Essay, Gesellschaft, Sachbuch

Elegie einer Konservativen

Anne Applebaum beleuchtet den Zerfall des optimistischen Konservatismus und den Aufstieg der autoritären Verlockung. Es ist ein schwermütiges Buch geworden.

Wenn Anne Applebaum ein Buch veröffentlicht, dann schlägt es Wellen. So auch »Die Verlockung des Autoritären«, in dem diese beeindruckende Publizistin und brillante Historikerin aufzeigt, warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist.

Ihr Essay beginnt mit der Schilderung des Sylvesterfests 1999, zu dem sie und ihr Ehemann Radosław Sikorski, der ehemalige polnische Außenminister und Sejmmarschall, geladen hatten. Zu ihrem gemeinsamen Landgut im westpolnischen Chobielin kamen Journalisten aus London und Moskau, Freunde aus New York sowie polnische Bekannte, vornehmlich Politiker, Politikberaterinnen, Diplomaten, Publizisten und Wissenschaftlerinnen. Voller Vorfreude und Optimismus starteten Applebaum, ihr Mann und die gemeinsamen Freund:innen in das neue Jahrtausend. Eine Dekade nach dem Fall der Berliner Mauer, dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs und dem Sturz der Sowjetunion waren sie davon beseelt, dass die demokratische Revolution weitergehen würde. Das Ende der Geschichte war für sie alle ein Moment, in dem ihre politischen Träume in Erfüllung gegangen waren und den sie als Versprechen auf weitere gute Entwicklung begriffen. Die Gäste dieser Silvesterparty in das Jahr 2000 glaubten an einen Konservatismus, den sie als dynamisch, reformfreudig und großzügig empfanden, der, wie die Autorin an einer anderen Stelle schreibt, auf einem Vertrauen in die Vereinigten Staaten und Europa, in die Größe der westlichen Demokratie und auf dem Ehrgeiz gründete, die Demokratie mit dem Rest der Welt zu teilen.

Die Freundschaften sind heute Geschichte, ebenso jener konservative Optimismus. Heute stehen sie und die damals geladenen Gäste, so empfindet es Anne Applebaum, auf entgegengesetzten Seiten eines tiefen Grabens. Die einstigen Konservativen Polens, Ungarns, Spaniens, Frankreichs, Italiens und zum Teil auch Großbritanniens und der Vereinigten Staaten sind in zwei Lager gespalten. Begegnen sie sich heute zufällig auf der Straße, würden sie die Seiten wechseln. Wie konnte es dazu kommen?

Dass Anne Applebaum einen Essay als Form wählt, um diese Frage zu beantworten, ist eine der Stärken von »Die Verlockung des Autoritären«. Es ist keine kühle Studie, sondern eine persönliche Annäherung, ein Hinterfragen der eigenen Positionen, der Versuch, Überlegungen so anzuordnen, um dem eigenen emotionalen, intellektuellen und politischen Schmerz eine Erklärung zu geben.

Drei Autor:innen dienen als analytische Anhaltspunkte. Zunächst einmal die Verhaltensökonomin Karen Stenner. Eine ihrer wesentlichen Thesen lautet, dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe. Diese autoritäre Veranlagung birgt eine Sehnsucht nach Homogenität und Ordnung. Es sind Menschen, die keine Komplexität aushalten und offen ausgetragene Meinungsverschiedenheiten nicht ertragen. Für Stenner wie für Applebaum ist dies eine Frage der Haltung, keine politische Frage von links oder rechts. Denn auf der anderen Seite stehen Menschen mit einer freiheitlichen Veranlagung, Menschen, die Differenzen aushalten und Vielfalt als Bereicherung verstehen. Applebaum entdeckt diese autoritäre Veranlagung in Osteuropa, in Mittel- und Westeuropa wie auch in den angelsächsischen Ländern.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum anti-demokratische Herrschaft so populär geworden ist. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag 2021. 208 Seiten, 22,00 Euro. Hier bestellen

Neben Stenner verweist Applebaum immer wieder auf Julien Benda. Dieser französische Philosoph hatte 1927 mit »La Trahision des Clercs« einen noch immer wirkmächtigen Essay veröffentlicht. »Der Verrat der Intellektuellen«, wie die deutsche Übersetzung lautet, findet sich darin, dass sie die von ihnen eigentlich zu vertretenden Position des Universalismus negieren, nämlich Gerechtigkeit als die relevante Tugend und Demokratie als die beste Organisationsform des Politischen. Stattdessen widmeten sich die Technokraten und Bürokraten, die unter dem französischen Begriff »clercs« zu verstehen sind, ihren »politischen Leidenschaften«, dem Klassenkampf, dem Nationalismus, dem Rassismus. Der US-Amerikaner Steve Bannon, der Brite Dominic Cummings, die Ungarin Mária Schmidt, der Pole Jacek Kurski, der Spanier Rafael Bardají sind Prototypen dieser clercs des 21. Jahrhunderts. Oder mit den Worten der Autorin: »Viele der (meist konservativen) Freunde, Bekannten und Kollegen sind den »Verlockungen des Autoritarismus« erlegen, weil sie nach dem Ende des Kommunismus nicht recht zum Zug kamen, aber Opportunisten und Ehrgeizlinge sind, die nach Machtpositionen streben.«

Von Fritz Stern leiht sich Applebaum den Begriff des Kulturpessimismus. Ihn hatte der deutsch-amerikanische Historiker in seiner Dissertation von 1953 als politische Gefahr des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts identifiziert. Julius Langbehn, Paul de Lagarde und Arthur Moeller van den Bruck weckten, so Stern, eine nostalgische Sehnsucht nach einer anderen und besseren Zeit, in der Menschen aktiv waren und große Führer der Welt ihren Stempel aufdrückten. Dieser Kulturpessimismus strahlte in weite Kreise des deutschen Bürgertums des Kaiserreichs und der Weimarer Republik und prägte deren politische Kulturen. Applebaum erklärt den Brexit mit dem Hinweis auf Stern und verweist auf eine Reihe nachdenklicher Tories, die zwischen den 1990er und 2010er Jahren von einem britischen Kulturpessimismus erfasst wurde.

Es sind diese Haltungen und Einstellungen, die es Herrschern auf ihren Wegen in den Autoritarismus leicht machen, ihre Spielarten eines Einparteienstaats zu etablieren. Vorbild dabei ist niemand geringeres als Lenin. Mit diesem bolschewistischen Revolutionär teilen sie ihre Verachtung für die bürgerliche Demokratie, ihre Vorstellung von einem neutralen Staat und einer unpolitischen Beamtenschaft sowie ihren Hass auf die vermeintlich freie, aber doch so verlogene Presse. Wie Lenin lehnen Viktor Orbán, Jaroslaw Kaczynski, Donald Trump und auch Boris Johnson ein demokratisches Wettbewerbsmodell ab, das Wettbewerb und Leistung belohnt, sondern sie vergeben Beamtenstellen und Positionen in Regierung und Industrie nicht den Fleißigsten und Fähigsten, sondern den Treuesten. Nicht nur in China feiert Lenin aktuell seine politische Auferstehung.

Für Applebaum liegen die Ursachen der autoritären Verlockung nicht in den wirtschaftlichen Umständen. Quer durch die Bevölkerung hatte sich etwa die wirtschaftliche Lage in Polen deutlich seit der Jahrtausendwende verbessert, genau in diesen Zeitraum konstatiert die Autorin aber den Aufstieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unter Jarosław Kaczyński. Auch den Brexit erklärt die Historikerin nicht in erster Linie mit ökonomischen Gründen. Für sie ist es die Addition der »schieren Machtgier« von Boris Johnson, der hasserfüllten Ablehnung des traditionellen Establishments von Bevölkerung und zu kurz gekommenen clercs sowie der verbreiteten Nostalgie der kulturpessimistischen Tories nach einem Britannien, das einst eine Weltmacht war. Die Projektion des Bösen war die EU. Um noch einmal Applebaum zu zitieren: »Die Vorstellung, dass England, das einzige europäische Land, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich als Siegermacht fühlen durfte – das Land, das nie erobert wurde, das nie kapituliert hat, das von Anfang an auf der richtigen seit stand – zu Beginn des 21. Jahrhunderts seine Gesetze nur in Abstimmung mit anderen europäischen Ländern verabschieden konnte, war unerträglich.« So erklärt sich das knappe Leave eben ohne jede simplizistische ökonomische Theorie.

Anne Applebaum ist ein beeindruckender, unbedingt lesenswerter Versuch gelungen, die aktuellen besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn, Polen, Großbritannien und dem USA von Donald Trump zu erklären. Gerade der Mix von persönlichen Erfahrungen, historischen Reflektionen und politischen Kommentierungen machen es zu einem intellektuellen Gewinn. Dabei mag man etliche Stellen kritisieren. Etwa die sublime Einschätzung der Autorin einer verführbaren Masse, die von der Komplexität einer unübersichtlich gewordenen Welt überfordert ist. Globalisierung ist aber nicht nur eine kulturelle oder politische Verängstigungsmaschine, sondern auch eine Erfahrung von ökonomischer Deprivation.

Die Vehemenz, mit der sie die These von den kosmopolitischen »Anywheres« und den provinziellen »Somewheres« ablehnt, zeugt eher davon, dass David Goodhart doch nicht ganz unrecht hat. Hier fühlt sich eine »Anywhere« wohl deutlich ertappt. An einigen Stellen hätte ich mir gewünscht, dass Applebaum ihre eigene privilegierte Stellung reflektiert. Für sie mag es normal sein, dass der ehemalige schwedische Außenminister zur Sommerparty kommt, Bekanntschaft mit der slowakischen Präsidentin geschlossen wird oder der ehemalige Londoner Bürgermeister namens Boris Johnson mit dem Rad Halt macht, um mit ihr spontan in einen Pub zu gehen. Dies sind nicht die Erfahrungen der Somewheres in Olsztyn, Kecskemét, Uelzen, Tamames, Findlay.

Es ist etwas anderes, was hier zum Vorschein kommt: das intellektuelle Elend des aktuellen Konservatismus. Ja, vergangen ist der optimistische Konservatismus, wie er einst von Ronald Reagan, Helmut Kohl, Jacques Chirac, John Major und auch Donald Tusk verkörpert wurde und zu dem sich auch Anne Applebaum bekennt. Was ist mit ihm geworden? Begrüßenswert ist die Haltung der Autorin, hart mit allen Autoritarismen ins Gericht zu gehen. Ja, sie spalten, polarisieren, und treiben Menschen in verfeindete Lager. Die Autoritarismen, von den Anne Applebaum schreibt, sind aber Fleisch vom Fleisch des Konservatismus. Es stellt sich dringend die Frage, was heute noch konservativ ist. Wie ein moderner, zeitgemäßer Konservatismus aussieht. Denn nicht nur die Bewegung nach rechts ist verwehrt, sondern auch links ist der politische Platz längst besetzt.

Gegen Ende des Buches beschreibt die Autorin ihr letztes großes Fest im sommerlichen Polen 2019. Sie beschreibt beschwingt das Miteinander ihrer unterschiedlichsten Gäste, von Bekannt und Unbekannt, Anywheres und Somewheres, Jung und Alt. Nostalgisch schreibt sie: »Es ist möglich, an einem Ort verwurzelt und dennoch weltoffen zu sein. Es ist möglich, gleichzeitig regional und global zu denken.« Natürlich ist es möglich. Und natürlich ist es möglich, dass es gerade die Jugendlichen sind, »die sich sowohl als Polen als auch als Europäer fühlen und denen es egal ist, ob sie in der Stadt oder auf dem Land sind, die Vorboten von etwas Neuem, von etwas Besserem, das wir uns noch nicht vorstellen können.« Dieses Lebensgefühl aber – das möchte ich mit meinen nun 25 Jahren Mitgliedschaft bei Bündnis 90/Die Grünen schreiben – trägt mich schon eine Ewigkeit. Ist Konservatismus nichts mehr als die nachholende Modernisierung eines grünen Lebensgefühls?

Ja, mit einer Konservativen wie Anne Applebaum würde ich gerne darum ringen, alten Konzepten und missverstandenen Begriffen eine neue Bedeutung zu verleihen, eine neue politische Kultur zu etablieren, darüber nachzudenken, wie Demokratie im digitalen Zeitalter aussehen kann. Ja, ich teile mit ihr auch das Plädoyer, dass freiheitliche Demokratien ihren Bürgern immer etwas abverlangt haben und abverlangen müssen: Teilnahme, Diskussion, Einsatz und Auseinandersetzung. Demokratien müssen Stimmengewirr und Durcheinander aushalten und denen Kontra geben, die es anzetteln. Es wird aber zu kurz gegriffen sein, den Liberalismus, den Konservatismus, die Sozialdemokratie als politische Philosophien lediglich neu formulieren zu wollen. Die Größe und die Dringlichkeit der gesellschaftlichen und politischen Probleme des 21. Jahrhunderts – kurzfristig die Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie, mittel- und langfristig die Verhinderung eines zu starken Klimawandels – werden wir mit einem Reset der Ideen aus dem 18., 19. und 20. Jahrhunderts nicht lösen können.

Einer so klugen Frau wie Anne Applebaum möchte ich es nicht zutrauen, an ein solches Reset zu glauben. Und vielleicht ist die Erkenntnis, wohin ein nostalgischer Konservatismus abrutschen kann, die nötige Aufforderung, eine grundlegend neue politische Philosophie zu formulieren. Es wird aber nicht die Aufgabe des Coronavirus sein, »ein neues Gefühl der weltumspannenden Solidarität« zu schaffen. Das müssen wir Menschen tun. Auch die ehemals so optimistischen Konservativen.