Der Roman »Iman« des Franko-Kanadiers Ryan Assani-Razaki und der Comic »Unsichtbare Hände« des Finnen Ville Tietäväinen vermitteln ein differenziertes Bild davon, warum sich viele Flüchtlinge in Europa ein besseres Leben erhoffen und sich auch von den besten Grenzschutzmaßnahmen nicht abschrecken lassen werden.
Was treibt die vielen Menschen an, die jedes Jahr die gefährliche Passage von Nordafrika nach Europa wagen? Mehr als 23.000 Menschen sollen seit 2000 dabei ums Leben gekommen sein. Dennoch reißt der Flüchtlingsstrom nicht ab. Seit Wochen steigt die Zahl der in Seenot geretteten oder an den europäischen Küsten aufgegriffenen Bootsflüchtlinge, denn die Witterungsbedingungen sind günstig für die Überfahrt. Die Europäische Union setzt, ringend mit moralischen, humanitären und menschenrechtlichen Verpflichtungen, auf verstärkten Grenzschutz. Zwar hat das Europäische Parlament der Grenzschutzagentur Frontex neue Verfahrensvorgaben verordnet. Der Auftrag der Grenzschützer, irreguläre Einwanderung mit allen möglichen Mitteln zu verhindern, bleibt aber bestehen.
Zwei aktuelle Bücher machen deutlich, dass auch die besten Grenzschutzmaßnahmen künftig nicht verhindern werden, dass sich die »heimatlosen Wanderer« – wie der nigerianische Schriftsteller Helon Habila Afrikas Migranten in seinen Romanen nennt – auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Der Roman Iman des in Benin geborenen und in Kanada lebenden Autors Ryad Assani-Razaki sowie der Comic Unsichtbare Hände des Finnen Ville Tietäväinen machen auf eindrucksvolle Weise die gesellschaftliche Misere in den Herkunftsstaaten und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit der Menschen in diesen Regionen deutlich. Differenziert und abseits der herkömmlichen Klischees handeln sie davon, warum Menschen ihr Leben für ein Versprechen aufs Spiel setzen, das für die wenigsten in Erfüllung geht.
Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und die Konsequenzen der traditionellen Männergesellschaft sind es, die den Titelhelden von Assani-Razakis Roman von einem besseren Leben in Europa träumen lassen. Als lästige Erinnerung an eine flüchtige Affäre mit einem europäischen Handelsreisenden ist Iman das Schandzeichen seiner Mutter. Seine Existenz ist der Malus ihres Lebens, sie drückt dem seinen durch ihr Handeln den Stempel auf. Vom Stiefvater geschlagen und der eigenen Mutter verstoßen, versucht Iman auf den Straßen seiner Heimat, einem nicht genannten, afrikanischen Staat, ein besseres Leben zu finden. Doch schnell begreift er, dass einer wie er in dieser Gesellschaft nicht auf ein besseres Leben zu hoffen braucht. Daran ändert auch seine tiefe Verbundenheit mit Toumani nichts, der als Sechsjähriger für ein paar Euro von seiner Familie verkauft wird. Sein neuer Besitzer schlägt ihn wegen einer Lappalie halb tot und wirft ihn im wahrsten Sinne des Wortes auf den Müll. Iman findet den schwerverletzten Jungen in einem Gulli und rettet ihm das Leben. Dieser Augenblick ist die Keimzelle einer lebenslangen Freundschaft, an der später auch die junge Alissa nichts ändern wird, wenngleich sie, die eigentlich zu Toumani gehört, sich Iman an den Hals wirft.
Das Leben, von dem man in diesem Buch erfährt, ist bedrückend. Es ist nicht nur voller Entbehrungen, sondern ein von Traditionen und Gewalt vorbestimmter Pfad, dem man nur entkommen kann, wenn man es vollkommen hinter sich lässt. Und genau dies ist Imans Plan. »Das Schicksal der Welt wird woanders entschieden«, sagt sein Freund Toumani im Roman. Wo auch immer dieses Woanders liegt, es ist Imans Sehnsuchtsort: »Selbst wenn ich dort krepiere, ist mir das lieber, als weiter hier zu leben.«
Im Roman wird Imans Leben in Rückblicken und Erinnerungen wie ein Puzzle zusammengesetzt. Seine Großmutter Hadscha und seine Mutter Zainab erzählen anfangs von der sein Leben prägenden, belasteten Familienvergangenheit, sein Halbbruder Désiré sowie seine Freunde Toumani und Alissa von den prägenden Erlebnissen mit Iman. Das Präteritum thront über dieser Geschichte, schiebt die erzählte Wirklichkeit in die Vergangenheit und macht damit deutlich: Iman ist nicht mehr da, wo er herkommt und wo diejenigen sind, die sich an ihn erinnern. Was aus ihm geworden ist, erfahren die Lesenden nicht. Die Abwesenheit seiner Stimme im Roman lässt wenig Gutes hoffen.
Was aus jenen wird, die gehen, und was sie an ihren Sehnsuchtsorten erwartet, davon erzählt Ville Tietäväinens grafische Erzählung Unsichtbare Hände. Der Antiheld der Erzählung Rashid träumt von einem besseren Leben. Er lebt mit seiner Frau Amina und seiner kleinen Tochter Amal mehr schlecht als recht in den Armenvierteln der marokkanischen Küstenstadt Tanger. Er versucht sich und seine kleine Familie mit Aushilfsjobs über Wasser zu halten. Seine Frau könnte in einer Nähfabrik arbeiten, aber er will es nicht. Sein Ehrgefühl als Familienvater und die Gerüchte, der Fabrikbesitzer gehe den auf das Geld angewiesenen Näherinnen an die Wäsche, tragen ihren Teil dazu bei. Gemeinsam mit seinem Freund Nadim entschließt er sich, die gefährliche Überfahrt nach Europa zu wagen, um dort eine Zukunft für seine Familie zu suchen.
Comics zum Themengebiet Flucht und Asyl sind rar. Die deutsche Zeichnerin Paula Bulling hatte im vergangenen Jahr mit Im Land der Frühaufsteher eine grafische Erzählung zur Asylsituation in Sachsen-Anhalt vorgelegt, im Reportagen-Band des in Malta geborenen und in Australien lebenden »Comicjournalisten« Joe Sacco befindet sich ein 50-seitiger Bericht über die afrikanische Migration nach Malta.
Der finnische Grafiker und Zeichner Ville Tietäväinen hat in Nordafrika und Spanien fünf Jahre lang für seinen mit dem renommierten Finlandia-Preis ausgezeichneten Comic Fakten gesammelt. Unterstützt wurde er dabei von dem Soziologen und Anthropologen Marko Juntunen, dessen wissenschaftliche Studie Zwischen Marokko und Spanien: Männer, Menschenschmuggel und die zerstreute marokkanische Gesellschaft am Anfang dieses außergewöhnlich gut recherchierten Projekts stand. Tietäväinen hat in Nordafrika mit wartenden Flüchtlingen, migrationswilligen Arbeitern und ihren Familien, mit Schleppern, Grenzschützern und Experten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gesprochen, um die komplexe Situation in der Region zu verstehen. Er ist wochenlang durch die Folienstädte von Almeria gewandert und hat sich die Geschichten der in Europa gestrandeten, rechtlosen Einwanderer angehört. Tausende Rachids habe er getroffen, sagt Tietäväinen auf seine Recherchen angesprochen. Sie berichten von den mafiösen Strukturen auf beiden Seiten des Mittelmeeres, aus deren Fängen sich nur die wenigsten Fliehenden jemals befreien können. In Unsichtbare Hände hat er die unzähligen Schicksale dieser hoffnungslos Ausgelieferten in seiner Hauptperson zusammengeführt.
Der Titel des Comics trägt eine doppelte Bedeutung. Zum einen rekurriert er auf Rachids letzten Bezugspunkt in der Verlorenheit des Exils, seinen Gott, in dessen Hände er sich begibt. Zum anderen ist er eine Hommage an all die irregulären Arbeitsmigranten in den südspanischen Treibhäusern, die dort unter menschenunwürdigen Bedingungen das Gemüse für die Supermärkte dieser Welt anbauen. Sie sind die »unsichtbaren Hände« in der »vierten Welt«, von der die erste nichts wissen will. Die plastic cities in der Region von Almeria, wo über 60 Quadratkilometer Treibhaus an Treibhaus stehen, wirken wie »das Spiegelbild des Meeres«, in dem sich das Flüchtlingsdrama auf seine ganz eigene Weise fortsetzt.
Sowohl in Ryad Assani-Razakis Roman als auch in Ville Tietäväinens Comic gibt es die Mahner und Warner, die den Auswanderungswilligen der goldenen europäischen Illusion ein realistischeres Bild gegenüberstellen. Ihre Worte gelten aber wenig. Die Ausweglosigkeit derjenigen, die sich ein besseres Leben wünschen, ist zu groß. Selten ist dies eindringlicher und plastischer beschrieben worden als in diesen beiden Büchern, die sich ideal ergänzen. Beide machen auch die bis heute andauernden Folgen des europäischen Kolonialismus deutlich, denn letztlich sind die Verhältnisse, von denen hier die Rede ist, Konsequenzen der Verteilung von Macht und Ohnmacht in der Welt.
In ihrer beeindruckenden Authentizität verleihen die beiden Bücher dem überbordenden Faktenwissen der zahlreichen Sach- und Fachbücher, der Dokumentationen und Studien etwas erschütternd Konkretes. Sie rücken die Schicksale all jener in den Vordergrund, die fern von der Wirklichkeit der meisten Leser ihr Leben riskieren. Die Titel könnten kaum besser dazu beitragen, die längst überfällige gesellschaftliche Debatte über die europäische Einwanderungspolitik anzustoßen.
Dieser Beitrag erscheint parallel im Newsletter “Migration & Bevölkerung”
[…] Jungen kommen nach einer Tortour hier an. Dann warten sie ein paar Wochen auf die BÜMA (Bescheinigung über die Meldung als […]
[…] gigantischen Gewächshaus, das sich bis in die Unendlichkeit ausdehnt, wie man es vom spanischen Alméria kennt. Es wird »das gläserne Meer« genannt und von im Weltall schwebenden Spiegeln beleuchtet, […]