Europas wichtigste Comicpreise sind am Samstagabend vergeben worden. Als Album des Jahres wurde Richard McGuires »Hier« ausgezeichnet, es krönt einen starken nordamerikanischen Auftritt beim diesjährigen Festival. Nach dem Eklat rund um die Nominierungen für den Großen Preis von Angoulême und der #WomenDoBD-Initiative fiel allerdings auch die Vergabe der Preise aus der offiziellen Auswahl männlich aus.
Wer hätte das gedacht. Ein US-amerikanischer Musiker räumt den Preis für das beste Album des Jahres ab. Richard McGuire hat auch die Jury von Europas wichtigstem Comicfestival in Angoulême überzeugt und wurde für sein spektakuläres Album Hier mit dem Hauptpreis des Festivals ausgezeichnet. Das Album wurde an dieser Stelle bereits als »phänomenales Beispiel der Neunten Kunst« gelobt. McGuire, dessen Verleger in Angoulême den Preis entgegennahm, sagte in einem Zeitungsinterview, dass es sich bei aller Grundsätzlichkeit um ein sehr autobiografisches Werk handle. Er hat für seine Erzählung die Logik der sequentiellen Erzählung aufgehoben, um gleichermaßen alle Zeiten umfassend und zeitlos (Welt-)Geschichte vorbeiziehen zu lassen.
Über die Auszeichnung freuen dürften sich nicht nur McGuire und seine Verlage – in Frankreich Gallimard, in Deutschland Dumont –, sondern auch das Museum für angewandt Kunst in Frankfurt am Main, in dem gestern die Ausstellung ZeitRaum eröffnet wurde, die McGuires Seiten als »begeh- und bespielbaren Bühnenraum« zum Leben erweckt. Der Preis für das Beste Album des Jahres ist der erste wichtige Comicpreis, den McGuire für diese Arbeit erhält. In seiner Heimat ist der Amerikaner, der in den 1980er Jahren die Band Liquid, Liquid mitgegründet hat, als Illustrator für den New Yorker und die New York Times bekannt. Sein Comic entstand aus einer sechsseitigen Erzählung für das Comicmagazin RAW.
Auch ein deutscher Zeichner wurde ausgezeichnet. Allerdings kann E. O. Plauen alias Erich Ohser den Preis nicht mehr entgegennehmen, er entzog sich seiner Verurteilung durch Nazi-Scharfrichter Roland Freisler im April 1944 durch Suizid. Der voluminöse Sammelband seiner Vater und Sohn-Erzählungen aus der Edition Warum wurde mit der Fauve Patrimoine, dem Kulturgut-Preis des Festivals, ausgezeichnet. Wer den witzigen und bahnbrechenden Erzählungen von Erich Ohser hierzulande auf den Grund gehen möchte, dem seien die bei Reclam, Anaconda und im Südverlag erschienenen Sammelausgaben empfohlen.
Der Franzose Étienne Davodeau erhielt mit dem Journalisten Benoît Collombat für den gemeinsam verfassten Comic Cher pays de notre enfance (dt. An das Land unserer Kindheit) den Publikumspreis. Davodeau erhielt bereits 2006 für sein Album Les Mauvaises Gens den Preis für das Beste Szenario sowie den Kritikerpreis. Sein historischer Dokumentarcomic erzählt die Geschichte eines Geheimdienstes der Partei von General de Gaulle, der in den 1970er Jahren in eine Vielzahl von politischen Mordfällen verwickelt war. Vor dem Hintergrund der angespannten politischen Lage in Europa erzählen Davodeau und Collombat eine höchst aktuelle Geschichte, die davon handelt, wie demokratische Parteien die Mittel einer Demokratie für ihre eigenen Interessen missbrauchen. Étienne Davodeau ist hierzulande für seinen Weincomic Die Ignoranten, die Geschichte eines Aufsehers im Pariser Louvre Der schielende Hund sowie die Geschichte einer Selbstbefreiung Lulu – Die nackte Frau bekannt. Da es sich hierbei aber um eine Analyse französischer Innenpolitik handelt, ist fraglich, ob der Comic in deutscher Übersetzung erscheint.
Den Sonderpreis der Jury erhielt der Street-Art-Künstler Pozla. In seinem Album Carnet de santé foireuse (dt. Tagebuch eine lausigen Gesundheit) erzählt er von seinem Leben mit Morbus Crohn, einer chronischen Erkrankung des Darms. Er blickt zurück auf seine schwierige Kindheit, auf Ärzte, die seine Probleme als psychosomatisch abtaten, und wie die Erkrankung sein späteres Dasein als Sprayer und Comickünstler sowohl einschränkte als auch prägte.
Als Beste Serie wurde Mrs. Marvel von G. Willow Wilson und Adrian Alphona ausgezeichnet, Wilson ist die einzige Frau unter den Preisträgern. Die Hauptfigur dieser multikulturell-feministischen Superheldengeschichte ist das pakistanischstämmige Mädchen Kamala Khan, deren Leben zwischen muslimischen Lebensregeln und amerikanischem Teenagerwahn die Grundlage für ein veritables Abenteuer der Moderne liefert. Der Auftakt dieser Serie (in den USA liegen bereits die Bände zwei und drei vor) erschien unter dem gleichen Titel im vergangenen Jahr auch in der deutschen Übersetzung (bei Panini) und erhielt weithin positive Kritiken.
Als Bester Newcomer (Fauve Révélation) wurde der italienische Zeichner und Journalist Pietro Scarnera geehrt. Ausgezeichnet wurde sein Album Une étoile tranquille – Portrait sentimentale de Primo Levi (dt. Ein stiller Stern – Ein sentimentales Porträt von Primo Levi) seinem Landsmann die Ehre erweist. Primo Levis nachträglich verfasstes Holocausttagebuch Ist das ein Mensch? ist weltweit bekannt und eines der wichtigsten Zeugnisse der Vernichtung der europäischen Juden. Scarnera, dessen vielfältige Arbeiten man hier entdecken kann, rekonstruiert in seinem Comic Levis Leben und Schaffen auf der Basis seines schriftlichen Vermächtnisses.
Den Preis Bester Comickrimi hat der Brasilianer Marcello Quintanilha gewonnen. Sein Album Tungstène führt die Geschichten eines Polizisten, seiner Frau, einem ehemaligen Offizier und einem Dealer zusammen. Quintanilha entwickelt aus der vermeintlich durchschaubaren Personenkonstellation einen überraschenden Plot, der die Erwartungen durchbricht. In Deutschland noch vollkommen unentdeckt ist der Brasilianer in Frankreich für seine Serie Oxford bereits recht bekannt. Sein Strich erinnert an die brasilianischen Comiczeichner Gabriel Bá und Fabio Moon.
Als bester Alternativcomic wurde in Angoulême die 5. Ausgabe des avantgardistischen Magazins Laurence 666 ausgezeichnet. Die Mischung zwischen Comicmagazin und Anthologie erinnert an das deutsche SRPING-Magazin. An der ausgezeichneten Nummer haben 27 Autoren mitgewirkt, die gemeinsam die schräge Liebesgeschichte zwischen einem französischen Prinzen und einer slawischen Prinzessin erzählen.
Der in Paris geborene Zeichner Benjamin Renner wurde für sein Album Le Grand Méchant Renard (dt. Der große böse Fuchs) den Preis der Kinder- und Jugendcomics ausgezeichnet. Es ist das anrührende Porträt eines Fuchses, der zwar Hunger hat, seinen potentiellen Opfern aber einfach nicht gewachsen ist. Nach zweihundert höchst vergnüglichen Seiten kann einem der arme Kerl fast schon leid tun. Müsste man nicht noch richtigstellen, dass sich nicht alle seine Artgenossen von einer fetten Henne oder einem frechen Hasen in die Flucht schlagen lassen.
Erstmals wurden die Preise nicht erst am Sonntagnachmittag als Abschluss des Festivals, sondern schon am Vorabend vergeben. Preisträger und Publikum wird es freuen, bislang verließen sie nämlich mit dem Schlussgong sowohl die Bühne als auch das schließende Festival.
Regional betrachtet war die offizielle Auswahl der nominierten Alben in diesem Jahr so stark wie lange nicht mehr mit Alben aus Nordamerika besetzt. Neben den Künstlerinnen Nicole J. Georges, Roz Chast, Fiona Staples, Noelle Stevenson und G. Willow Wilson waren auch ihre männlichen Kollegen Dash Shaw, Richard Corben, Anders Nilsen, Adrian Tomine, Simon Hanselmann, Robert Kirkman, Brian K. Vaughan und Preisträger Richard McGuire mit ihren aktuellen französischen Alben im Wettbewerb um die Comicpreise.
Dass mit McGuire ein Amerikaner den Preis für das beste Album gewonnen hat, erklärt sich mit diesem starken transatlantischen Auftritt, ist aber keineswegs selbstverständlich. In den vergangenen Jahren wurde der Hauptpreis jeweils an Franzosen vergeben. 2015 gewann Riad Sattouf für den begeisternden Auftakt von Der Araber von morgen, 2014 ging der Preis an Alfred für sein formidables Album Come Prima und 2013 wurden der diesjährige Jury-Präsident Abel Lanzac alias Antonin Baudry und Christophe Blain für ihr grandioses Diplomatenporträt Quai d’Orsay ausgezeichnet. 2012 gewann mit dem inzwischen in Frankreich lebenden Kanadier Guy Delisle zuletzt ein nicht-französischer Zeichner den wichtigsten europäischen Comicpreis. Der einzige deutsche Zeichner im diesjährigen Wettbewerb Jakob Hinrichs, der mit seinem kunstvollen Comic über Hans Fallada und dessen Roman Der Trinker nominiert war, ist leer ausgegangen.
Überschattet wurde das 43. Comicfestival von einem Eklat rund um die Nominierung der Kandidaten für den Grand Prix du Festival d’Angoulême und dem #aufschrei in der Comicszene unter dem Stichwort #WomenDoBD. Mit Blick auf die Ausgezeichneten muss man feststellen, dass Frauen auch hier deutlich unterrepräsentiert sind. Die Autorin von Mrs. Marvel G. Willow Wilson ist die einzige Frau unter den prämierten Comicschaffenden. Ob die Jury um Antonin Baudry nichts dazugelernt hat oder sich von der Debatte bewusst nicht beeinflussen lassen wollte, bleibt ein Geheimnis. Mit Nicole J. Georges, Delphine Panique, Roz Chast, Annelie Furmark, Mai-Li Bernard, G. Willow Wilson, Noelle Stevenson, Zeina Abirached, Marine Blandin, Fiona Staples und Marion Montaigne waren weibliche Comickünstlerinnen immerhin an elf der 30 nominierten Alben beteiligt, die Quote hätte also auch deutlich höher ausfallen können. Der Große Preis des Festivals wurde nach einer komplett offenen Abstimmung ohne Nominierungen übrigens an den belgischen Zeichner und Szenaristen Hermann alias Hermann Huppen vergeben – am Ende eine Randnotiz, die jedoch bestens in das befremdliche Bild einer männlich dominierten Comicwelt passt, das die Realität ignoriert, in Angoulême aber einmal mehr bedient wurde.
[…] »Hier« gewinnt Hauptpreis in Angoulême intellectures, Thomas Hummitzsch Alle Preisträger der „Palmarès Officiel“ stellt Thomas Hummitzsch vor und bemerkt die Besonderheit, dass der Hauptpreis in diesem Jahr an einen amerikanischen Comic und nicht an eine einheimische Produktion ging. […]