Comic

Das digitale Millionengeschäft

Mehr als 75.000 digitale Comictitel von über 750 Verlagen vertreibt die Online-Plattform ComiXology. Mit ihrer »Guided View«-Technology will die weltweit wichtigste Plattform für eComics, die im vergangenen Jahr von Amazon gekauft wurde, die Leseerfahrung von Comiclesern revolutionieren. Nicht alle in der Branche sind davon begeistert.

Der Digitalcomicmarkt in den USA boomt wie in keiner anderen Weltregion. Nachdem der 2009 gestartete eComics-Händler ComiXology drei Jahre nach seiner Gründung bereits 100 Mio. Downloads registrieren konnte, knackte die Digital-Comics-Plattform im September 2013 bereits die Marke von 200 Mio. Downloads. Gut ein halbes Jahr später trat Jeff Bezoz auf die Bühne und schluckte den vielversprechenden Zwischenhändler von digitaler Comicware. Seither sind die Verkäufe etwas zurückgegangen. Dennoch stehen die Sektflaschen, um die magische Zahl von 300 Mio. Comicbuch-Downloads zu feiern, quasi schon kalt, es fehlen der Amazon-Tochter noch knapp zehn Mio. Downloads.

Was diese Zahlen bedeuten, zeigt ein Blick auf die Konkurrenz. Der auf Comics und Populärkultur spezialisierte Vertrieb Verse Media hat seit 2008 mit seiner App ComicsPlus fünf Mio. Downloads registriert, die lange Zeit vielversprechende, im Sommer 2014 aber heruntergefahrene Selfpublishing-Plattform Graphic.ly kam zu Hochzeiten auf etwas mehr als 500.000 Downloads im Jahr.

Die Dominanz von ComiXology zeigt sich auch an anderen Zahlen. Mit über 75.000 digitalen Titeln ist das Portfolio des Branchenprimus fast dreimal so groß wie das des zweitplatzierten Onlinediensts ComicBookPlus, der die Scans von etwa 27.000 Klassikern bereithält. Danach folgen auf den Rängen die Selfpublishing-Plattform Tapastic mit etwas mehr als 11.000 Indie-Titeln sowie Branchengründer DriveThruComics und ComicsPlus mit ein paar tausend eComics. Anbieter wie Sequential, ComicBin, Thrillbent oder Madefire halten weniger als eintausend Titel vor. Auch bei der Anzahl der eingebundenen Verlage und Künstler thront ComiXology weit über dem Rest.

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eComics sind mehr als digitale Bücher und revolutionieren die Lesekultur. »Guided View« heißt die Wundertechnik, die es den Nutzern ermöglicht, Comics auf Smart-PCs, Tablets oder Smartphones sowohl im Ganzseitenmodus als auch Panel für Panel zu lesen. Die natürliche Augenbewegung wird dabei zur Grundlage des sukzessiven Aufbaus der Seiten. Durch das Einbinden von akustischen Signalen wird die Lektüre zunehmend zu einem interaktiven, fast cineastischen Erlebnis.

Diese Entwicklungen führen zum stetigen Wachstum der Branche, der Digitalcomicmarkt hat nach Berichten des Popkulturkanals ICv2 im vergangenen Jahr die magische Schwelle von 100 Mio. US-Dollar Jahresumsatz (von geschätzten 900 Mio. US-Dollar Jahresumsatz der gesamten Comicindustrie) überschritten. Schätzungsweise neun von zehn Einkäufen sollen dabei über ComiXology und Amazon abgewickelt worden, schätzen Experten.

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Die Kritik an dieser Monopolstellung war von Anfang an verschwindend gering. Als Amazon im April 2014 den schon damals weltweit führenden Digitalcomichändler übernahm, jubelte die Branche. DC Entertainment (Batman, Superman, Watchmen) ließ mitteilen, dass man zufrieden sei, einen so starken Partner an seiner Seite zu wissen, der die Verlage dabei unterstützen werde, »das am schnellsten wachsende Segment der Branche zu schaffen«. Der Selfpublisher Madefire, der auf der technischen Ebene eine interessante Alternative zu ComiXology darstellt, bezeichnete die Übernahme als eine »fantastische Neuigkeit«. Der erfolgreichste eComics-Verlag Marvel wies nur müde darauf hin, dass der eigene Onlinestore fürs Digitalgeschäft mit der Übernahme nicht obsolet sei. Dabei arbeitete der Verlag von Comichits wie Avengers, Daredevil oder X-Men schon damals mit dem eComic-Anbieter zusammen. Im Juni dieses Jahres wurde gar eine exklusive Kooperation vereinbart und auf Amazon ausgeweitet, so dass seither 12.000 digitale Titel des Verlags – darunter beispielsweise auch alle 796 Spider-Man-Titel – in dessen Kindle Store zum Download bereitstehen. Genau darin bestand auch das Interesse von Amazon bei der Übernahme. Es ging nicht um das erklärte Teilen der »Liebe zu Comics und Graphic Novels in allen Formen«, sondern um die Stärkung des eigenen Readers im Segment der eComics.

Die Branche profitiert ebenfalls davon, weil die Verteilung und Bereitstellung der digitalen Comictitel auf den beiden wichtigsten Verkaufsplattformen durch die Übernahme gesichert ist. Die leidigen Probleme von Vertrieb und Vermarktung sind durch Zentralisierung gelöst. Kunden müssen nicht mehr den Comicshop suchen, um diese faszinierende Welt zu entdecken, sondern der Comicshop kommt zu ihnen nach Hause. Auch werden ständig neue Marketingstrategien zur Gewinnung neuer Leser entwickelt. »Hundred Books for 10 Bucks« hieß etwa die Aktion zum fünfjährigen Jubiläum, während der Verleihung der Ignatz-Awards gab es ein Spezial mit 80 Indie-Comics für zehn US-Dollar und zum Jahreswechsel hagelte es zwölf Tage lang kostenfreie Downloads. Auch aufgrund solch offensiver Kampagnen sieht die New York Times in der Plattform längst ein »iTunes für die Neunte Kunst«, das Medienmagazin Wired erkennt in ComiXology den Glöckner, der ein »neues Zeitalter der Comics« einläutet.

Nicht allen gefällt dabei, dass ComiXology seit der Übernahme bei Großverlagen wie Marvel, DC oder Image verlagseigene Apps unterstützt, bei anderen Verlagshäusern solche individuellen Lösungen aber nicht mehr ermöglicht. Zwar vertreibt der eComics-Riese nach wie vor deren Titel, für die Lizensierung und Betreuung eigener App-Stores müssen sie sich aber andere Partner wie Madefire suchen. Nutzerfreundlich ist das aber nicht, da Einkäufe über die verschiedenen Kanäle dann auch in verschiedenen Bibliotheken verwaltet werden müssen.

Das hat weniger mit ComiXology als vielmehr mit Amazon zu tun. Die digitale Buchkrake will damit die großen Erzfeinde Apple und Google in die Knie zwingen. Der Marvel-Deal war dabei ein wichtiger Meilenstein, weil ein alternativer Onlineshop ohne den erfolgreichsten eComic-Verlag von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Die Einbindung des guten Experten-Tools von ComiXology in das schlechtere Mainstream-Programm von Amazon mag daher aus der Perspektive eines Comicfans zweifelhaft sein. Für die Verlage und vor allem für den Bezoz-Konzern aber ist es eine Win-Win-Situation. Man muss deshalb auch kein Prophet sein, um sich den wahrscheinlichen Ausgang dieser Situation auf dem Markt auszumalen.

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Ein Blick auf die Verlage, deren Aufträge sich der Marktriese in den letzten Monaten gesichert hat, verdeutlicht die Monopolstellung von ComiXology. Nach dem Exklusivdeal mit Marvel haben auch andere renommierte Herausgeber wie der Indie-Comic-Verlag Fantagraphics Books (Hip Hop Family Tree), die Steam-Punk-Häuser Dark Horse Comics (Hellboy, Sin City, Avatar) und Image (Saga, The Walking Dead, Sex Criminals) – ebenfalls mit einem Amazon-Kindle-Deal – oder Manga-Verlage wie VIZ Media (Naruto, One Piece) und Kodansha Comics (Attack on Titan, Sailor Moon) beim weltgrößten eComics-Retailer angeheuert. Selbst der kanadische Arthouse-Comicverlag Drawn & Quarterly vertreibt seit Mitte September seine digitalen Titel über den Amazon-Ableger. Europäische Comicverlage wie Delcourt (Come Prima, Prometheus) oder Glénat gehörten schon zuvor zum ComiXology-Imperium, ebenso wie der Panini-Konzern samt seinem deutschen Ableger.

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Eine der wenigen kritischen Stimmen zur Übernahme durch Amazon kam von der Vereinigung der Comicbuchhändler ComicsPro, die befürchtet, dass nach den unabhängigen Buchhändlern nun ihre Mitglieder von Amazon platt gemacht werden. In ihrer Erklärung wollten sie den Teufel aber nicht an die Wand malen. Solange es Fans gebe, die ein Buch in die Hand nehmen und darin blättern wollten, werde es auch Comicbücher und Comicbuchhandlungen geben, erklärte die Organisation trotzig.

Irgendwie naiv, schaut man auf die Entwicklung seither. Der Kritik der Cloud-basierten Distribution im eigenen CMX-Format kam ComiXologie nach der Übernahme durch den Bezoz-Konzern bei, indem man binnen weniger Wochen den Kunden ein rechtefreies Backup der gekauften eComics in den Standardformaten PDF und CBZ einrichtete. Damit wurde auch gleich dem Vorwurf, die Produkte würden nicht wirklich verkauft, sondern nur über eine Cloud ausgeliehen, erschlagen.

Die weiteren Verheißungen der eComics für den Markt liegen auf der Hand. Die digitalen Titel sind im Schnitt um 15 bis 30 Prozent günstiger als die Comicbücher. Mit dem digitalen Segment können Künstler wie Verleger die Sorgen um Druckkosten und Printing-on-Demand – insbesondere im Selfpublishing-Bereich spannend – getrost zur Seite legen. Techniken wie das Motion Book Tool von Madefire – das die Lektüre zu einem interaktiven Leseerlebnis macht – werden absehbar die Grenze zwischen Filmbranche, Gamer- und Comicszene einreißen und vielversprechende Vermarktungsstrategien über die medialen Grenzen hinweg ermöglichen.

Dies sind nur einige Gründe, die dafür sprechen, dass sich einerseits ein Teil der experimentierfreudigen, aber oft klammen Comicbuchfans in den kommenden Jahren vom Printmarkt ab- und zum Digitalmarkt hinwenden wird, sich andererseits aber auch viele neue Leser für Comics interessieren werden, die das derzeit noch nicht tun. Entsprechend sind auch die Planungen von ComiXology ausgerichtet. »Wir werden nicht eher aufhören, bevor nicht jeder Erdenbürger Comicfan ist«, heißt es im Imagefilm des Unternehmens.

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Dem digitalen Markt gehört zweifelsohne die Zukunft, dies beweist nicht zuletzt auch die Bewegung im Markt in anderen Regionen. So soll noch in diesem Herbst Europe Comics an den Start gehen, ein Zusammenschluss von 13 europäischen Comicverlagen – darunter BAO, Cinebook, Dargaud, Dupuis und Le Lombard –, um die Vermarktung europäischer Comics in digitaler Form weltweit zu übernehmen. Dafür sollen Titel wie Cyril Pedrosas Portugal oder Manu Larcenets Blast als englischsprachige eComics vertrieben werden. Der mit 20 Millionen monatlichen Nutzern stärkste Nachrichten- und eBook-Dienst Indiens NewsHunt teilte im Juni seinen Einstieg in das digitale Comicgeschäft mit. An seiner Seite steht der Comicverlag Graphic India, der hunderte Comics in den verschiedenen regionalen Sprachen über den eBook-Dienst vertreiben will, um »eine neue Comic-Kultur in Indien wecken«.

Es ist zu früh, um abschließend zu beurteilen, ob die skizzierten Entwicklungen das Ende der Mischkalkulation einleiten, bis irgendwann nur noch das verlegt wird, was sich aus Sicht von Medienkonzernen wie Amazon ausreichend gut verkauft, oder ob der Aufstieg der eComics aufgrund seiner technischen Verheißungen nicht vielmehr publizistische Hürden abbaut und zur Vielfalt im Genre beitragen wird. Ganz sicher ist nur, dass sich die Neunte Kunst mitten in einer Revolution befindet.

1 Kommentare

  1. […] Das digitale Millionengeschäft intellectures, Thomas Hummitzsch Thomas Hummitzsch betrachtet den aktuellen Stand des Markts für digitale Comics. Der befindet sich nach wie vor im Aufschwung, ist aber derzeit noch ein ganz überwiegend amerikanischer Markt, auch wenn die Kunden aus der ganzen Welt stammen. Auf Anbieterseite konzentriert sich alles mehr und mehr auf die Amazon-Tochter Comixology, die als „iTunes für Comics“ möglichst alle verfügbaren Digitalcomics im Angebot haben will. […]

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