Interviews & Porträts, Literatur, Roman

Stranger than fiction oder: Der Raum, wo das Neue wäre, bleibt unerreichbar

Nis-Momme Stockmann | Foto: Thomas Hummitzsch

Der Dramatiker Nis-Momme Stockmann kann sich berechtigte Hoffnungen auf den Preis der Leipziger Buchmesse machen. In seinem 700-seitigen Debütroman »Der Fuchs« schlittern die Leser auf verschiedenen, kompliziert ineinander gewundenen Erzählbahnen durch das komplexe Ideen- und Gedankengebäude des Erzählers Finn Schliemann, in dessen Kopf Zustand und Perspektive von Mensch, Welt und Kosmos vielstimmig verhandelt werden. Ein Gespräch über das Ende der Postmoderne, die Lage der Nation, Verramschungsklauseln und bierlaunige Theaterkritik. Oder anders gesagt, ein Gespräch über »reden und schreiben und meinen und denken und fühlen«. 

Herr Stockmann, Sie waren bislang als Dramatiker in aller Munde, nun starten Sie als Romancier durch. Hat Ihnen die Erfahrung als Theaterautor beim Romanschreiben geholfen?

Ich glaube schon, dass ich als Dramatiker viel gelernt habe. Man braucht am Theater eine große Genauigkeit, sowohl in der Tektonik als auch in der Ökonomie eines Texts. Dialoge muss man beispielsweise entkernen, denn wenn Figuren geschwätzig werden, fliegt einem das Stück sofort um die Ohren. Die Leute schalten dann sofort ab. Ein Text wird von einem Dramaturg am Theater auch nach solchen Schwächen durchsucht. Dieser genaue Blick ist auch bei einem komplexen Format wie »Der Fuchs« hilfreich. Die Erzählung beginnt wie ein konventioneller Roman – die meisten lesen den Anfang wie eine klassische Coming-of-Age-Geschichte –, doch nach und nach entsteht etwas ganz anderes, erzählerisch und strukturell. Diese Entwicklung fasziniert mich, wäre aber nicht möglich gewesen, wenn ich mit einer kryptischen Struktur gestartet wäre. Da verliert man gleich die Leser.

Wie kam es zu dem Roman? Verwirklichung des Lebenstraums oder Ergebnis der Suche nach schriftstellerischen Alternativen?

Wer will nicht mal einen Roman schreiben? Insofern natürlich auch ein Lebenstraum. Aber meine Autorenstimme war schon immer eher belletristisch. Ich fühle mich in der Prosa zuhause, das merkt man meinen Theatertexten auch an. Letztendlich ist der Zufall in meiner Biografie, dass ich für das Theater schreibe, da bin ich eher so reingerutscht. Ich glaube, es gibt auch niemanden, der sich willentlich entscheidet, Dramatiker zu werden. Vielmehr befindet man sich nach einer Reihe von Zufällen plötzlich in dieser Rolle. Aber ich will nicht falsch verstanden werden, ich liebe das Theater! Aber die Idee, Prosa zu machen, hatte ich schon immer. Ich bin von diesem Pfad aber einfach ein wenig abgekommen.

Inwiefern unterscheidet sich das Schreiben eines Romans vom Schreiben eines Theaterstücks?

Sie sind plötzlich sehr alleine. Im Theater gibt es viele Menschen, die lesen und begutachten, was Sie schreiben. Bei einem Roman sind Sie aber der Cowboy in der Wüste. Das ist einerseits wahnsinnig schön, weil niemand in ihren Texten herumfuhrwerkt, andererseits ist es aber auch eine große Verantwortung, die, zumindest bei mir, einen immensen Druck verursacht. Ich war während der Zeit des Schreibens immer sehr ängstlich, habe mich gefragt, ob das jemand versteht. Erst jetzt, wo die ersten Leser sagen, dass sie mit dem Buch etwas anfangen können, fällt dieser Druck von mir ab. Wahrscheinlich schlafe ich deshalb gerade auch so viel.

Ihr Debütroman kandidiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. Was bedeutet Ihnen diese Nominierung.

Das weiß ich selbst noch nicht so genau, ich kenne den Literaturbetrieb nicht. Aber ich weiß schon, dass Leipzig eine wichtige Sache ist und mich wahnsinnig gefreut, als die Nominierung bekannt wurde.

Wechseln Sie jetzt in die Literatur und damit das Genre? Oder macht die Nominierung eher Angst vor einem zweiten Roman?

Nein, oder vielleicht doch. »Der Fuchs« ist ja selbst ein wilder Genremix, der ein gemeinsames Dach hat. Insofern, warum nicht Genrewechsel. Angst vor einem zweiten Roman habe ich jedenfalls nicht, aber offen gesagt bin ich gedanklich noch viel zu sehr beim ersten. Ich habe ihn noch nicht ein Mal am Stück gelesen, weil ich mich als Autor immer noch zu nah dran fühle, um ihm als Leser begegnen zu können.

Geht das überhaupt, als Autor seinem Roman als Leser zu begegnen?

Doch, das mache ich bei meinen Theaterstücken ja auch. Nach einem Jahr nehme ich sie noch einmal zur Hand. Ich lese die Texte dann mit einer anderen inneren Stimme und einem klareren Blick.

Und was denkt dann der Leser Nis-Momme Stockmann über den Autor?

Meistens gefällt mir das, was er macht (lacht). Aber manchmal finde ich schon auch, dass Dinge, die er vor Jahren geschrieben hat, prätentiös oder naiv sind. Dann stimmt auch mal der Ton nicht ganz oder ich habe zu bestimmten Figuren die Zuneigung verloren. Das ist ja auch immer abhängig von der Lebensphase, in der ich mich zu dem Zeitpunkt befinde. Es ändert sich eben nicht nur die Sicht auf den Text, sondern man ändert sich auch als Mensch.

Hat Sie der Roman verändert?

Ich würde nicht soweit gehen, zu behaupten, dass er einen anderen Menschen aus mir gemacht hat, aber ich habe mir damit schon etwas bewiesen. Natürlich hatte ich den Wunsch, einen Roman zu schreiben, aber ich hätte diesem Wunsch nicht nachgehen müssen. Wenn man das mögliche Scheitern vermeidet, schützt man sich ja auch vor Enttäuschung.

Wann schreiben Sie? Wachen Sie morgens schon voller Ideen auf, die es verlangen, schnellstens aufgeschrieben zu werden, oder verarbeiten Sie ihren Tag abends am Rechner?

Ich schreibe morgens. Ab dem Nachmittag bin ich verbraucht, da ist der Tag für mich als Autor schon gelaufen. Die wichtigsten Stunden sind die am Morgen, da stimmt mein Blutzuckerhaushalt. Wenn ich fit bin, schaffe ich es, gegen acht am Schreibtisch zu sitzen. Es gibt aber auch Tage, da quäle ich mich aus dem Bett und brauche bis elf, bis ich in die Gänge komme. Ich bin kein Frühaufsteher und schreibe stundenmäßig auch nicht wahnsinnig viel, maximal vier bis fünf Stunden am Tag.

Ihren Theaterstücken wird neben viel Lob immer wieder auch die Kritik zuteil, sie seien zu lang. Ihr Roman umfasst über 700 Seiten. Spielt Menge für Sie eine Rolle? Ist das in Ihren Augen überhaupt eine kritikrelevante Kategorie?

Nein, das ganz sicher nicht. Ich habe darüber auch gerade mit einem Kollegen von Ihnen gesprochen, weil aktuell ja viele dicke Bücher geschrieben werden.

Ehrlich gesagt werden sogar viel mehr dicke Bücher als dünne geschrieben…

Wenn das die Tendenz ist, dann ist Heinz Struncks »Der goldene Handschuh« (im gleichen Verlag erschienen und ebenfalls für den Leipziger Buchpreis nominiert, A.d.A.) ja fast exzeptionell mit seinen gerade einmal 250 Seiten. Ich glaube, dass das Genre Roman auf der Aussageseite Möglichkeiten bietet, die andere Medien nicht haben. Zugleich ist die Komplexität von Aussage gar nicht so wesentlich für meinen Roman wie die Komplexität von Gefühl. Wenn Sie Roberto Bolaños »2666« lesen und das, was er über seine Figuren aussagt, dann werden sie feststellen, dass dort nichts Außergewöhnliches geschildert wird. Das Verrückte dieses großen Romans ist das Gefühl, dass er beim Leser pflanzt. Dieses Gefühl bekommt man nur über den Raum des Romans. Man hätte da nichts eindampfen können, das Buch hätte nicht kürzer sein können. Es braucht eben eine gewisse Komplexität des Denkens, um ein Zeitgefühl einfangen zu können.

Für mich ist »Der Fuchs« auch ein Buch über ein bestimmtes Zeitgefühl. Wenn Sie mich fragen würden, wovon dieses Buch handelt, würde ich Ihnen antworten, dass es vom Ende der Postmoderne und dem Wirklichkeitsbild dieser Epoche handelt. Davon, wie wir Wirklichkeit verstehen und wie wir selbst verstehen. Wie die alten Ideologien zerbrechen und eine große Sehnsucht nach neuen Lebensentwürfen herrscht. Das kann ich natürlich in einem Essay analytisch erklären. Aber das Lebensgefühl kann ich nicht transportieren, ohne es in das komplexe Gefäß zu stecken, in dem ich es selbst sehe und empfinde. Darin besteht auch die Magie eines Romans.

Taucht man in einen Roman ein, lernt man weniger über den Autor als vielmehr über sich selbst. Ungeachtet, ob mir dies mit meinem Roman gelingt, ist das eine Qualität, die einen guten Roman ausmacht. Wenn ich beispielsweise Kafka lese, dann erfahre ich etwas über mich selbst und nicht über Kafka. Das ist auch der große Irrtum in der Rezeption von Kafka. Man erfährt dabei nichts über ihn, seinen Vater oder die deutsche Bürokratie, sondern nur etwas über sich selbst (vgl. unser Interview mit David Zaine Mairowitz).

978-3-498-06153-1(1)
Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Rowohlt Verlag 2016. 720 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen

Sie gelten als politischer Autor. Können Sie damit etwas anfangen?

Dieses Etikett beruht auf dem gängigen Missverständnis mit der Politik in der Literatur. Wir verkennen Gespräche über parlamentarische Politik oder parteipolitische Tendenzen als politisch, wohingegen Diskussionen über das Edle und das Schöne als unpolitisch beziehungsweise ästhetisch empfunden werden. Das führt dann dazu, das man als politischer Autor gilt, wenn man über Flüchtlinge schreibt, oder solche Stücke als politisches Theater empfunden werden. Das ist natürlich Unsinn, denn man ist nicht als Autor, sondern als Mensch politisch. Insofern ist auch jeder Mensch in unserer Gesellschaft per se politisch, denn politisch meint Einstellung und Haltung. Es gibt allerdings ein Missverständnis, wo das Politische in unserer Gesellschaft stattfindet.

Und Sie tragen es ins Theater?

Es ist anders. Wenn man über den Kapitalismus schreibt, gilt man als politischer Autor. Der Kapitalismus ist aber kein politisches System, genauso wenig wie er einfach nur ein ökonomisches System ist. Er ist vor allem ein soziales Phänomen, das aus sozialen Strukturen hervorgegangen ist, die viel älter sind, als der Kapitalismus selbst.

Ich finde es auch vollkommen natürlich, über ihn zu schreiben, schließlich lebe, arbeite und denke ich in ihm sowie über ihn nach. Und weil ich es so naheliegend finde, amüsiert mich gewissermaßen, wenn sich Leute darüber beklagen, dass der Kapitalismus mein großes Thema am Theater sei – ganz egal, ob das nun ein alter Zopf ist oder nicht. Was haben denn die vergangenen einhundert Jahre Kapitalismuskritik gebracht? Haben sie uns näher an seine Auflösung gebracht? Natürlich nicht, der Kapitalismus lebt ganz gut mit, ja, sogar von der Kritik an ihm. Ich frage mich in meiner Arbeit, was für Kulturtechniken möglich sind, um zu seiner Erosion beizutragen. Das Etikett, das ich dafür bekomme, lautet »Politischer Autor«.

Tun Sie sich mit solchen Zuschreibungen schwer?

Ich verstehe, warum Menschen das machen. Schwierig finde ich das nicht, aber ich fühle mich zuweilen missverstanden.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie auf die aktuelle politische Situation blicken? Wenn Menschen nicht mehr nur in Plattenbauten, sondern zunehmend in Turnhallen und Massenunterkünften »weggeräumt« werden?

Reden und schreiben und meinen und denken und fühlen – das sind getrennte Dinge. Das Flüchtlingsthema ist für mich gar kein politisches Thema. Wenn wir unsere Verfassung und das Fundament unserer Gesellschaft anschauen, finden wir dort nichts Politisches. Das Fundament ist immer der Humanismus, der vorsieht, dass wir Menschen, die Schutz suchen, Asyl gewähren. Das steht auch so in der Verfassung, politischen Flüchtlingen müssen wir Asyl gewähren. Deshalb verstehe ich nicht, warum darüber überhaupt diskutiert wird.

Aber nun wird darüber diskutiert. Macht Sie das wütend?

Ja, das macht mich auch wütend. Auf der anderen Seite war diese Diskussion auch zu erwarten. Die Krisen unserer Zeit – zu denen ja auch reizvolle Krisen wie die des Bankensystems gehören – bringen aber leider nur unwirtliche Ergebnisse hervor. Immer und immer wieder werden Populismus und Nationalismus als Allheilmittel herausgekramt, dabei sind das die totgerittensten Pferde überhaupt. Welcher Mensch von Verstand nimmt denn eine Fahne in die Hand, nur weil es gerade schlecht läuft?

Mich macht dieser Populismus oft sprachlos, weil er Kommunikation verhindert. Es gibt keine Ebene der Begegnung, der offenen Kommunikation.

Mir scheint, dass wir am Ende auf derselben Ebene kommunizieren beziehungsweise nicht kommunizieren wie diejenigen, die wir kritisieren. Indem wir ihnen unseren Ärger und unsere Wut entgegenrufen, grenzen wir sie ebenfalls aus und wiederholen genau das, was diese Leute mit den Flüchtlingen machen. Auch wir begegnen Ausgrenzungen mit Ausgrenzen – das ist das Dilemma in den Kommunikationsstrukturen, in denen wir stecken. Das Problematische daran ist, dass alle Leute nur die Andersheit im Gegenüber sehen. AfD und Pegida sehen nur Andersheit, aber auch wir arbeiten uns an der Andersheit ab, an der Andersheit von denen im Gegensatz zu uns. Humanistisch wäre aber, Ähnlichkeiten zu suchen, zu schöpfen und zu forcieren. Es handelt sich hier also um ein Problem des Denkens. Auf das da draußen zu verweisen, wo der Rassismus vermeintlich ist, ist mir zu einfach. Viel interessanter finde ich es, mit dem Rassismus in meiner Nähe oder dem, der von mir kommt, umzugehen. Das ist meines Erachtens der viel spannendere politische Ansatz. Der Rassismus da draußen ist viel abstrakter als mein eigener, mit dem ich tatsächlich umgehen kann. Wir tun nichts gegen Rassismus, indem wir irgendwelche Sachen auf unsere Facebook-Seiten hochladen, Posts schreiben und das Internet zumüllen. Damit schaukelt nur eine populistische Meinung die andere hoch und die Ansichten in unserer Gesellschaft werden immer monotheistischer, zugespitzter und einfacher. Eine echte Debatte funktioniert so nicht.

Sollten wir also alle von der Straße erst einmal zurück in unsere Wohnzimmer gehen, um dort über uns selbst und unsere Rassismen nachzudenken?

Man sollte offenen Fragen auf den Grund gehen und sie für sich selbst beantworten. Die Frage, ob wir das mit den Flüchtlingen schaffen, halte ich für vollkommen normal. Aber statt dem Gedanken Wie soll das bloß klappen? nahezukommen, ihn zu analysieren und sich dazu zu befragen, rufen wir nur lauter »Refugees Welcome«. Das ist die Gegenstruktur, unser Umgang damit. Ich weiß nicht, ob das die richtige Strategie ist, um dem eigentlichen Problem begegnen und konstruktive Antworten auf bestehende Fragen finden zu können. Statt den Rassisten da draußen ihren Rassismus vorzuhalten, finde ich es spannender, mich mit meinem eigenen Rassismus auseinanderzusetzen.

Verlassen wir die Tagespolitik. 2010 forderten Sie bei den Theatertagen in Mühlheim eine neue »Dramaturgie der Zukunft«, mit der das Theater entfesselt und »die dumme Kultur des Verstehens, Verortens und Nutzbarmachens« abgelöst werden solle. Das klingt ein wenig so, als wären Sie damals nicht nur vom Theater, sondern auch von der Kritik enttäuscht gewesen, die alles erklären und bis ins letzte Geheimnis entmystifizieren will.

Ja, das ist auch so. Die meisten Theaterkritiker sind Idioten, nicht menschlich, sondern programmatisch und strukturell. Sie werden schlecht bezahlt, haben wenig Zeit und das, was sie schreiben, schreiben sie deshalb, weil man es von ihnen fordert. Das ist ein systemisches Problem. Wenn ein Kritiker im Publikum sitzt und meint, er müsse am Theater oder dem Publikum herumerziehen, dann ist er da falsch, denn das ist einfach nicht seine Aufgabe. Die besteht vielmehr darin, eine ästhetische Befragung eines Theaterabends vorzunehmen. Auch die kann positiv oder negativ ausfallen, keine Frage. Aber welcher Kritiker beschäftigt sich so ernsthaft und sorgfältig mit seinem eigenen Handwerk, dass er nachvollziehbar erklären könnte, nach welchen Kriterien er sein Urteil fällt. Etwas, das in jedem Beruf Voraussetzung des Handelns ist, eine Klaviatur des Handwerks, existiert hier nicht. Vielmehr ist die Kritik geschmäcklerisch und bierlaunig, und das ärgert mich. Da sitzen dann Universalgelehrte, die aus einer schlechten Laune heraus – weil sie stundenlang mit dem Zug fahren mussten, wenig Geld verdienen oder zu lange inmitten vieler Menschen und schlechter Luft sitzen – Stücke in Grund und Boden schreiben. Wie Theater heutzutage besprochen wird, ist so klein, das ist einfach nur traurig. Vor allem weil diese Kritik so zynisch ist. Wir können keine vom Aussterben bedrohte Kunstrichtung – ganz egal, ob wir über Printmedien oder das Theater sprechen – in die Transformation verhelfen, wenn wir sie öffentlich demontieren.

Ist denn das Theaterpublikum noch ehrlich in seinem Urteil? Es ist lange her, dass ich nach einer Vorstellung ein lautstarkes Buhen im Publikumsraum vernommen habe.

Ich wurde bei meinem jüngsten Abend in Hannover gerade erst ausgebuht. Aber ich finde es gut, wenn da was passiert. Für mich ist Theater das Zukunftsmedium, denn es leistet etwas, was die anderen kanonischen Medien in unserer Gesellschaft nicht mehr können. Es ist weitestgehend quotenunabhängig, schnell und in der Lage, Nischendiskurse darzustellen. Leider wird dieses Medium aber vollkommen anders gebraucht, ist zu einem Medium des Stillstands in einem saturierten System verkommen. Um es da herauszuholen, wühle ich dieses System mit meiner Arbeit gern auf. Es ist okay, wenn man dann auf mich einprügelt.

Ich fand vor allem den Ansatz, »die dumme Kultur des Verstehens, Verortens und Nutzbarmachens« abzulösen, spannend, weil dieser Anspruch auf Ultrarealismus, den Sie am Gegenwartstheater kritisierten, aus meiner Sicht die deutsche Literatur bestimmt. Da gibt es nur wenig Magisches. Wenn man Ihren Roman liest, könnte man meinen, dass sie den Mut zur Uneindeutigkeit auch für die Literatur fordern. Wollen Sie auch die Literatur entfesseln?

Ich habe mit dem Roman das gemacht, was ich immer mache. Wenn produktive Fragen gestellt werden, mit denen die Leser umgehen müssen, dann ist das sehr viel ereignisintensiver, interessanter und produktiver, als wenn Autoren Antworten servieren. Nehmen Sie Heinz Struncks »Der goldene Handschuh«, in dem Fritz Honka und das Hamburger Milieu beschrieben werden. Ein geringerer Autor hätte erzählt, dass die Menschheit so und so oder Fritz Honka eine Bestie ist, weil…. Dieser geringere Autor hätte den größeren Kontext mitgeliefert, den die Leser aber besser selbst erschließen. Wenn der Autor den Lesern diesen Prozess abnimmt, dann ist das Informationsdramaturgie. Erst wenn zwei Menschen über Literatur aus der eigenen Leseerfahrung heraus sprechen, wird sie magisch. Sie funktioniert dann wie Musik, die auch zu jedem anders spricht.

Mit meinem Roman unternehme ich den Versuch, für ein solches Gespräch eine gute Grundlage zu bieten. Wichtig war mir, dass der Text nicht ins Kryptische wegfliegt, sondern mit den Lesern spricht, an sie appelliert und sie mitnimmt. Ich habe auch das Experimentelle des Textes so gestaltet, dass es im Dienste der Narration steht und nie nur sich selbst genügt. Wenn es etwas gibt, worauf ich bei »Der Fuchs« stolz bin, dann dass mir das gelungen ist. Mein Wunsch ist jetzt natürlich, dass man das Buch gern liest. Das muss sich jetzt aber auch erst einmal zeigen.

Ihr Roman ist zu großen Teilen die Erinnerung an die Kindheit und Jugend des Erzählers Finn Schliemann, voll mit grotesken Erfahrungen und einem sadistischen Geschwistertrio. Wie steht das in Verbindung mit Ihrer Kindheit auf Föhr?

Romanhandlungen sind meines Erachtens immer wilde Mischungen aus Erlebtem, Bekanntem, Geträumtem und Imaginiertem. Der autobiografische Gehalt meines Romans ist gleich null, trotzdem hat es natürlich viel mit mir und meiner Jugend in Norddeutschland zu tun. Ich glaube, jemand der aus dem Norden kommt und den Roman liest, der erkennt Dinge wieder. Und zugleich ist die Stimmung in »Der Fuchs« nicht nur norddeutsch. Wer auf dem Dorf aufgewachsen ist, müsste sich hier gut wiederfinden. Neben die Weite der Landschaft tritt die beklemmende Atmosphäre des dörflichen Lebens, in dem Figuren eine Rolle spielen, für die der Ausdruck stranger than fiction erfunden wurde.

Bei Ihrem Roman denke ich an das Fehlen physischer Einheit. Nicht nur, weil Frauen in Schiffschrauben kommen oder ein Arm mit seinem Besitzer Verstecken spielt, sondern auch, weil keine Erinnerung konsistent scheint, sondern in ihre einzelnen Bestandteile und Möglichkeiten zerfällt, in die dann die Erzählung dringt. Inwiefern ist der Mensch ein fragmentiertes Wesen?

Erosion spielt in meinem Roman eine große Rolle. Schließlich fliegen uns die eigenen Entwürfe immer mehr um die Ohren. Daraus entsteht eine Sehnsucht nach Ersatz, wie ich sie in der Gegenwart wahrnehme. Wir leben in einer Zeit, in der wir die Entwürfe der 50er, 60er, 70er, 80er und 90er Jahre nebeneinander sehen und mit ihnen leben, wir können aber nicht wieder in sie zurück. Gleichzeitig sind wir aber unfähig, einen neuen Lebensentwurf zu finden. Deshalb auch die Flut, die das Dorf bedroht, so wie wir permanent vom Einbruch des Nichts, der Leere bedroht sind. Das ist das Dilemma unserer Zeit, es gibt eine totale, aber unerfüllte Ideologiesehnsucht. Der Raum, wo das Neue wäre, bleibt unerreichbar. Alles andere wäre das Ende der postmodernen Ideologie. Diese Situation ist schwierig und belastend, birgt aber auch eine Chance. Wir könnten endlich aus dem Loop der Dekonstruktion aussteigen. Wir könnten dem Die Dekonstruktion hat uns alles genommen entkommen, weil wir erkennen, dass absolut alles konstruiert ist, auch diese Dauerschleife. Wir sind aufgerufen, einen alternativen Entwurf zur Postmoderne zu finden, dem Danach einen Inhalt zu geben. Wenn die alten Werte erodieren und sich auflösen, dann ist das Individuum gefragt, sich etwas Neues auszudenken. An diesem spannenden Punkt der Geschichte befinden wir uns, an dem Punkt befinden sich die Figuren in meinem Roman. Das ist ein wahnsinnig spannender Ort.

Sie haben jetzt mehrmals eine neue Ideologie der Postpostmoderne gefordert, dabei ist der Begriff Ideologie in unserer Gesellschaft eher belastet.

Das finde ich eigentlich schade. Das ist die pervertierte Leistung der 50er und 60er Jahre, in der unserer Gesellschaft auch eine panische Angst vor der Gruppe eingeimpft wurde. Wenn Sie durch Asien reisen, dann werden Sie auf Menschen stoßen, denen es ein Rätsel ist, warum man Angst davor haben sollte, ein Teil in einer Gruppe zu sein. Während den Gesellschaften in Asien das konsensuale Denken den Weg zur Individualisierung versperrt, ist es bei uns genau anders herum. Unsere Gesellschaft ist zu individualisiert, um einen Schulterschluss zu finden. Das ist das Dilemma unserer individualisierten Gesellschaft.

Sie waren in Japan und haben sich mit den Folgen der atomaren Katastrophe in Fukushima befasst. Mit »Der Fuchs« präsentieren Sie einen Roman, in dem ein Ort überschwemmt wird und alles verschwindet, was Geschichte ausmacht. Gibt es hier einen Zusammenhang?

Meine Reisen nach Japan und anschließend nach Korea haben mich natürlich geprägt, aber nicht im Sinne, dass ich dort viel von diesen Gesellschaften erfahren hätte. Vielmehr ist es so, dass ich in der Begegnung mit den Menschen viel über uns und unsere Gesellschaft gelernt habe.

In welchem Verhältnis stehen Individuum und Gesellschaft in der Moderne?

Ich finde es schade, dass die Macht immer nur an die Gesellschaft abgegeben wird, während sie dem Individuum abgesprochen wird. Das Individuum wird als ohnmächtig und schwach dargestellt. Dabei findet Gesellschaft doch genau dort statt, beim Individuum. Wir zeigen mit dem Finger immer gern auf den Kapitalismus, der irgendetwas da draußen bei den Banken oder auf den Märkten sei. Dabei verstehen wir nicht, dass er ohne uns gar nicht möglich wäre, dass wir ihn befördern.

Tatsächlich tragen auch wir gerade jetzt zum Erhalt des Kapitalismus bei, indem wir hier sitzen und bei einem Kaffee miteinander sprechen, um dieses Gespräch dann im beiderseitigen Interesse verwertet zu wissen und in seinen Kreislauf zu geben.

Ich trage sogar dann zu seinem Erhalt bei, wenn ich ihn kritisiere. Der Kapitalismus gefällt sich darin, sich kritisieren zu lassen in einer Kunst, die er gestattet und sogar fördert. Abseits davon funktionieren sowohl Theater- als auch Literaturbetrieb nach erzkapitalistischen Regeln, sowohl auf der ökonomischen als auch auf der hierarchisch-strukturellen Seite.

Sollten Sie den Leipziger Buchpreis gewinnen, sich das Buch aber nicht verkaufen, gibt es keine neue Auflage.

Nicht nur das, es gibt auch die Verramschungsklausel, Paragraf 7 meines Autorenvertrags. Sie besagt, dass der Verlag, wenn der Bestand nicht verkauft wird, berechtigt ist, diesen verramschen darf. Der vertraglich vereinbarte prozentuale Anteil am Verkaufspreis ist dann hinfällig.

Tatsächlich hat kaum ein Kulturgut eine so geringe Halbwertzeit wie das Buch.

Weil die Verlage dem Leistungsirrtum aufsitzen. Der Entwertung des Buches begegnen sie mit einem beschleunigten Ausstoß. Wie in der Geldwirtschaft kommt es dann zur Inflation. Das funktioniert im Verlagswesen genauso wie bei den Banken.

In ihrem Theaterstück »Die kosmische Oktave« lassen Sie den Bruder des Ich-Erzählers sagen: »Du bist ein trauriges, selbstgerechtes narzisstisches Arschloch, wie ich sie zu Tausenden sehe, wenn ich durch Berlin laufe. Ein Arschloch, das von nichts zu wenig und von dem meisten zu viel hat – vor allen Dingen aber von Ego und Zeit.« Auch wenn dieses Arschloch eine fiktive Figur ist, gestatten Sie mir die abschließende Frage: Geht es Ihnen gut mit sich selbst?

Ja, ich denke schon. Es ist lustig, dass Sie das fragen. Natürlich arbeite ich mit mir selbst in meinen Texten. Das macht jeder, deshalb ist es auch so aberwitzig, wenn die Kritik das große Klagelied der Selbstreferenz anstimmt. Wir sind doch die absoluten Experten unseres eigenen Daseins. Die großen Probleme der Welt finden in unserem Denken statt, in der Alltagsphilosophie, die hilft, uns im Leben zu verhalten. Die Zukunft unserer Gesellschaft findet deshalb im Kopf statt. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit uns selbst eines der wichtigsten politischen Tableaus. Das ist kein kleines oder niedliches Thema. Das ist die eine Seite. Zugleich ist die superkrasse Selbstbeobachtung, in der wir stecken, aber auch ein running gag, einerseits narzisstische Selbstüberschätzung, andererseits beschämte Verkleinerung. Nehmen Sie zum Beispiel die sozialen Medien. Facebook ist eine Narzissmus- und Selbstbeschwichtigungsmaschine, ohne das künstlich leere Aufpusten des Egos würde das gar nicht funktionieren. Wir können dort »Je suis Charlie!« erklären und uns dann so fühlen, als wären wir politisch. Stattdessen sind wir aber nur träge. Das ist einer der großen kybernetischen Tricks des Kapitalismus. Uns wird das Gefühl gegeben, wir wären engagiert, dabei üben wir nur Ersatzhandlungen aus.

3 Kommentare

  1. […] ist keine Kategorie, schon gar nicht für die Kritik, sagte Nis-Momme Stockmann kürzlich im Interview mit dem Autor dieses Textes. Sie soll daher an dieser Stelle keine weitere Rolle spielen, außer der Struktur […]

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