Zwei Jahre nach seiner Auszeichnung in Cannes erscheint nun endlich Kantemir Balagovs »Bohnenstange« fürs Heimkino. Er erzählt aus weiblicher Perspektive von den schrecklichen Folgen der Belagerung von Leningrad.
Der Krieg ist Tage vorbei, Leningrad liegt in Schutt und Asche. Von der Schönheit der Stadt der Zaren erzählen nach zweieinhalb Jahren deutscher Belagerung nur noch die Narben. Kantemir Balagovs vor zwei Jahren in Cannes ausgezeichneter Film zeigt diese Narben nicht nur auf den einst prächtigen Gemäuern, sondern auf den Körpern der Kriegsversehrten und in den Seelen der Hinterbliebenen.
Im Mittelpunkt steht Iya, die aufgrund ihre Statur von allen nur Bohnenstange genannt wird. Sie lebt mit dem kleinen Paschka, dem Sohn ihrer Freundin Mascha, in einer Gemeinschaftswohnung und versorgt Kriegsverletzte in einem der vielen Krankenhäuser. Der Krieg steckt ihr tief in den Knochen. Immer wieder wird sie von einer unkontrollierbaren Schockstarre erfasst. Bei einem dieser Anfälle kommt es zu einem furchtbaren Unglück, bei dem der Junge stirbt.
Der Tod ist in diesem Film so allgegenwärtig, so dass sich selbst dieses tragische Ereignis nahezu geräuschlos vollzieht. Über dem ganzen Film liegt eine gespenstische Stille. Die Brutalität und das Grauen des Krieges fängt die Kamera in den Blicken, Gesten und Narben der Protagonisten ein. Als Mascha von der Front zurückkehrt, hat sie genug vom Sterben und sehnt sich nach Leben. Doch weil sie selbst keines mehr geben kann, nimmt sie Iya mit der Dominanz einer bösen Schwiegermutter in die Pflicht. »Du hast mein Kind sterben lassen, jetzt gib mir ein Neues«, fordert sie. Sie strickt ein Komplott, in dem ihre Freundin mit dem erschöpften Stationsarzt ein Kind zeugen und es für sie austragen soll. Andernfalls würde sie publik machen, dass sie lebensmüde Soldaten mit Giftspritzen die letzte Gnade erweisen. Ein Vergehen, dass im stalinistischen Russland einem Todesurteil gleichkommt – nicht weil Iya des Mordes angeklagt würde, sondern der Verschwendung von Rohstoffen, spricht Medikamenten.
Fortan steht die gleichermaßen intensive wie rätselhafte Wechselbeziehung der beiden Frauen im Zentrum des Films. Basierend auf Interviews, die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch für »Der Krieg hat ein weibliches Gesicht« mit Frauen geführt hat, die im Zweiten Weltkrieg an der Front waren, erzählt Balagov hier aus weiblicher Perspektive vom Krieg. Denn Mascha wurde nicht im Kampf verletzt, sondern in ihrer Rolle als Sexsklavin von ranghohen Soldaten und Generälen.
Bohnenstange from eksystent Filmverleih on Vimeo.
Wie in einem Kammerspiel wird das ungleiche Verhältnis der beiden Frauen immer wieder neu ausgelotet. Die zerbrechliche Iya und die wilde Mascha werden famos von Viktoria Miroschnitschenko und Wasilisa Pereligina gespielt, die ihre Rollen eindrucksvoll spielen und beide eine echte Entdeckung sind.
Die eigentlichen Kämpfe bekommen in Balagovs Film keinen Platz, die Umstände, die sie hervorbringen, schon. Etwa wenn der kleine Paschka im Krankenhaus Tiere raten soll und das Bellen von Hunden nicht erkennt. »Woher soll Paschka denn Hunde kennen, die wurden alle gegessen«, erklärt einer der Patienten das Schweigen des Kindes.
Der Film des im Nordkaukasus geborenen Regisseurs erstickt nicht wie das 2020 bei der Berlinale kontrovers diskutierte Stalinismusexperiment »DAU. Natasha« des Russen Ilja Chrschanowskis in tristem Grau, sondern strahlt in expressionistischen Farben. Die grün und rot leuchtenden Kleider setzen wie surreale Gegenblenden den seelischen Abgründen der Figuren etwas Hoffnungsvolles entgegen.