischen Passagen lohnt sich die Lektüre dieses faktenreichen und klugen Werkes. Vogl geht es keineswegs darum, die finanzpolitische Sphäre an den Pranger zu stellen. Vielmehr zeigt er auch die Schwächen und das Versagen der demokratischen Institutionen auf. Das Zentralbankwesen ist in seiner Allmacht und Intransparenz ein Resultat der modernen Demokratisierungsprozesse, in denen sich die staatsnahen Geldhäuser als »proto-staatliche, proto-demokratische« Exekutivanstalten etabliert haben, um durch die Blockade von Regierungsinstanzen »Raum für ökonomisches Regieren zu gewinnen«. So liegt die Souveränität, über die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik zu bestimmen, zwar weiterhin im exekutiven und legislativen Feld. Über diesem schwebt aber das ständige Raunen der marktkonformen Politik im Namen von Preisstabilität und Inflationskontrolle.
Die Finanzmärkte sind »zur disziplinierenden oder richterlichen Instanz gegenüber Regierungen geworden«, der terminus technicus der Haushaltsdisziplin erhält Konjunktur. Dem schlanken Staat treten die »Schattenregierungen« mit Kontraktoren, Konzessionisten, Leasingpartnern und Subunternehmern gegenüber; big governance tritt an die Stelle von big government.
Der Chicagoer Ökonom Henry S. Simmons sprach bereits 1936 von einer »neuen Geldreligion«. Eine prophetische Aussage angesichts der Tatsache, dass das bestehende Zentralbankwesen die Profitinteressen von Banken, Finanzinstituten, Investmentgesellschaften, Gläubigerkartellen und großer Kapitalvermögen »strukturell und dauerhaft privilegiert«. So wurden nach dem Bankencrash anno 2007/2008 nicht etwa die Abhängigkeiten der Banken untereinander hinterfragt, sondern im Gegenteil noch verstärkt. In die Finanzkrise verwickelte Geldhäuser wie Barclays, AXA, JPMorgan Chase & Co, UBS AG, Deutsche Bank AG oder Credit Suisse Group sind inzwischen durch ein »kompliziertes Netz von Eigentumsbeziehungen« miteinander verbunden, das durch Tochtergesellschaften, gegenseitig gehaltene Aktienanteile und Beteiligungen an Beteiligungen besteht. Gemeinsam haben sie die Derivate, Verbriefungen, forwards, futures, swaps und options erfunden, bei der nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft von Gesellschaften verwettet wird. Diese Finanzprodukte haben Dynamiken hervorgebracht, die längst den Bereich des Kontrollierbaren verlassen haben. »Mit der fortlaufend verpfändeten oder konfiszierten Zukunft ist der Markt vielmehr selbst zu einem Gläubigergott geworden, der in letzter Instanz über das Schicksal von Währungen, Volkswirtschaften, Sozialsystemen, öffentlichen Infrastrukturen oder privaten Ersparnissen verfügt.«
Vogls Analyse zeichnet sich durch ihre klare und nüchterne Sprache aus, die es ermöglicht, in den Maßnahmen des jüngsten Krisenmanagements die Tradition einer »politökonomischen Machtfigur« zu erkennen, die es sich in den unsichtbaren Nischen des politischen Systems eingerichtet hat. Aus diesen Ecken der Anonymität heraus befördert die von Vogl beschriebene »parademokratische Ausnahmemacht« unaufhörlich die Annäherung von Regierungshandeln und Marktlogik, um das Ökonomische zum eigentlichen Zweck exekutiver und legislativer Bestimmungen zu machen. »Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert«, schreibt Vogl am Ende seiner Analyse. Da hat man begriffen, dass die Nationalstaaten schon lange nicht mehr souverän sind und die Europäische Union – ohnehin mit einen gigantischen Demokratiedefizit ausgestattet – dieser Souverän noch nie gewesen ist.
Vor diesem Hintergrund bietet sich an, die politischen Maßnahmen, mit denen etwa Griechenland derzeit konfrontiert ist, noch einmal genau anzuschauen. Unschwer entdeckt man dann die »bipolare Maschine der politischen Ökonomie«, die dazu geführt hat, dass der Reichtum in den Händen weniger wächst, während mehr und mehr Menschen in prekäre Lebenslagen rutschen. Aber die nächste Drohkulisse, die diesen klaren Blick verstellt, haben Christine Lagarde (IWF) und Mario Draghi (EZB) als Agenten der transnationalen parademokratischen Finanzindustrie und Gläubige der Oikodizee mit dem apokalyptischen Szenario einer Europleite längst errichtet.
[…] Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt und Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik. Ther sagte während […]
[…] ausgewählt wurde. Ich sollte die Ehre haben, Joseph Vogls Funktionsanalyse der Finanzpolitik Der Souveränitätseffekt zu […]
[…] Als moving target ist die neoliberale Agenda nur schwer zu fassen. »Im Neoliberalismus gab es ebenfalls einige ideologische Fixpunkte, den Primat der Ökonomie, eine grundsätzliche Kritik am Staat sowie die Intention, ihn zurückzudrängen (eines der Motive hinter der breit angelegten Privatisierung), und ein bestimmtes Menschenbild, das des Homo oeconomicus«, schreibt Ther. Konkreter fasste es der Washington Consensus aus dem Jahr 1989. Die darin verfassten zehn ökonomischen Gebote hatten vor allem die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und das US-Finanzministerium festgeschrieben. Bewähren sollten sich die Gebote in den Staaten Südamerikas, die in den 80er Jahren von einer heftigen Inflation betroffen waren. Die hinter diesen Prozessen steckenden Funktionalitäten der Finanzwirtschaft sowie die daraus folgende Selbstermächtigung der Finanzinstitutionen zu einer verdeckt-offenen Weltregierung unter dem Deckmantel des Neoliberalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt Joseph Vogl eindrucksvoll in seiner Analyse Der Souveränitätseffekt. […]
[…] Kontinent von Philipp The (hier zu unserer Rezension), Der Souveränitätseffekt von Joseph Vogl (hier zu unserer Rezension), Der lange Sommer der Theorie von Philipp Felsch (hier zu unserer Rezension) oder Mythos Redemacht […]
[…] anderen Seite war diese Diskussion auch zu erwarten. Die Krisen unserer Zeit – zu denen ja auch reizvolle Krisen wie die des Bankensystems gehören – bringen aber leider nur unwirtliche Ergebnisse hervor. Immer und immer wieder werden […]