Wer auch immer profitiert, wenn Kanzlerin Merkel die richtige Flüchtlingspolitik zum Verhängnis wird, das linke Lager wird es nicht sein. Was ist los mit jenen, die sich Gerechtigkeit und Solidarität auf die Fahnen schreiben? Albrecht von Lucke hat ein nachdenkliches Buch über das »Versagen der deutschen Linken« geschrieben.
Albrecht von Lucke ist einer der brillantesten Analytiker, den die Berliner Republik zu bieten hat. Ein hellsichtiger Beobachter, ein scharfsinniger Kommentator, ein kluger Kenner der politischen Verhältnisse in Deutschland und der Welt. Von Lucke ist leitender Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, eine Zeitschrift, die der Theologe Karl Barth einst als »eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn« bezeichnet hat. Und das sind sie immer noch, dank Albrecht von Lucke.
Nun hat er eine Analyse der politischen Linken verfasst, eine Abrechnung mit dem ehemaligen Spitzenpersonal der SPD und eine Klage darüber, dass die fehlende strategische Kompetenz der politischen Linken – also SPD, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen – zu einer dauerhaften schwarzen Republik führt, eine Republik, in der die CDU dauerhaft die Kanzlerin und vielleicht auch mal wieder einen Kanzler stellt. Herausgekommen ist ein spannendes, packendes Buch zur aktuellen Situation der deutschen Politik. Und weil politische Ereignisse nicht nur auf longues durées verweisen, sondern mitunter raschen Konjunkturen unterworfen sind, lässt sich über dieses Buch trefflich streiten. Auch, weil ich nicht mit allen Thesen, Analysen und Schlussfolgerungen des Buches einverstanden bin.
Laut Lucke gibt es zwei Ursachen des Niedergangs der SPD: Zum einen die fatale Männerfeindschaft von Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, die sich zum anderen immer wieder an der Agenda 2010 auflädt. Die Männerfeindschaft des ehemaligen Kanzlers und Vizekanzlers begreift Lucke als eine »doppelte Entsolidarisierung«, Gerhard Schröder habe mit der Agenda 2010 die eigene Partei gespalten, Oskar Lafontaine habe aus Rache die Linkspartei als Anti-SPD etabliert.
Aus dieser Entsolidarisierung entspinnt sich nun eine ganz ironische Lage, nämlich dass der oppositionelle Gegenentwurf zu einer christdemokratisch-konservativen Partei trotz der ernsthaften Krise, in der sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Partei befinden, nicht in der Lage ist, diese Kanzlerin abzulösen. Genau dies nennt Albrecht von Lucke »blockierte Demokratie«, die nur noch eine »schwarze Republik« hervorbringe, eine dauerhafte Regierung der CDU/CSU. Somit ist für Lucke auch bereits die Bundestagswahl 2017 entschieden.
Nun lässt sich wirklich allerhand in die Beziehung zwischen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine hineininterpretieren. Für jeden Küchenpsychologen ein gefundenes Fressen. Die beiden Enkel Willy Brandts haben sich aber auch politisch in entgegengesetzte Richtungen entwickelt. Schröder habe die neue, wirtschaftsliberale Mitte umgarnt und Lafontaine eine »antiwestliche Fundamentalopposition« hervorgebracht. Beide bedienen also jeweils nur einen der beiden Ränder der SPD, aber nicht mehr die Kernanliegen sozialdemokratischer Politik. Besonders Schröder bekommt sein Fett ab, denn er habe, so von Lucke, mit dem entscheidenden Prinzip der Sozialdemokratie gebrochen, nämlich »dem meritokratischen Gedanken: der Unterscheidung nach erbrachter Leistung. Wer gearbeitet hat, erwirbt einen Anspruch, vulgo: Leistung soll sich lohnen. Heute werden derartige Unterschiede nicht mehr gemacht, im Gegenteil: Hartz IV macht alle auf Anhieb gleich arm.« Wer so etwas tut, muss ein Neoliberaler sein und zu noch viel schlimmeren Dingen fähig sein. Nein, ich bin kein Fan von Gerhard Schröder, dem Alt-Kanzler. Aber sein Zug zur Macht und seine Fähigkeit zum Machterhalt der SPD als Kanzler haben mir großen Respekt abverlangt. Man kann, wie von Lucke, darauf verweisen, dass Gerhard Schröder mit seiner Agenda-Politik die Macht der SPD verspielt hat. Man muss fairerweise aber eben auch darauf verweisen, dass ohne Gerhard Schröder 2002 rot-grün wohl nicht mehr wiedergewählt worden wäre.
Meines Erachtens liegt das große Dilemma der Sozialdemokratie eben nicht am »Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, sondern dass die SPD 1998 und 2002 einen Wahlkampf geführt hat, als würde der klassische Instrumentenkasten sozialdemokratischer Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik noch funktionieren. Der politische Keynesianismus war aber bereits in den 1970er Jahren gescheitert, also zu den Zeiten der Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt. Das Dilemma der deutschen wie europäischen Sozialdemokratie bestand darin, dass sie keine alternative Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik unter der Ägide der Globalisierung entwickelt hat. Der dritte Weg eines Anthony Giddens zwischen klassischem Wohlfahrtsstaat und Neoliberalismus wurde mehr diffamiert als diskutiert. Unter dem Label »Gerechtigkeit« setzte Oskar Lafontaine jene Politik fort, die seit den späten 70er Jahren ohne Erfolg betrieben worden war und zu immer mehr Arbeitslosen geführt hatte, was wiederum den Grundstein für den politischen Erfolg Helmut Kohls 1982/83 legte. Den triumphalen Sieg bei der Bundestagswahl 1998 hatte Gerhard Schröder einem völlig ausgelaugtem Helmut Kohl und einer Gesellschaft im Zustand fortgeschrittener Sklerose zu verdanken. »Reformstau« war das Wort des Jahres 1997 geworden. 16 Jahre Opposition hatte die SPD nicht genutzt, um sich auf eine eigene Kanzlerschaft im Zeitalter der Globalisierung vorzubereiten. Gesellschaftspolitisch hatte rot-grün, vor allem grün, viel bewegt, in den harten Politikfeldern bis 2003 nur wenig.
Es ist erstaunlich, dass die SPD unter Kanzler Schröder doch in der Lage war, die erfolgreichsten sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen. Noch erstaunlicher ist, dass sie immer noch so sehr daran zweifelt. Angela Merkels Kanzlerschaft war bis Sommer 2015 frei von jeglicher Bereitschaft, das Land zu reformieren. Sie und ihre wechselnden Koalitionen mit SPD und FDP haben vom Mut und der politischen Durchsetzungsfähigkeit der rot-grünen Regierung profitiert. Im Moment sieht es ganz danach aus, als würde die richtige Flüchtlingspolitik die Agenda 2010 der Bundeskanzlerin werden.
Für Albrecht von Lucke leidet die SPD seit der Ära Schröder unter dem Verlust ihres Markenkerns der sozialen Gerechtigkeit. Gerade deshalb müsse die SPD ein dezidiert linksemanzipatorisches Projekt platzieren. Die rot-rot-grüne Regierung in Thüringen unter Ministerpräsident Bodo Ramelow macht ihm Mut. Was auf linker Seite benötigt wird, sei eine Politik des Kompromisses und der offenen Kommunikation, das sich gegen das alte linkssektiererische Freund-Feind-Denken wendet. Gerade das Projekt Europa benötigt im Moment eine linke Alternative, weil Europa, so von Lucke, eben mehr ist als ein gemeinsamer Euro und ein gemeinsamer Markt. Vor allem aber muss eine Linke der Renationalisierung Europas Einhalt gebieten.
Ein Appell eines Intellektuellen aus Berlin in der Komfortzone, keine Wahlkämpfe bestreiten zu müssen, schafft aber eben bundesweit noch keine rot-rot-grüne Regierung. Und dass die Gräben insbesondere zwischen dem linken Flügel der Linken und dem Reformer-Flügel von Bündnis 90/Die Grünen in den letzten Jahren eher größer als kleiner geworden ist, darauf verweist von Lucke im Mittelteil seines Buches selbst.
Was nun? Steht uns wirklich eine Schwarze Republik auf Ewigkeiten bevor? Nein, auf keinen Fall. Denn wenn sich die Riege der Mittelmäßigen in der CDU und CSU durchsetzen und die richtige Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin torpedieren, so steht auch der Union der Marsch in das 25-Prozent-Ghetto bevor, in der sich die SPD befindet. Die Stärke von CDU/CSU bei der Bundestagswahl 2013 und in den Wahlumfragen bis Sommer 2015 speiste sich aus der Beliebtheit Angela Merkels. »Sie kennen mich«, dieser Spruch bei der TV-Debatte im Wahlkampf 2013, charakterisierte sie aufs trefflichste. Sie ist eine exzellente Krisenmanagerin, eine mit klugem Kopf und der Fähigkeit auf Zeit zu spielen, die sich wohltuend von den Testosteron-gesteuerten Männern ihrer und der anderen Parteien unterscheidet. Vor allem aber überfordert sie uns nicht. Veränderungen verschreibt sie der deutschen Gesellschaft in homöopathischen Dosen. Drohen größere Veränderungen vermittelt sie den Eindruck, es werde schon nicht so schlimm werden. Ein Idealfall für eine alternde, veränderungsaverse und reformmüde Gesellschaft. Dabei hat sie die CDU in die Lücke geschoben, die die SPD in ihrer sentimentalitätsgetriebenen Politik ihr in der Mitte bis weit in den Raum Mitte-Links gelassen hat.
Eine solche erfolgreiche Positionierung der CDU wird sich Merkel nicht mehr nehmen lassen. Die Taktiker und Karrieristen in der Union wie Horst Seehofer, Jens Spahn und Christian von Stetten sowie Wahlumfragengetriebene wie Julia Klöckner, Reiner Haseloff und Guido Wolf wollen diese Positionierung aufgeben, um das vermeintliche Wählerpotential der AfD wiederzugewinnen. Es wird ihnen nicht gelingen. Sie werden aber jene Wählerinnen und Wähler verlieren, die ein modernes, aber ruhiges Deutschland wollen. Eines, für das Angela Merkel steht. Die Christdemokraten werden in der Post-Angela-Merkel-Ära sich die Fragen stellen müssen, was christdemokratisch in einer globalisierten Welt und in einem destrukturierten Europa noch bedeutet. Wenn sie sich ähnlich viel Zeit lässt, diese Frage zu beantworten, wie die SPD, was Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert noch bedeutet, werden wir das beobachten können, was sich seit langem andeutet, was die Bundeskanzlerin aber für ihre Partei verhindern konnte, den Niedergang der Volksparteien.
Albrecht von Lucke hat ein anregendes Buch geschrieben. Es ist nicht so analytisch, wie man sich das von ihm erwartet, dafür ist es ein politisches geworden. Ein Buch mit der klaren Botschaft nach einer anderen Politik für ein anderes Deutschland und Europa: »Ohne die Existenz einer linken Regierungsalternative droht daher aus unserer parlamentarischen Demokratie immer mehr ein Elitenprojekt zu werden, eine Demokratie der Bessersituierten ohne repräsentative Qualität. Das aber wäre nicht nur das Ende der deutschen Linken, sondern auch das Ende unserer verspäteten Demokratie, die wir doch erst seit knapp 70 Jahren unser eigen nennen.«