»Der Diskrete Charme der Bürokratie« ist ein Buch voller guter Nachrichten aus Europa. Sein Autor Andre Wilkens redet keines der Probleme schön, unter denen die Europäische Union leidet. Aber er zeigt auch, welch kultureller Reichtum uns Europäer miteinander verbindet.
Andre Wilkens lernte ich im Herbst 2009 kennen. Er trat im August jenes Jahres die Stelle als Leiter des Hauptstadtbüros der Stiftung Mercator an, der zu dieser Zeit expansivsten und dynamischsten Stiftung Deutschlands. Ich kam gerade aus meiner Elternzeit zurück, für uns beide war es quasi ein Neuanfang, ein Wiederanfang, etwas Neues für Arrivierte. Seither haben wir uns regelmäßig getroffen.
Die nachhaltigste Begegnung mit ihm erlebte ich im Frühjahr 2010. Der Deutsche Bundestag hatte gerade das erste Rettungspaket für Griechenland beschlossen, Andre Wilkens erkannte sofort die Zeitenwende dieses Entschlusses. Er brachte Menschen zusammen, die sich kritisch, aber engagiert für Europa einsetzten. Er nannte die Gruppe »Engagierte Europäer«. Wir diskutierten mit Menschen aus den Medien, aus der Politik, aus Wissenschaft und Think Tanks. Wir gingen kritisch mit der Europäischen Union und etlichen Politiken in Gericht, die in Brüssel entschieden wurden. Noch kritischer waren wir mit der Rolle Deutschlands. Uns, mich, beschlich das Gefühl, dass deutschen Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik die EU zu klein, aber dafür zu teuer geworden war. Zu viele Begrenzungen, zu geringer Return of Investment. BRICS hieß der Zufluchtsort, nicht EU.
Beim ersten Treffen kam Andre Wilkens internationale Perspektive auf Probleme zum Vorschein. Wir trafen uns nicht in einer der deutschen Stiftungen in Berlin, sondern im Collegium Hungaricum. Ein toller, kubistischer, klarer, weißer Bau mit einem großen Fenster zur Straßenseite, der Dorotheenstraße – in direkter Nachbarschaft zu Humboldt-Universität und Maxim-Gorki-Theater. Das große Fenster ist ein riesiger digitaler Bildschirm, der die im Collegium Hungaricum ausgestellte Kunst nach außen trägt. Ungarn war damals noch progressiv, modernistisch und EU-begeistert. Und doch kritisch, wohlwollend kritisch, mit den Läuften der Zeit. Der damalige Leiter des Collegiums, Can Togay, begrüßte uns mit den Worten, dass Berlin zu wichtig sei, um es den Deutschen zu überlassen. Das war der Europasound, den mir Andre Wilkens näherbrachte.
Er war schon damals ein überzeugter Europäer, einer, der auf Europa nicht nur vom Zentrum aus schaut, sondern auch von der Peripherie. Einer, der von anderen europäischen Perspektiven auf Europa weiß und die deutsche Sicht der Dinge nicht mit europäischer Überzeugung gleichsetzt. Wilkens verfügt über eine Sensitivität, heute die Folgen politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Entwicklungen wahrzunehmen, von denen wir in einem halben Jahr lesen werden. Oder in einem Jahr. Zuletzt hat er das mit seinem Sachbuch Analog ist das neue Bio getan.
Und damit überrascht er immer wieder. Als er mir vor etwa anderthalb Jahren von seinem Buchprojekt über Europa erzählte, war ich skeptisch. Meine Skepsis zeigte ich ihm nicht offen, bestimmt bestärkte ich ihn in seinem Vorhaben. Aber ich bezweifelte doch sehr, dass dieses Buch seine beste Idee ist.
Nach der Lektüre von Der diskrete Charme der Bürokratie habe ich Andre Wilkens neu kennengelernt. Etliche Details seines Lebens habe durch das Buch erfahren, vieles an und von ihm erklärt sich mir nun neu. Diese »guten Nachrichten aus Europa« lesen sich wie die spannende Autobiographie eines Ostdeutschen, der Europa lieben lernte. Es ist auch die Biografie eines internationalistischen Berliners mit Heimweh, eines Kommunikators mit Umsetzungsdrang, eines überparteilichen, aber nie a-politischen Gesellschaftspolitikers und antizyklischen Visionärs.
Ein solches Buch kann man so besprechen, wie es Hendrik Kafsack in der FAZ getan hat. Mit anfänglicher Begeisterung, die offenlegt, wie sehr er dem Charme des Buches verfallen ist, mit dem Wechsel zu einer großen Portion Zynismus, mit der er im Laufe seiner Besprechung seine gute Europa-Laune durch angeblich intellektuelle Redlichkeit reinwaschen möchte. Großartig die Begründung, warum der Begeisterung der Verriss folgte, denn Wilkens Perspektive sei »jene der privilegierten europäischen Elite«. Und weiter schreibt Kafsack: »Es bleibt ein Buch der Selbstvergewisserung für alle Pro-Europäer. Ein Buch aus der Blase für die Blase.« Auf diesen Kniff kann man nur kommen, wenn man für so ein wenig renommiertes und Blasen-resistentes Underground-Medium wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt. Mit Frankfurter Theorie hat Kafsack wenig zu tun, vielleicht eher mit einer unbekannten Spielart hessischer Dialektik.
Der diskrete Charme der Bürokratie ist ein gelungenes Buch, weil es Europa, diesen Kulturraum für mehrere hundert Millionen Menschen, erlebbar macht. Darin leben Menschen, die sich nah sind, weil sie etliche Dinge des alltäglichen Lebens von anderen aus anderen Teilen des Kontinents übernommen haben. Die sich fern sind, weil das Andere, das Fremde doch sehr skurril und anders ist, als das Gewohnte, Einheimische und Lokale. Es gibt Riesenunterschiede zwischen Portugiesen und Finnen, zwischen Maltesern und Iren, Esten und Belgiern, Franzosen und Polen, Sachsen und Schwaben, Hessen und Thüringer, Westfalen und Rheinländer, Oberbayern und Niederbayern, Kreuzbergern und Pankowern. Es ist ein Kreuz mit diesen Unterschieden. Und es ist ein Segen, dass wir alle so verschieden sein können und gelernt haben, mit diesen Unterschieden zu leben, sie anzuerkennen und manchmal gar zu lieben. Europa ist immer auch die Sehnsucht nach der heterogenen Gesellschaft.
Andre Wilkens verbindet dieses Europa der Unterschiede mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Europa ist nicht das Ferne, sondern das Alltägliche und das Eigene. Und es ist das Spannende, ein Trip in die Zukunft. So schildert er seine erste Reise Anfang der 90er Jahre nach Brüssel, gemeinsam mit dem Vater im Familien-Lada. Im Kofferraum der Stolz des Vaters und die hoffnungsvolle Neugier des Sohnes. Das ist auf liebenswerte Weise kitschig, aber auch universell – der Vater, der den Sohn bei etlichen Wegen durch das Leben begleitet.
Aus einem Praktikum bei der Europäischen Kommission entsprang vielmehr als ein selbstbestimmtes Leben in europäischer Freiheit. Für ihn als Ostdeutschen war dies weniger selbstverständlich wie für den durchschnittlichen FAZ-Journalisten. Wilkens verliebte sich in Europas heimlicher Hauptstadt in seine heutige Frau, eine Engländerin. In den folgenden Jahren zogen beide von Brüssel nach London, weiter nach Mailand, Genf, Brüssel und schließlich zurück nach Berlin. In der Zeit arbeitete Wilkens für verschiedene EU-Institutionen, für das UN-Flüchtlingshilfswerk und für eine Werbeagentur. All die Orte, all die Jobs hinterlassen Spuren, bereichern und schaffen dieses Gefühl einer europäischen Heimat, das Andre Wilkens verspürt.
Wilkens vermag es in seinem Buch, neben seinem Leben die politische und administrative Dimension Europas nahezubringen. Er lichtet die Wege durch die verschiedenen Institutionen der Europäischen Union und erklärt, warum es diese überhaupt gibt. Brüssel wurde nicht von Bürokraten erschaffen, sondern ist entstanden, weil Menschen in Europa gelernt hatten, dass ein Miteinanderleben schöner, friedlicher und reicher ist als eine Existenz neben- oder gegeneinander. Die Bürokraten haben die Europäer nicht aus dem Paradies nach Brüssel geholt. Jean Monnet, Robert Schuman, Konrad Adenauer, Winston Churchill, Alcide de Gasperi, Sicco Mansholt, Joseph Bech, Johan Willem Beyen, Paul-Henri Spaak und Altiero Spinelli haben die Europäer aus der Hölle des Zweiten Weltkrieges in den Wohlstands- und Friedenskontinent Europa geführt. Die Alternative zu weniger Europa, zu weniger Brüssel, zu weniger Bürokratie ist nicht mehr Wohlstand oder Frieden, sondern das Gegenteil davon.
Beschrieben wird hier auch der kulturelle Reichtum Europas, der sich beim Fußball in der Champions League oder bei der Musik beim Eurovision Song Contest zeigt. Beide Wettbewerbe belegen, dass Europa noch viel größer und reicher ist als die EU der noch 28 Staaten. Europa ist nicht nur Hochkultur, sondern zugleich populäre Kultur, Kultur für alle. Jacques Lang, dem ehemaligen französischen Kulturminister unter Präsident François Mitterand, wird der Satz zugeschrieben: »Wenn ich es noch einmal zu tun hätte,« – nämlich Europa aufzubauen – »würde ich mit der Kultur beginnen.« (Lang wiederum schreibt diese Aussage übrigens Jean Monnet zu.) Andre Wilkens erinnert uns daran, auf welchem reichen und tragfähigen Fundament dieses Europa steht. Er schreibt von Begründungen für Europa, nicht von europäischen Blasen.
Bei all dem Charme für das Bürokratische fehlen aber doch drei Dinge. Erstens: Wir erfahren nichts darüber, wie das Leben von Andre Wilkens aussah, bevor er im Alter von 27 Jahren am 1. März 1991 mit dem Lada nach Brüssel aufbrach. Aus dieser Wissenslücke heraus steigen Fragen empor: Wie prägte die DDR seine politische Sozialisation gegenüber Europa, gegenüber dem westeuropäischen Klassenfeind? Wie passen seine Jahre vor 1989 zu seinen Jahren nach 1991 zusammen? War Andres Liebe zu Brüssel seine Rache an die alten Herren von Wandlitz? Vor allem westsozialisierte Leser wird dieser bedeutende Unterschied der Sozialisation und Prägung sehr interessieren.
Zweitens: Osteuropa bleibt in diesem Buch erstaunlicherweise eine Leerstelle, Europa scheint im Osten des Prenzlauer Berges zu Ende zu sein. Warum sind die Staaten jenseits der Oder, jenseits des Bayerischen Waldes so wenig präsent, was die Kultur und die Politik unseres Kontinents angeht? Liegt es vielleicht genau an diesem mangelnden Interesse, an der Geringschätzung und an der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit, dass wir Westeuropäer die Vorgänge in Ungarn, Polen, Rumänien oder Bulgarien so wenig einschätzen können?
Drittens: Wilkens beschäftigt sich auch kaum mit der Türkei, weder mit den jüngsten politischen Entwicklungen, noch aus einer größeren, historisch-kulturell-politischen Perspektive. Sein Kapitel über die Grenzen ist eines der klügsten des Buches, weil man darin seine Suchbewegungen nachvollziehen und ihn beim Denken, Abwägen, Argumentieren und Zweifeln beobachten kann. Dieses aktive Suchen nach Antworten auf aktuelle Fragen hätte sich hier wohl besonders gelohnt, weil das Versprechen an die Türkei auf eine Mitgliedschaft in den europäischen Strukturen zwar seit 1963 gilt, aktuell aber so abwegig scheint wie nie zuvor. Diese Auseinandersetzung hätte die normative Fundierung Europas noch einmal klarer herausarbeiten können. Europe, it’s the history, the culture, the values, stupid!
Der Türkei die EU-Mitgliedschaft versprochen hatte übrigens der deutsche Christdemokrat Walter Hallstein, der 1964 – im ersten Lebensjahr von Andre Wilkens – sagte: »Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nationen und die Organisation eines nachnationalen Europas.« Welcher europäische Politiker würde es heute wagen, so visionär zu denken und zu sprechen?
Der diskrete Charme der Bürokratie – Gute Nachrichten aus Europa widerspricht trotz der erwähnten Lücken erfolgreich dem kleinkarierten Europa-Bashing der Pfennigfuchser und Kurzfristdenker, der Formalisten und Geschichtslosen. Es ist nicht unkritisch gegenüber der europäischen politischen Praxis. Der Forderungskatalog für ein besseres Europa, den Andre Wilkens entwirft, ist lang. Und gerne würde ich den einen oder anderen Punkt ergänzen. Wer kritisch über Brüssel und die EU spricht, ist noch lange kein Europaskeptiker. Im Gegenteil, Widerspruch, Widerrede, eine europäische Öffentlichkeit des Dissenses, um bessere Politiken für ganz Europa einzufordern, darum geht es. Politisch leben wir weit unter Niveau, verglichen mit dem kulturellen Reichtum dieses Kontinents. Aber dieser Reichtum ist da. Und er ist ein verdammt stabiles Fundament, um auf diesem Kontinent noch besser miteinander und gemeinsam zu leben und weiter zusammenzuwachsen.
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