Film

Wahrheit und Fiktion

In Justine Triets »Anatomie eines Falls« spielt Sandra Hüller als Schriftstellerin und Mutter unter Verdacht groß auf. In Cannes gewann der Film die Goldene Palme, in London den Bafta für das beste Originaldrehbuch. Bevor der Film Ende des Monats im besten Fall fünf Oscars gewinnen kann, unter anderem auch Sandra Hüller als beste Hauptdarstellerin, startet Justine Triets Justizthriller hier für das Heimkino.

»Können Sie nur über Dinge schreiben, die Sie selbst erlebt haben?«, fragt eine junge französische Studentin die deutsche Schriftstellerin Sandra Voyter, die mit ihrem Mann Samuel (Samuel Theis) und dem gemeinsamen Sohn Daniel in einem Chalet in den französischen Alpen lebt. Natürlich müsse man etwas erleben, um zu schreiben, antwortet die Autorin, Fiktionen hätten ihre Wurzeln schließlich in der Wirklichkeit. Dann bricht die Gegenwart lärmend in dieses Gespräch, laute Musik schallt in Dauerschleife durch das Haus. Das sei ihr Mann, seufzt die Autorin verlegen, er arbeite. Je länger die Musik läuft, desto mehr schlägt die gelassene Atmosphäre in Beklemmung um, so dass die Frauen beschließen, ihr Gespräch zu vertagen.

Justine Triet: Anatomie eines Falls. Mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis. 150 Minuten. Plaion Pictures.

Mit diesen Sequenzen beginnt Justine Triets »Anatomie eines Falls«, sie werden später von Bedeutung sein. Kurz nach dem Gespräch dreht Sandras Sohn Daniel mit seinem Hund eine Runde durch den Schnee. Als er zurückkommt, findet er seinen Vater blutüberströmt vor der Berghütte auf. Panisch ruft er nach seiner Mutter, aber für Samuel kommt jede Hilfe zu spät.

Wurde Samuel ermordet? Hat er sich aus Verzweiflung in die Tiefe gestürzt? Oder ist sein Tod Resultat eines tragischen Unfalls? Letztes glaubt Sandra, die aufgrund einiger Ungereimtheiten jedoch bald selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen gerät. Obwohl man ihr nichts nachweisen kann, wird ein Jahr später Anklage wegen Mordes gegen sie erhoben. Ausgerechnet ihr sehbehinderter Sohn – beeindruckend gespielt von Milo Machado Graner, der entscheidend zur emotionalen Tiefe dieses Films beiträgt – wird zum Hauptzeugen in einem nervenaufreibenden Indizienprozess, der die Angeklagte in vielfacher Weise herausfordert. Denn vor Gericht wird nicht nur die komplexe Beziehung zwischen ihr und Samuel ausgerollt, sondern auch ihr Verhältnis zu ihrem Sohn auf eine Bewährungsprobe gestellt. Aus dem Sturz eines Körpers wird der freie Fall einer Frau, die um ihr Recht auf ein freies Leben und ihre Beziehung zu ihrem Sohn kämpft.

Justine Triets vierter Langfilm ist ein packendes Justiz- und Beziehungsdrama, das nicht wie Alice Diops »Saint Omer« die sozialen Ursachen einer Tragödie vermisst, sondern beständig die Frage bewegt, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion verläuft. Dabei unterläuft der Film alle vermeintlichen Gewissheiten, wirft einen als Zuschauer:in selbst in das undurchsichtige Chaos der Ereignisse und seiner Vorgeschichte, die hier aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden. Bei dieser akribischen Autopsie dieser Ehe kommen Dinge ans Tageslicht, die kein gutes Licht auf Sandra und Samuel werfen.

Milo Machado Graner © Les Films Pelléas, Les Films de Pierre


Dabei verweigert diese nahezu dokumentarisch erzählte Geschichte augenöffnende Rückblenden. Die Kamera bleibt während der Verhandlungen – mit einer klug gesetzten Ausnahme – im Gerichtssaal, wo Widersprüche, Halbwahrheiten und steile Hypothesen von einem überambitionierten Staatsanwalt (Antoine Reinartz) und einem sensiblen Verteidiger (Swann Arlaud) verhandelt werden.

Eine visuelle Wahrheit, die wie ein Zeuge die Zuschauer auf die eine oder die andere Seite zieht, gibt es nicht. Stattdessen nur eine riesige Leere, die das Wort füllen muss. In einer Sprache, die Sandra nicht ausreichend beherrscht, weshalb sie immer wieder ins Englische ausweichen muss und so noch schroffer wirkt. Im Ringen um die Frage, was an diesem Tag wirklich geschah, zerschellt das Bedürfnis nach juristischer Eindeutigkeit permanent an der Ambivalenz und Durchlässigkeit des Lebens.

Sandra Hüller im Gerichtssaal © Les Films Pelléas, Les Films de Pierre


Technisch wartet der Film in vielfacher Weise mit guten Ideen auf. Denn Triet versteht es, die Voreingenommenheit des Publikums zu bebildern. Als die Angeklagte mit der Audioaufnahme eines Streits belastet werden soll, springt der Film für einen Moment in die Konfliktsituation. Als aber auf der Tonspur der Disput eskaliert, ist die Kamera wieder im Gerichtsaal. Niemand sieht etwas, aber alle machen sich ein Bild. Dazu kommt der nuancierte Einsatz von Musik, die nur eingangs als Auslöser des Films und fortan als Taktgeber gut funktioniert. Cineasten mag dies an Hans-Christian Schmidts »Das Requiem« erinnern, wo Klaviermusik die Handlung ähnlich vor sich hertreibt.

»Anatomie eines Falls« wurde beim diesjährigen Filmfestival in Cannes als bester Film ausgezeichnet. Nach Jane Campion (»Das Piano«) und Julia Ducourneau (»Titane«) ist Triet erst die dritte Regisseurin, der dies gelang. Das lag nicht nur am großartigen Drehbuch und der kongenial-vielsprachigen Inszenierung, sondern auch am umwerfenden Spiel von Sandra Hüller, die ihre gleichermaßen spröde wie verletzliche Figur mit jeder Faser verkörpert.

Sandra Hüller © Les Films Pelléas, Les Films de Pierre


In Cannes blieb die deutsche Schauspielerin, die zuletzt in Filmen wie »Sisi und ich«, »Ich bin dein Mensch« oder »In den Gängen« zu sehen war, die ungekrönte Königin des diesjährigen Wettbewerbs. Sie wurde wohl nur deshalb nicht als beste Darstellerin ausgezeichnet, weil auch der zweite Film mit ihrer Beteiligung, Jonathan Glazers bedrückender Auschwitz-Film »The Zone of Interest« mit dem Großen Preis der Jury einen der Hauptpreise gewann. Drei Preise an Hüller-Filme wären wohl zu viel gewesen, wenngleich nicht nur die LA Times Hüller als Favoritin für die Auszeichnung gesehen hatte. In Jonathan Glazers Verfilmung von Martin Amis gleichnamigen Auschwitz-Roman spielt Hüller Hedwig Höss, die Frau von Lagerkommandant Rudolf Höss, der Film ist letzte Woche in den deutschen Kinos gestartet.

So kommt es, dass Hüller der große deutsche Star in der diesjährigen Oscar-Saison ist. »Anatomie eines Falls« ist für fünf Oscars nominiert, »The Zone of Interest« ebenfalls für fünf Academy Awards. Da ging es bei manchen Medien fast unter, dass mit Ilker Catak endlich mal wieder ein deutsche Regisseur um den Oscar für den besten internationalen Film konkurriert. Sein toller Film »Das Lehrerzimmer« ist unter anderem neben Wim Wenders Film »Perfect Days« nominiert.

Bei den französischen Filmpreisen gewann »Anatomie eines Falls« vor wenigen Tagen sechs Césars, unter anderem als bester Film, für die beste Regie und Sandra Hüller wurde als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Das wurde sie auch schon bei den Europäischen Filmpreisen, wo Triets Justizdrama insgesamt sieben Preise abräumte.

Mit Justine Triet hat Hüller schon einmal zusammengearbeitet, 2019 in dem ebenfalls in Cannes uraufgeführten Drama »Sybil – Therapie zwecklos«. Einen größeren Eindruck hinterließ Hüller an der Cote d’Azur allerdings drei Jahre zuvor, als »Toni Erdmann« von Publikum und Kritiker:innen als großer Favorit ausgerufen wurde und dennoch leer ausging.

In »Anatomie eines Falls« spielt die Deutsche eine Autorin, die von sich sagt, dass sie beim Schreiben die Spuren verwischt, damit die Fiktion die Wirklichkeit zerstören kann. Und eine freie Frau, die für die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Sexualität, ihre Arbeit und ihre Mutterschaft lebt, argwöhnisch beäugt wird. Sie verleiht ihrer Figur Tiefe und Wahrhaftigkeit. In jeder Geste und jedem Blick liegt die ganze Welt der Emotionen, aber auch der seelische Abgrund scheint nie fern. Sandra Hüller macht diesen Film zu einem ebenso intimen wie psychologischen Porträt einer Frau, die versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen.

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