Stefan Hertmans erzählt in »Der Himmel meines Großvaters« die Geschichte seines Vorfahren, der pflichtbewusst in den Reihen des belgischen Heeres gedient hat, während die Welt um ihn herum zusammenbrach. Wir sprachen mit dem belgischen Autor über das Reproduzieren von Familiengeschichte, seinen lebenslang traumatisierten Großvater und die flämische Emanzipation in den Schützengräben.
Sie haben die Erinnerungen Ihres Großvaters fast dreißig Jahre im Schreibtisch aufbewahrt ohne hineinzuschauen. Hatten Sie Angst davor, sie zu lesen?
Ja, ich hatte ein wenig Angst davor. Zum einen hatte ich intuitiv das Gefühl, dass ich emotional noch nicht bereit dafür war. Im Nachhinein muss ich sagen, dass mich mein Gefühl nicht getrogen hat. Man muss ein bisschen älter sein, um die Philosophie des Verlusts, die vielen Gräueltaten im Krieg sowie die Ambiguität der Liebe und der Treue meines Großvaters an der Seite der Schwester seiner großen Liebe zu verstehen. Das erfordert eine gewisse Reife, die ich als junger Schriftsteller noch nicht hatte. Ich habe mich damals gegen den Realismus und Naturalismus gesträubt – meine großen Vorbilder waren Nabokov und Borges. Mit den Aufzeichnungen meines Großvaters musste ich mich aber mit mir selbst, mit dieser intimen Familiengeschichte und all den Emotionen, die damit verbunden waren, befassen. Davor hatte ich großen Respekt. Zum anderen hatte ich aber auch Angst davor, was dieses Buch literarisch mit mir tun könnte. All meine Aufsätze über Kunstphilosophie, die Theaterstücke und Gedichte, die habe ich fast automatisch geschrieben. Aber dieser Roman erforderte doch deutlich mehr als Wissen. Er erforderte ein Fühlen, ein Sich-Einlassen, im Grunde eine Art Psychoanalyse.
Hat Ihr Großvater zu Lebzeiten über den Krieg gesprochen?
Ständig. Man hat ihm einen Kaffee gegeben und er hat gesagt »Mensch, der Kaffee im Schützengraben hat furchtbar geschmeckt.« Sah er ein Flugzeug am Himmel, dann sagte er »Die deutsche Artillerie war ein Grauen.« Alles war stets verbunden mit dem Krieg. Aber über die Tiefe der inneren Unruhe, über das Grauen und die Ängste hat er nie gesprochen. Er war kein Ernst Jünger, er wollte nie als Held gesehen werden. In seinen Erinnerungen erzählt er von den kleinen Dingen und hält sich an winzigen Details fest, an denen das Ausmaß seines Traumas deutlich wird. Ganz einsam hat er das alles 50 Jahre nach den eigentlichen Ereignissen in Hefte geschrieben, niemand aus der Familie hat das gewusst. Es sind insgesamt 600 handgeschriebene Seiten, auf denen sich nicht eine einzige Korrektur befindet. In diesen Seiten steckt all das, worüber er nicht reden konnte. 1981 hat er sie mir übergeben, im Wissen, dass wenn ein Familienmitglied etwas damit macht, dann ich.
Hatten Sie, vielleicht um der eigenen Psychoanalyse aus dem Weg zu gehen, daran gedacht, ein Sachbuch zu schreiben?
Das nicht, aber ich habe in Erwägung gezogen, die Hefte einfach nur abzutippen und unter dem Namen meines Großvaters herauszugeben. Das hat aber nicht funktioniert, weil sich die niederländische Sprache in den letzten einhundert Jahren stark verändert hat. Die Sprache meines Großvaters war sehr altmodisch, damit hätten heutige Leser wohl nur wenig anfangen können. Als ich das bemerkt habe, bin ich in eine Loyalitätskrise geraten. Ich wollte ihm doch treu bleiben. Zwei Jahre bin ich mit dem Buch nicht vorangekommen, weil es mir schwer fiel, ihm das Wort zu entreißen. Erst dann habe ich eine Form gefunden, bei der der Ich-Erzähler und der Großvater in eine Art Dialog treten.
Gab es andere Versionen des Romans, die sie verworfen haben?
Ja, ich habe insgesamt vier Fassungen geschrieben. Anfangs dachte ich, ich muss das biografisch verarbeiten und seine Lebensgeschichte schreiben. Doch nach zweihundert Seiten war ich immer noch in seiner Jugend und dachte, dass ich kein flämischer Charles Dickens werden will. Dann ist mir W.G. Sebald in den Sinn gekommen, der immer wieder zeigt, dass wir das, was wir in der Vergangenheit suchen, nie finden werden. Man findet nur sich selbst, seine eigene Sehnsucht, die eigenen Phantasmen und die eigenen Bilder der Welt. In dieser eigenen Welt darf man sich nicht verlieren. Vielmehr muss man die eigenen Verluste, die einem bewusst werden, drehen in etwas, das gewinnend ist. Und genau das wollte ich machen. Es hat dann noch einmal eineinhalb Jahre gedauert, bis ich das konnte. Irgendwann hat mein Lektor zu mir gesagt »Hör auf, das Buch Deines Großvaters zu schreiben, sondern schreib Dein Buch über ihn.« Das war ein wichtiger Hinweis, dann hat es geklappt.
Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass Sie dennoch mit sich kämpfen mussten, um Authentizität zu wahren. So erkläre ich mir zumindest die beiden Perspektiven – Ihre eigene, in der sie ihr Vorgehen erklären, und die Ihres Großvaters, der die Erlebnisse im Krieg fast selbst erzählt.
Dieser Perspektivwechsel war unbedingt notwendig. Der erste Teil, in dem ich die Jugend meines Großvaters rekapituliere, hat viele Leser am meisten gerührt. Geschildert wird darin eine verlorene Welt, die in einer nahezu Proust’schen Szene endet. Nämlich mit dem Anblick eines nackten Mädchens in einem Teich. Ich glaube, diese Erinnerung ist eine Art religiöse Epiphanie meines Großvaters gewesen, in der natürlich auch eine gehörige Portion Freud’scher Mutterliebe mitschwingt. Nach diesem Erlebnis fällt in Sarajevo der Schuss von Gavrilo Princip und die Welt stürzt in sich zusammen. Mein Großvater hatte davon keine Ahnung, die große Politik hat ihn nie interessiert. Deshalb wusste er auch nicht, was sich da alles im Hintergrund abgespielt hat. Als kleiner Mann empfand er es als seine Aufgabe, zu gehorchen und Befehle auszuführen. Deshalb sagt er in den vier Kriegsjahren auch immer wieder nur »Oui, mon commandant! Oui, mon commandant!« Hier habe ich dann die Perspektive gewechselt. Ich wollte nicht aus einer überlegenen, allwissenden Thomas-Mann-Perspektive von den Kriegsjahren erzählen, sondern eintauchen und der bescheidene kleine Mann werden, der mein Großvater war. Ich bin seinen Aufzeichnungen dann fast buchstäblich gefolgt, es ist zum Teil wirklich mein Großvater, der aus dem Roman spricht. Und nach dem Krieg bin ich es wieder, der spricht.
Der erste Teil des Romans ist zugleich auch der längste Teil, eine Hinführung zum Krieg und zugleich das Coming-of-Age ihres Großvaters. Beeindruckend ist hier vor allem die bildhafte, naturalistische Sprache, etwa die Szene in der Gelatine-Fabrik oder in der Eisengießerei, in denen die Lesenden vom geschilderten Grauen geschüttelt werden.
Einer meiner Onkel hat in einer Gelatine-Fabrik gearbeitet. Ich kann mich erinnern, wie er früher immer davon geredet hat und musste diese Erzählungen aus meinem Gedächtnis kramen. Als ich anfing, das aufzuschreiben, wurde mir bewusst, dass diese Fabrik nicht nur eine Version von Dantes Hölle ist, sondern dass in dieser Szene die Ereignisse des Krieges vorweggenommen werden. Die Verwesung der Welt, der Zirkelkreis aus Leben und Sterben – all das steckt in dieser Szene. Den Lesern empfehle ich immer, diese Seiten mit leerem Magen zu konsumieren.
Tatsächlich ist diese Passage schwer zu verdauen. Die Passage direkt danach, seine Geburt als Künstler, scheint mir aber noch zentraler.
Tatsächlich spürt mein Großvater nach dem Besuch der Gelatine-Fabrik das erste Mal, das er in der Kunst Trost findet. Und das ist genau das, was er auch nach dem Krieg gemacht hat: Trost gesucht. Er hat nie den Krieg gezeichnet, ist kein George Grosz, kein Expressionist geworden, sondern ein nostalgischer Kopist. Das ist seine Art der Verdrängung gewesen, und sie setzt schon nach dem Besuch der Gelatine-Fabrik ein.
Die Szenen in den Schützengräben im zweiten Teil des Romans erinnern sehr an die Zeichnungen von Jacques Tardi.
Ja, natürlich. Es kann schon sein, dass davon etwas drinsteckt. Mir ging es vor allem darum, die Leser spüren zu lassen, dass in den Gräben des Ersten Weltkriegs Menschen steckten, die es heute nicht mehr gibt. Wenn mir heute ein Offizier sagen würde, dass ich gleich neben zehntausend anderen sterben könnte, weil man einen Hügel zwei Kilometer weiter einnehmen müsse, dann würde ich dem doch sagen, dass mich der Teufel reiten müsste, um das zu machen. Aber die Generation meines Großvaters lebte den Gehorsam, für sie stand gar nicht infrage, sich einem Befehl zu widersetzen. Diese Verkörperung des Leidens, diese schreckliche Ausdauer, die gibt es in der Form heute zum Glück nicht mehr. Meinen Großvater hat diese soldatische Moral davon abgehalten, ein Künstler zu werden. So ging es vielen seiner Generation. Dazu kommt im Roman noch der Aspekt des Umgangs der französischen Offiziere mit den flämischen Soldaten. Das Buch hätte vielleicht sogar besser »Der Himmel über Flandern« heißen sollen.
Mit diesem Verhältnis zwischen französischen Offizieren und flämischen Soldaten erzählen Sie am Rande ein Stück Emanzipationsgeschichte von Flandern.
Das ist sehr komplex, weil hier immer die Frage nach dem Nationalen aufkommt. Aber wer war das flämische Volk? War das ganz Belgien oder nur Flandern? Tatsächlich hat der flämische Nationalismus in den Schützengräben begonnen, weil es die flämischen Soldaten nicht mehr ertragen haben, von den französischen Offizieren angebrüllt zu werden. Ihnen fehlte der Respekt gegenüber ihrer Kultur und Sprache, entsprechend radikalisierten sie sich und fanden eine Art Nationalismus. Ich glaube, dass auch das flämische Bewusstsein meines Großvaters mit dem Krieg begonnen hat. Dieser innere Widerstand gegen die französischen Offiziere muss in hohem Maße zu Schizophrenie geführt haben, auch bei meinem Großvater. Am Ende hat er, meine ich, nur für sich selbst gekämpft, für seine Moral. Ohne Nationalismus, aber aus Pflichtgefühl. Ein Jahr vor seinem Tod wurde er wegen seiner Verdienste im Krieg vom belgischen König zum Ritter geschlagen. Die Urkunde hat er in einen Umschlag gesteckt und auf dem Dachboden versteckt; wir haben sie erst Jahre später gefunden. Sein Pflichtgefühl galt keiner Nation, sondern nur ihm selbst. Im Grunde war er emotional ganz allein in den Gräben.
Die Dreiteilung Ihres Romans hat etwas Ikonisches, erinnert an ein Triptychon, ein Altarbild. Ist Ihr Großvater für Sie ein heiliger Mann?
In der Tiefe ist der Roman tatsächlich eine leichte Parodie auf eine Hagiographie, das haben Sie gut erkannt. Einer meiner ersten Arbeitstitel lautete »Der kleine heilige Martinus im großen Krieg«. Indem ich den Roman so aufgebaut habe, wurde ich selbst auch ein Kopist. Ich kopiere meinen Großvater als Künstler und fertige ein Altarsstück an: der heilige Martinus in seiner Kindheit – der heilige Martinus als Soldat – der heilige Martinus in der Wüste. Diese ganze katholisch-ikonografische Schicht ist in meinem Roman angelegt.
Sie werden also zum Nachahmer ihres Großvaters, nur dass Sie mit Worten malen.
Ja, aber im Grunde sprechen wir permanent miteinander. Denn beim Schreiben habe ich gemerkt, dass mein Großvater ein literarisches Talent hatte. Wenn er beschreibt, wie die Aale über das Land zum Meer hin kriechen und sich über die feuchten Wiesen schlängeln – das ist eine zutiefst apokalyptische Szene, in die er alles Grauen des Krieges packt. Die Tiere fliehen vor der im Schlamm versinkenden Kriegsmaschinerie und lassen die Menschen allein zurück. In diesem Bild steckt doch der Gedanke, dass es mit allem zu Ende geht.
Was haben die Aufzeichnungen Ihres Großvaters bei Ihnen persönlich ausgelöst?
Sie haben mich mit meiner Abstammung versöhnt. Ich entstamme der Post-68er-Generation, habe Free-Jazz gespielt, eigenen Pott geraucht, die Frankfurter Schule entdeckt. Das ist meine Generation. Neben meiner linken Militanz war da aber auch immer die Seite der caritas catholica. Ich war einer der jetzt so verabscheuten Linken, die auch über Empathie und Einfühlung sprachen. Das war linker Humanismus, dessen Ursprünge von meinen Ahnen kamen. Ich habe, um es anders zu sagen, gelernt, meine eigene Heteronomie zu entdecken. Ich habe mich nicht selbst gemacht, sondern bin von anderen zu dem gemacht worden, der ich heute bin. Das habe ich erst mit diesem Buch verstanden; es hat mich bescheidener gemacht.
Sie schreiben mit einer großen Zärtlichkeit von der Verehrung, die Ihr Großvater seinem Vater hat zukommen lassen. Hat sie das Schreiben über dieses Verhältnis etwas mit Ihrem Verhältnis zu Ihrem Vater, das sie als komplizierter beschreiben, etwas versöhnt?
Meine Eltern waren einfache katholische Menschen, aber sehr tolerant. Ich kann mich erinnern, dass ich in den 80er Jahren wie Jimmy Hendrix aussah und in der Kirche immer alle über mich tuschelten. Mein Vater nahm mich dann zur Seite und sagte, dass er immer stolz auf mich sein werde. Das hat mich sehr berührt. Es gab daher nicht so viel zu versöhnen, was meinen Vater betrifft. Aber ich glaube, dass das Buch mich mit meiner Herkunft und meiner Familie allgemein versöhnt hat. Denn natürlich habe ich meine Eltern mit Nietzsche und dem Abgesang auf Gott und die Kirche verletzt. Dazu kommt, dass mein Vater ein schwieriges Verhältnis zu seinem Schwiegervater hatte. Deshalb glaube ich auch, dass er etwas eifersüchtig war, als er merkte, dass ich ein Buch schreiben werde, in dem mein Großvater ein Held ist. Aber er hat mir als letzter Zeuge sehr geholfen, deshalb habe ich ihm dieses Buch auch gewidmet.
Es widerspricht der Bescheidenheit Ihres Großvaters, dass Sie ihn nun zum Helden machen. Würde ihm das Buch gefallen?
Ich glaube, er wäre sehr empört, weil ich seine erotischen Geheimnisse und seine künstlerische Sehnsucht verraten habe. Manchmal denke ich aber auch, dass er vielleicht auch ein wenig stolz wäre, dass man seine Geschichte jetzt auch in Amerika oder China lesen kann. Wahrscheinlicher aber ist, dass er von dem Rummel um seine Person überfordert wäre. Er wollte nie im Mittelpunkt stehen.
Vor »Der Himmel meines Großvaters« haben Sie vor allem Essays und Lyrik veröffentlicht. Wie geht es für Sie jetzt weiter?
Ich habe gerade einen Roman beendet, der im kommenden Frühjahr erscheinen wird. Es ist eine Geschichte über eine Proselytin, eine Christin, die sich in einen Juden verliebt und mit ihm 900 Kilometer in ein Dorf in der Provence flieht. Ihr Vater verfolgt sie mit seinen Truppen, um sie auf dem Scheiterhaufen büßen zu lassen. Sechs Jahre nach der Flucht ziehen die Kreuzfahrer durch das Land und meucheln alle jüdischen Bewohner. Ihr Mann wird ermordet, ihre Kinder von den Kreuzfahrern verschleppt. Sie flieht mit dem Brief des örtlichen Rabbiners in der Tasche, in dem er alle Juden der Welt bittet, ihr zu helfen. Diesen Brief hat man mit 250.000 anderen Manuskripten aus der Synagoge in Kairo gefunden.
Wie sind Sie zu dieser Geschichte gekommen?
In dem Dorf, in dem sich all das abgespielt hat, habe ich seit Jahren ein kleines Haus, im letzten Jahr habe ich dort die Ruinen der Synagoge wiedergefunden. In meinem Roman erzähle ich nun die verdrängte Geschichte dieses Ortes sowie die der Frau, die über Palermo und Alexandria bis nach Kairo floh. Diese Geschichte ist so modern, dass sie sich ebenso gut in unseren Tagen ereignen könnte. Meine Hauptfigur ist ein Boatpeople ihrer Zeit.
Ich bin gespannt, diese Geschichte zu lesen. Stefan Hertmans, vielen Dank für das Gespräch.
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