So bunt war die Nominierungsliste für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse schon lange nicht mehr. Von der Pferdestudie über die kulinarische Reise und die biografische Annäherung bis hin zur klimapolitischen Kampfschrift ist alles dabei. Alles in allem scheint bei der Auswahl eher die Flucht aus als die Konfrontation mit der Welt leitgebend gewesen zu sein. Für unseren Autor trotz einiger lohnenswerter Lektüren ein schlechtes Zeichen.
Ein Vierteljahrhundert nach Ende der Geschichte finden wir uns in einer ungeordneten und wilden Welt wieder. Es herrscht Krieg, nicht weit weg, sondern vor unserer Haustür. In diesen Zeiten erscheint Europa als »das gelobte Land«. Menschen aus Afghanistan, Eritrea, Irak und Syrien fliehen hierher, stoßen dabei aber auf die wieder errichteten Grenzen von subjektivem Nationalismus und nationalstaatlichen Egoismen. Die Europäische Union, diese »ever closer union«, desintegriert sich zusehends. Deutschland durchzieht ein tiefer Graben: Auf der einen Seite stehen jene, die mit der Bundeskanzlerin ein trotziges »Wir schaffen das!« von sich geben, auf der anderen Seite jene, die gerne wieder in jener Welt leben wollen, die mühsam und unter Schmerzen überwunden wurde.
In diesen Zeiten wären Bücher gefragt, die uns Schneisen durch die Unvernunft der Welt schlagen. Bücher, die die Welt nicht besser machen, sie uns aber ein wenig erklären. Die Auslobung des diesjährigen Preises der Leipziger Buchmesse 2016 für Sachbuch/Essayistik wäre die ideale Gelegenheit, jene Autor*innen auszuzeichnen, die mutig genug sind, diese Lichtungen der Erkenntnis zu schlagen. Man hatte auf Nominierungen in der Qualität des letzten Jahres gehofft, als mit Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent von Philipp The (hier zu unserer Rezension), Der Souveränitätseffekt von Joseph Vogl (hier zu unserer Rezension), Der lange Sommer der Theorie von Philipp Felsch (hier zu unserer Rezension) oder Mythos Redemacht von Karl-Heinz Göttert gleich vier sehr politische Werke auf der Liste der besten Sachbücher landeten. Mit Die Ordnung der Welt von Ronald Menzel hätte eine großartige Studie über die Vergangenheit und Zukunft unseres Globus bereit gestanden. Buch und Autor wurden jedoch nicht nominiert.
Statt Sinn stand dieses Jahr die Sinnlichkeit im Vordergrund. Etwa bei Im Restaurant – Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne von Christoph Ribbat. Warum es dieses Buch auf die Bestenliste geschafft hat, wird der Weisheit der Jury vorbehalten zu sein. Ribbats Werk ist eine Compilation von Storys, die irgendetwas mit Locations zu tun haben, wo gekocht, gegessen und getrunken wird. Gepflegter Anekdotismus am Stammtisch der kulinarischen Wissenschaft. Doch, doch, man lernt etliches und unterhaltsam sind die Geschichten aus dem Bauch der Moderne. Gut geschrieben sind sie ebenfalls. Das erste Sachbuch, in dem der Cliffhanger als stilistisches Mittel zur Aufführung kommt.
Was Christoph Ribbat uns aber mit all diesem sagen möchte, bleibt unbestimmt bis vage. Die biographischen Notizen einer Frances Donovan, eines George Orwell, eines Alexandre Balthazar Lauren Grimod de la Reynière, Joseph Roth, Nicola die Camillo und Janina Schmitt, Barbara Ehrenreich und Günter Wallraff blinken auf und verstrahlen schnell. Es ist ein analyse- und deutungsfreies Buch, wie Ribbat selber vermerkt, eine Aneinanderreihung von »Einzelfällen, die nur möglicherweise repräsentativ sind«.
Der Paderborner Kulturwissenschaftler versteht sich als Flaneur durch den Kosmos der Küchen, als teilnehmender Beobachter unter Köchinnen und Gastronomen, Kellnern und Bedienungen, Gourmets und Gourmands. Und leider ist die Essenz seines Buches so dürftig wie seine Methodik: »Im Restaurant, an einem Brennpunkt der Moderne, erhitzen sich Erfahrungen. Der Körper arbeitet und genießt auf besonders tief empfundene Art. Begeisterung, Ekel, Freude, Hektik, Gefühle des Dazugehörens und der Exklusion wirken hier stärker als anderswo. Um diese Intensität lebendig zu machen, wurde einiges an methodischer Raffinesse geopfert. Das Material musste noch fast roh auf den Tisch.« Dies klingt wie eine intellektuelle Kapitulation. Es ist eine.
Wie kunstvoll eine Kulturgeschichte wirklich geschrieben werden kann, hat Ulrich Raulff in seinem Meisterwerk Das letzte Jahrhundert der Pferde – Geschichte einer Trennung unter Beweis gestellt. Bereits auf den ersten siebzehn Seiten dieses Buches entwickelt er mehr Tiefgang als Ribbat auf 200. Er legt die vielfältigsten Dimensionen seines Themas dar und begeistert mit einer emotionalen Nähe, die den meisten Fachbüchern abgeht. Es wäre keine Überraschung, wenn der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach den Leipziger Buchpreis in der Kategorie Sachbuch/Essayistik erneut gewinnen würde. Er erhielte ihn nach 2010 dann das zweite Mal, als er für Kreis ohne Meister über die Jünger von Stefan George ausgezeichnet wurde.
Raulff kann Sachbuch, aber er kann vielmehr als das. Raulff ist ein eleganter Essayist, der in virtuoser Leichtigkeit die verschiedensten Aspekte der Kunst- wie Sozialgeschichte, der Verkehrs- und Literaturgeschichte, der Agrar- und Kriegsgeschichte, der Ideen- und Medizingeschichte miteinander kombinieren kann. Nie als eitle l’art pour l’art, sondern stets als Mittel der Welterklärung. Auch deswegen, weil der ehemalige Feuilleton-Journalist der FAZ und der Süddeutschen Zeitung einen Teil seiner eigenen Welt, seiner eigenen Vergangenheit nachspürt. Eine Vergangenheit, in der es Pferde noch gab und mit ihnen die Spatzen, die sich an den Pferdeäpfeln labten. Eine Vergangenheit in den fünfziger Jahren, in der Pferde noch so selbstverständlich waren, dass die Mutproben, die Raulff in seiner westfälischen Kindheit ablegen musste, stets etwas mit Pferden zu tun hatten. Er hat die letzten Zuckungen des letzten Jahrhunderts der Pferde erlebt. Nun sind sie verschwunden und sie finden lediglich im vorpubertären Mädchenglück von Ponyhöfen ihr letztes Reservat. Gemeinsam mit Wendy, Hanni und Nanni, Bibi und Tina und den anderen Mädchen vom Immenhof.
Der »Kentaurische Pakt« verband aber mehr als sechstausend Jahre Mensch und Pferd, machte sie zu einer Arbeitsgemeinschaft und schuf damit die Voraussetzung zivilisatorischer Höchstleistungen. Die Symbiose von Mensch und Pferd endete mit dem langen 19. Jahrhundert. Mit dem Ersten Weltkrieg ging nicht nur das Alte Europa zugrunde, sondern auch der letzte große Krieg mit Pferden. Zwischen 1914 und 1918 hörten die Pferde auf, auf dem Schlachtfeld zu fallen, um künftig auf den Verbindungslinien zu sterben, wie der Autor schreibt. Vielleicht markiert die Erfindung der Raupenketten, die die ersten primitiven Panzer zum Angriff querfeldein befähigten, das wahre Ende der Kavallerie. Die kinetische Energie der Pferde, auf dessen Grundlage Bewegungskriege mit Pferden möglich waren, konnte technologisch adäquat ersetzt werden. Fortan benötigte man die Pferde lediglich als Lasttiere, aber auch diese Rolle sollten sie rasch verlieren. Über den Zweiten Weltkrieg, speziell über den Krieg im Osten, sagte Reinhart Koselleck, der intellektuelle Pate des Buches, dass er ohne Pferde nicht geführt, mit Pferden aber nicht gewonnen werden konnte.
Etwas Entscheidendes ging am und im Krieg mit den Pferden verloren. Raulff verweist auf einen Bildband, in dem Ernst Jünger 1930 Fotos – private Aufnahmen und Propagandabilder, Offizielles und Persönliches – veröffentlichte. In Der Antlitz des Weltkrieges finden sich nicht wenige Aufnahmen von toten Pferden. Warum? Weil, wie Raulff schreibt, Jünger damit die Möglichkeit schafft, sich mit den Opfern des Krieges zu identifizieren und Mitleid auszulösen. »Die Bilder toter Soldaten mögen Grauen erwecken, die Bilder toter Pferde erwecken Mitleid.« Über Grenzen hinweg: Le Cheval n’a pas de patrie. Vielleicht reagieren wir auf die Kriege in Syrien, Libyen, im Irak und in Afghanistan auch deshalb abgestumpft, weil das menschliche Grauen dort kein Mitleid, sondern nur Ekel und Abwehr in uns auslöst.
Das letzte Jahrhundert der Pferde ist eine geordnete Sammlung von Betrachtungen, die oft überraschend wirken, auch in ihrer Anordnung, aber nie zufällig oder überkonstruiert gesetzt sind. Sie erzählen Real-, Wissens- und Bildergeschichten und »reflektieren die drei Ökonomien, in denen das Tier seine alte, zentrale Rolle als Beweger spielte, als großer Umwandler von Energie, Wissen und Pathos.« Die assoziative Kraft, der intellektuelle Reichtum, der emotionale Zugriff des Autors verlangt viel von den Lesern, er lässt ihn kaum zu Ruhe kommen. Aber gerade deswegen kann man dieses erhellende Buch nicht aus der Hand legen. Weil einem ständig die vergessenen und verdrängten Erinnerungen in den Sinn kommen, in denen Pferde eine große Rolle spielen: Das große Porträt des eigenen Großvaters – ein ausgewiesener Pferdeexperte –, wie er einen stolzen Trakehner am Zügel hält. Oder das Bild der eigenen glücklichen Kinder beim Striegeln von Naiko auf dem Reiterhof in Niederbayern. Raulff hat kein Pferdebuch geschrieben, »sondern das Buch eines Historikers über das Ende des Zeitalters, in dem Menschen und Pferde gemeinsam Geschichten machten«. Es ist ein ungemein bereicherndes und beglückendes Werk.
Einer der Künstler, die von Ulrich Raulff gelegentlich genannt werden, ist Adolph Menzel. Ein begeisterter Reiter, so der Autor, der 1867 bereits acht Pferde in seinem Stall zählte. Es waren auch Pferdeköpfe, die Menzel als Studienobjekte für seine Ölskizzen wählte. 1848 hatte er sich diese von einem Abdecker geholt, um sie auf mehreren kleinen Ölbildern zu verewigen. Eines der vielen wundervollen Details, die Werner Busch über den Maler, Zeichner und Illustrator erwähnt. Der Kunsthistoriker und Emeritus der Berliner Humboldt-Universität hat eine glänzende Studie über Menzel zu dessen 200. Geburtstag im Dezember 2015 verfasst. Es ist aus bibliophiler Hinsicht das schönste und ästhetischste der hier besprochenen Bücher. Dem herausgebenden C.H.Beck-Verlag gebührt großes Kompliment und Lob, denn er hat den Lesenden ein Buch geschenkt, das auf jeder Seite ausstrahlt, dass es mit viel Kompetenz, Interesse und Zuneigung gestaltet wurde. Gäbe es einen Verlags-Sonderpreis, der Münchner Verlag müsste ihn bekommen.
Es sei »wahrscheinlich das wichtigste kunsthistorische Buch« des Herbstes, lobte der großartige Florian Illies in einer Besprechung in der Wochenzeitung DIE ZEIT im vergangenen Herbst. Buschs Werk ist vor allem deshalb als besonders gelungen zu betrachten, weil er mitnimmt in seine Wahrnehmungswelt. Er lässt den interessierten Leser Bilder mit seinen Augen betrachten, Details entdecken, stellt sie in historische Kontexte, findet Erklärungen und fördert damit Neues zutage. Als Spezialist für europäische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts ist der Autor stets in der Lage, Menzels Leben und Werk in einer weiten Perspektive zu zeichnen. Mit dem Untertitel seiner Studie führt er gewollt oder ungewollt in die Irre. Adolph Menzel war vielleicht auf der Suche nach der Wirklichkeit, er hat sich die Wirklichkeit aber auch immer so konstruiert, dass sie auf seinen Bildern am wirkungsvollsten und schönsten zu Geltung kommt. Busch zeigt an einigen Beispielen wunderbar auf, wie sehr der Maler sich die Realität konstruiert. Die Komposition des Bildes ist das Wesentliche, nicht die Realität. Mittelachse, Horizontlinie, Goldener Schnitt.
Vielleicht hat dies aber auch damit zu tun, dass Menzel stets herausgefordert war, neue Perspektiven auf die wahre Welt einzunehmen. Er war ein sehr kleiner Mann, er maß gerade einmal 140 Zentimeter. Wegen seiner »Gnomenhaftigkeit« war er nicht nur vom Militärdienst befreit, sondern auch von der Welt der Erotik und Sinnlichkeit ausgeschlossen. Menzel wurde zum Menschenfeind, »besonders dem weiblichen Geschlecht gegenüber«. Nur inmitten seiner Familie, bei Mutter und Geschwistern, fand er emotionale Nähe. Buschs Sensibilität gegenüber dem Subjekt seiner Studie zeigt sich vor allem darin, dass er nicht banaler Küchenpsychologie verfällt, es aber dennoch wagt, Menzels Werk auch psychologisch zu deuten. Die oft ungewöhnlichen Perspektiven in Menzels Arbeiten haben auch damit zu tun, dass er sich die Welt zurechtgerückt hat. Dabei wollte er nicht nur auf die Augenhöhe der anderen Menschen einnehmen, sondern eine erhöhte Position. Menzel, der die Welt von unten nach oben betrachtete, schuf sich seine eigenen Perspektiven auf die Wirklichkeit von oben nach unten.
Er blieb dennoch ein Außenseiter am Rande der Gesellschaft. Es interessierten ihn Hinterhöfe, Baustellen, Bretterverschläge, Gerüste. Das vergisst man gerne, wenn man lediglich den Historienmaler und die großen, staatstragenden, preußischen Ölgemälde wie Das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci oder Das Eisenwalzwerk vor Augen hat. Buschs faszinierende Reise in die Mal- und Zeichenwelt Menzels lässt uns viel neu erkennen. Allein seine Deutung von Die Piazza d’Erbe, die Krönung in Menzels Spätwerk, ist ein großer intellektueller Genuss. Busch hat eine Studie geschrieben, nach dessen Lektüre man Bilder neu betrachtet, intensiver wahrnimmt, andere Fragen an sie stellt. Und Dank des Verlages ist es ein Buch, das man häufig und gerne in die Hand nehmen wird, um zu blättern, zu staunen, zu betrachten, zu schmökern, zu genießen. Ein sinnliches Buch, das uns weit wegführt von dieser Welt.
Auf der Nominierungsliste findet sich ein weiteres, eher biographisch angelegtes Buch. Der Philosoph Jürgen Goldstein hat über Georg Forster, den Naturforscher, den Weltreisenden und Revolutionär, geschrieben. Zwischen Freiheit und Naturgewalt, so beschreibt der Autor das bewegte Leben des Mannes, der James Cook auf dessen zweiter Weltumseglung begleitete, der als einer der ersten Vertreter der wissenschaftlichen Reiseliteratur gilt, der in Mainz die erste deutsche Republik ausrief und der sein Leben inmitten der Französischen Revolution in Paris ließ. Er lebte ein kurzes, aber erlebnisreiches Leben.
Forster wurde in der Nähe von Danzig geboren, in einem Nest namens Nassenhuben im damaligen preußischen Teil Polens. Mit den Worten des Biographen: »Es wird langweilig genug gewesen sein, um einen unbändigen Appetit auf die Welt zu wecken.« Auch sein Vater langweilte sich dort und so nahm er liebend gern den Auftrag der damaligen Zarin Katharina II. an, eine Reise in die Siedlungsgebiete der deutschen Auswanderer zu unternehmen, um sich ein Bild von der Lage zu machen und einen Bericht über die Zustände vor Ort anzufertigen. Georg kam als Reisebegleiter mit, der Rest der Familie blieb notdürftig versorgt zurück. Und so legten Vater und der zehnjährige Sohn in sechs Monaten viertausend Kilometer zurück: Von Petersburg reisten sie über Moskau bis zu den Kolonien an der Wolga. Unterwegs trafen sie auf Kalmücken, Tataren und Kosaken und lernten die schier unendlichen Landschaften Russlands kennen. Die Reisen ersetzte die formale Schulbildung, die Georg nie kennenlernte.
Als Georg siebzehn Jahre alt war, durfte er als Zeichner eine Expedition von James Cook begleiten. Diese Reise an Bord der HMS Resolution sollte drei Jahre und 18 Tage dauern. Sie führte Forster unter anderem nach Tahiti, dessen Gesellschaft ihn begeisterte. Dort fand er das Ideal einer Gemeinschaft von Gleichen wieder, zumindest meinte er es gefunden zu haben. »Zu den überraschendsten Erfahrungen, die Forster auf Tahiti macht, gehört die nur schwach ausgebildete Hierarchie unter den Eingeborenen.«
Tahiti ist ein politisches Erweckungserlebnis, Forster sieht hier das Bild von wahrer Volks-Glückseligkeit realisiert. Goldstein beschrieb das bereits in seiner Sammlung von Entdecker-Porträts Die Entdeckung der Natur eindrücklich. Forster hat auf dieser Südsee-Insel die Realität einer Idee gesehen, nämlich die Gleichheit aller Menschen in einer horizontalen Gesellschaft, die sich zu dieser Zeit auch in Europa herausbildete, etwa bei Jean-Jacques Rousseau. Die Erlebnisse auf Tahiti legten den Grundstein für seinen weiteren Weg: Forster wird Jakobiner, Mitbegründer der kurzlebigen Mainzer Republik und sah in der Revolution ein Naturereignis, nämlich die »Selbstentzündungen der Vernunft in einem ganzen Volke«.
Die Revolution verschlug ihn nach Paris. Im Auftrag der Mainzer Republik hielt er am 30. März 1793 eine Rede vor dem Pariser Konvent, mit der ihr Beitritt zur französischen Mutterrepublik beantragte. Das revolutionäre Glück währte nicht lange, schon wenige Tage danach zeigte er sich von den »herzlosen Teufeln« entsetzt, die die Revolution in eine Schreckensherrschaft verwandelt hatten. Weil Forster als deutscher Untertan mit der französischen Revolutionsregierung kollaborierte, verfiel er der Reichsacht. So konnte er nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Er blieb in Paris, mittellos und ohne seine Familie, die er in Mainz zurückgelassen hatte. »Ich habe nun keine Kräfte mehr zum Schreiben. Lebt wohl! hütet Euch vor Krankheit; küßt meine Herzblättchen«. Das sind seine letzten Zeilen. Georg Forster verstarb im Januar 1794 mit 39 Jahren an einer Lungenentzündung in Paris.
Jürgen Goldstein hat eine spannende Biographie über das ereignis- und erlebnisreiche Leben von Georg Forster verfasst. Er stellt den Zusammenhang in Forsters Biographie zwischen dem Weltreisenden, dem Naturforscher und dem Revolutionär her. In der Südsee hatte Forster den Menschen als Naturwesen entdeckt, und das leibhaftig. Sein politisches Ideal, eine egalitäre Gesellschaft, war zum Vorschein gekommen. Sie war politisch gestaltbar, so seine Überzeugung, durch eine Revolution. Geschichte wird gemacht, auch wenn sie das Leben kostet!
Das Buch unter den Nominierungen, das die meisten politischen Implikationen in sich trägt, stammt von Hans Joachim Schellnhuber. Er hat das Buch Selbstverbrennung über die, wie er es im Untertitel nennt, fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff geschrieben. Es ist auch in anderer Weise eine Dreiecksbeziehung, nämlich die einer biographischer Skizze, einer klimapolitischen Streitschrift und eines Sachbuchs. Vielleicht ist es auch deshalb so umfangreich geworden.
Wissenschaftlich ist Schellnhuber über jeden Zweifel erhaben. Er ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), das er 1992 gründete und das unter seiner Leitung zu einem der weltweit angesehensten Institute im Bereich der Klimaforschung wurde. Seit 2009 ist er der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung »Globale Umweltveränderungen« und langjähriges Mitglied des Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz Weltklimarat. Schellnhuber war einer der Ersten, der auf die verheerenden Konsequenzen des Klimaproblems hinwies und nachhaltige Lösungen forderte. Er forderte zeitnahe politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Maßnahmen zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels, vor allem durch die Umstellung von fossilen auf erneuerbare Energiequellen. Damit prägte er auch die internationale politische Diskussion entscheidend. Kurzum, Hans Joachim Schellnhuber ist Mister 2 Grad.
So ist auch der Teil des Buches der spannendste, in dem Schellnhuber über die die diversen Gipfel zur Klimapolitik berichtet. Er führt uns ein in die Welt weltpolitischer Verhandlungen, die sich oft genug als Schmierenstücke mit absurden Einigungen und skurrilen Koalitionen entpuppen. Als Leser wünscht man sich desweilen einen analytischeren Zugang zu den bürokratischen Drehs der klimapolitischen Aushandlungen als es der Anekdotismus, den Schellnhuber pflegt, zulässt.
Die stärksten Passagen finden sich in seinen Ausführungen zur historischen Einordnung des Klimawandels. Seine Argumentation reicht dabei ebenso weit zurück, wie sie weit in die Zukunft zielt. Hier kann er sein enormes Wissen über den Klimawandel und dessen Folgen ausbreiten. Er verweist darauf, dass die Klimaveränderung keine neue Erkenntnis ist, sondern dass das Problem seit etwa zwei Jahrhunderten wahrgenommen wird. Wie dies mit unserer Art zu wirtschaften zusammenhängt, wie unsere Umweltprobleme mit der Wirtschafts- und Technikgeschichte der Industrialisierung sowie des Einstiegs in die fossilen Brennstoffe zusammenhängen, wird anschaulich aufgezeigt. Die ersten Folgen für Gesundheit, Umwelt, Natur, Landwirtschaft und Infrastruktur, die uns bei fortschreitender Erwärmung der Erde erwarten, werden drastisch und unmissverständlich beschrieben.
Nun ist es so, dass auch Wissenschaftler Menschen sind und zuweilen auch homines politici. Und auch sie treffen im privaten wie im politischen Leben bei der einen oder anderen Gelegenheit Entscheidungen, die ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen entgegenstehen. Wissenschaft analysiert die Logiken, in denen Politik steckt, sie ersetzt sie aber nicht.
Um seine Thesen zu stützen, bezieht sich der Autor auf stark pessimistische Studien, die zudem noch in seinem eigenen Institut erscheinen. Fortschritte, dem Klimawandel und den sozialen Folgen zu begegnen, werden nicht oder nur am Rande behandelt. Eine fundierte Auseinandersetzung mit den Klimaleugner oder auch mit eigenen medialen Fehler kommt dabei zu kurz. Das Buch ist ein rhetorischer Kampf um die Deutungshoheit im Hinblick auf den Klimagipfel, der Anfang Dezember 2015 in Paris stattfand. Kein Wunder, es erschien kurz davor. In dem genannten Dreiecksverhältnis zwischen Sachbuch, biographischer Skizze und klimapolitischer Streitschrift gewinnt letzteres eindeutig die Überhand. Da sich ferner ein weiteres Moment durch Schellnhubers Buch zieht, nämlich dessen Eitelkeit, die wie der Klimawandel grenzenlos scheint, verliert es als Sachbuch deutlich an Substanz.
Keine Frage, Selbstverbrennung ist ein wichtiges Buch, gerade in seiner politischen Dimension. Und um erfolgreich in der Politik zu sein, scheint manchmal der Säbel geeigneter zu sein als das Florett. Aber bei einem Buchpreis für Essayistik und Sachbuch sollte die Lust am Streit nicht das entscheidende Kriterium sein. Mit anderen Worten: In Selbstverbrennung schlägt die persönliche Hoffnung des Autors dessen eigene Analyse. Die politischen Empfehlungen eines Wissenschaftlers richten sich allzu oft nach Sympathie und Antipathie gegenüber anderen Forschern in diesem Feld. Für ein Pamphlet genau der richtige Ansatz, für ein Sachbuch eher nicht.
Und so steht man nach mehreren Tausend Seiten Lektüre ein wenig müde vor den fünf Büchern und fragt sich, welches Buch denn den Leipziger Buchpreis 2016 verdient hätte. Man weiß eher, welches nicht. Unter den verbliebenen könnte man das eine oder andere Buch mit gutem Gewissen prämieren. Sie weisen uns in einem Jahr 2016, das nur drei Monate brauchte, um zum wildesten und chaotischsten Jahr des letzten Vierteljahrhunderts zu werden, aber keine Wege, die Unsicherheiten und Unordnungen der Welt wegweisend einzuordnen.
Die aktuelle Auswahl zeugt von intellektueller Weltflucht in Vergangenheit und Ästhetik. Sinnlichkeit statt Sinn. Man wünscht sich der Jury des Jahres 2017 schon heute ein besseres Händchen für die Auswahl, denn es ist nicht zu erwarten, dass sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, Europa und der Welt künftig derart verändern, als dass sie sich selbst erklären.
Ein Buchpreis für Essayistik und Sachbuch sollte an ein Buch gehen, dass den Lesern die Welt näherbringt und verständlicher macht. Ob durch politische, historische oder ästhetische Konzepte, spielt dabei keine Rolle, ob durch den Blick zurück oder den nach vorn ebenso wenig. Wenn aber dieser Preis an ein Buch geht, das dazu beiträgt, den Wirklichkeiten der Welt zu entfliehen, dann ist das in einer Zeit, in der das Wegschauen und Ignorieren zum politischen und gesellschaftlichen Überlebensprinzip erhoben wird, alles andere als ein gutes Zeichen.