Dath-Welten sind Nerd-Welten. Da werden schon mal ganze Arten abgeschafft oder Gesellschaft hinter tausend Monden neu erfunden. Sein neuer, brandaktueller Roman ist ein rasanter Abgesang auf den Zeitgeist, in dem Metaphysik, politische Theorie und Biopolitik die Klingen kreuzen, um am Ende einen Konzertsaal in die Luft zu jagen.
Da hat der Suhrkamp-Verlag den renommiertesten deutschen SciFi-Autor Dietmar Dath aus dem gehobenen Programm augenscheinlich endgültig in seine Nova-Reihe geschoben, legt er mit Leider bin ich tot wohl seinen »konventionellsten« und womöglich aktuellsten Roman vor. Aktuell deshalb, weil in diesem Roman ein Metall-Konzert in einem Blutbad endet, und konventionell insofern, als dass es in Daths Gesamtwerk von Synkretismus, Wissenschaft, Philosophie und kulturellen Anspielungen nur so wimmelt, hier aber – zumindest in der ersten Hälfte seines neuen Romans – weitgehend auf überbordendes Dath-Sprech verzichtet. Vielmehr entwickelt der Spex- und FAZ-Redakteur mit Hang zur linken Theorie erzählerisch einen Drive, wie man es von Jonathan Franzen kennt. Mitunter hat man den Eindruck, das Gegenstück zum vor wenigen Monaten erschienenen DDR-Roman des großen Amerikaners in der Hand zu haben, auch weil die zahlreichen Figuren, die Dath hier einführt, eher amerikanische Charakterzüge haben. Sie sind alle gezeichnet von einer Art quasireligiösen Blendung. Vom evangelikalen Erweckungspriester über den nihilistischen Künstler bis hin zum die Welt hassenden Jugendlichen – Dath lässt kein Klischee aus.
Dabei meidet der manische Vielschreiber Klischees, es sei denn, er spielt damit. Mit zahlreichen Science-Fiction-Romanen und seinen famosen Briefen zur Drastik hat er hinlänglich bewiesen, dass er das Triviale nicht nur nicht fürchtet, sondern im Gegenteil sogar sehr schätzt. Nun präsentiert er eine Art Zombie-Dystopie, mit der er an das kulturelle Comeback der Untoten durch Frank Darabonts phänomenale TV-Serie The Walking Dead anschließt und zugleich die Debatten rund um Abend- und Morgenland, um christliche Werte und Aufklärung, Fortschritt und Wissenschaft aufgreift. Auf diese Weise holt er die Trivialkultur endgültig zurück in die intellektuelle Kampfzone.
Aus dieser vertrieben fühlt sich Pfarrer Wieland Schulte. Deshalb startet er eine Mission. Er will seiner Gemeinde die Moderne bringen und ihre Mitglieder in die Gegenwart führen. »Ich dachte, anders werden die Leute Gott nicht finden. Man muss sie aus ihrer blödsinnigen Routine reißen, aus diesem Leben, das hier ganz dasselbe geblieben ist. Immer dasselbe, ob Kaiser, Hitler, Adenauer, Willy Brandt, Wiedervereinigung.« Aber es wird ihm nicht gelingen. Stattdessen ist er geschlagen mit einer Haushälterin, der die Worte nicht über die Lippen kommen und die Beine nicht gehorchen wollen, die aber dennoch eine schöne Frau ist. Diese versteckte Schönheit liegt dem Pfarrer zu Füßen, doch er verschmäht sie.
Ebenso wie seinen Schulfreund Abel Amir Reinhardt, der konfessionslos und homosexuell in London als Filmemacher Karriere macht. Als dessen zweiter Spielfilm unter dem Titel »Wald statt Bäumen« anläuft, erntet er als deutscher David-Lynch-Verschnitt hymnische Kritiken. Doch statt den Erfolg zu genießen, flieht Abel Reinhardt, um Pfarrer Wolf aus dem Weg zu gehen. Dort lebt er bei einem ehemaligen Porno-Starlett namens Cyan Cerulean. Diese unterstützt ihn nicht nur bei der Finanzierung und Vermarktung seiner Arbeiten, sondern steht ihm auch als beste Freundin und Vertraute zur Seite (im Hintergrund schwebt auch sexuelle Anziehung, deren Ursprung sich aber erst viel später erklären wird). Mit »Ceecee« wird der Regisseur eine Pilgerreise durch die Pornoindustrie an der Westküste der USA machen. Bei einem Dreh wird er eine Art Erweckung erleben, die ihn übermütig die Erotikbranche hochleben lässt. »Ja, sure. There is something there, my friend. Aber das heißt nicht, dass die Sexindustrie ein guter Ort ist. Das heißt das Gegenteil: Dass Menschen sogar an ganz grauenhaften, falschen, blöden Orten plötzlich … something … erleben und zeigen können, das es vielleicht nur bei Menschen gibt, die keine Angst haben«, wird ihn seine Begleiterin beruhigen.
Abel Reinhardt drückt sich bei seiner Reise auch um die Konfrontation mit seiner Schwester Nasrin, die als gläubige Muslimin ihre Schwierigkeiten mit dem hedonistischen Leben ihres Bruders hat. Dass er nun in die USA geflohen ist, sorgt sie aber auch, denn sie sieht die Vereinigten Staaten kurz vor einer göttlichen Bestrafung. »Der Sturm aus Eis, der 1998 Amerika schlug, dann der Hurrikan Katrina 2005, die Tornados im Süden der Staaten 2011. Babylon: Wind gesät, Sturm geerntet.« Nasrin und Abel mögen Geschwister sein, ihre Verbindung bleibt zunächst zumindest ambivalent, da auch Abel seiner Schwester skeptisch gegenüber steht. Ihre engagierte Hinwendung zum Islam schlägt einen Keil zwischen die Geschwister. Viel spannender als ihre muslimische Identität ist Nasrins Bekenntnis zur Wissenschaft. Gemeinsam mit ihrem Bekannten Kassim, einem ehemaligen Straßenkind und Stricher, arbeitet sie an einer Studie, mit der sie nachweisen wollen, dass das Wetter denken kann. Mit Wettersimulationen teste sie, inwiefern sich das Wetter an ihre Annahmen anpasst und ihnen »ausweicht«. Mit dieser Annahme folgen sie der Theorie eines gewissen Philosophen namens Galen Strawson, der davon ausgeht, dass alle Sachverhalte – »das Wetter, Geld, Pferderennen« – Erfahrungen machen und Gedankenartiges erleben. All diese Phänomene sind Strawson zufolge Intelligenzen, die den Lauf der Welt bestimmen. »Denn wenn alles, was es gibt, nur eine Sorte Sache ist, dann gibt es bloß zwei Möglichkeiten: Alles denkt und empfindet oder gar nichts.«
Strawson wird nicht nur von Nasrin und ihrem Begleiter gelesen, sondern auch von einem japanischen Priester namens Itoh, der Teil einer Allianz von »Religioten« aus aller Herren Länder ist, die die Weltherrschaft anstreben und dabei auf die Unterstützung durch Nasrin und Kassim hoffen. Es würde aber auch nicht Wunder nehmen, wenn die Linksaktivistin Anna Steiger ebenfalls von Strawson weiß, schließlich liest sie auch Slavoj Žižek und andere linke Philosophen und bloggt über ihre Erfahrungen mit dem auf dem rechten Auge blinden Rechtsstaat auf ihrem Blog Komm mal wieder runter.
All das spielt sich weit abseits der Welt ab, in der Tom Crissauer lebt. Der melancholische 19-jährige lebt mit seiner Mutter in einer Neubausiedlung und schließt sich einer Rechtsrockgruppe an. Doch es dauert nicht lang, da will Tom mehr als einfach nur herumgrölen. Er will »vertracktere, gezacktere Musik spielen als Eins-Zwei-Drei-Vier-HEIL!. Er wird »Gesetzlosigkeit mit eigenen Gesetzen« schaffen und mit seiner chaotisch schönen Musik die Aufmerksamkeit der dunkelhaarigen Nathalie auf sich ziehen.
Das Metaphysische in diesem Roman ist immerzu allgegenwärtig. Nie gibt es Tatsachen, an die man sich halten kann, immer sind Glaubenshaltungen und Einbildungen die Motoren des Handelns der Protagonisten. Atheismus, Protestantismus, Katholizismus, Islamismus oder Satanismus heißen die inneren Ideologien, nach denen sich Daths Charaktere richten, ohne es zu bemerken. Nur eine schleicht durch diesen Roman und scheint von allem kaum berührt. Sie ist das wandelnde Gespenst, das überall auftaucht und den Weg bereitet für seine Auferstehung von den Toten.
Zuvor aber schneidet Dath all die Biografien geschickt gegeneinander, so dass ein Reigen an Namen, Orten und Schicksalen entsteht, deren Zusammenhänge grob dargestellt, aber nicht bis in die Tiefe geklärt sind. Dies ist Aufgabe des Lesers in der zweiten Hälfte des Romans, in dem sich die Handlung mit jeder Seite hin zuspitzt. Hier schlägt vor allem Anja Weirich einen Karriereweg ein, der anfangs nicht möglich schien. Durch technisch-medizinische Eingriffe wird sie ihre Sprachstörung überwinden und eine Armee der wahren Jünger Jesu gründen, die allen Egoismus ablegen und sich ganz in den Dienst der caritativen Mission stellen. Als „Stimme der Stummen“ will sie die Welt zu einem besseren Ort machen. Sie wird Krebskindern ebenso helfen wie Analphabeten, Drogenopfern oder ausstiegswilligen Rechtsradikalen gleichermaßen die Türen öffnen wie geprügelten Frauen. »Wir sind kein Ding, wir sind eine Tür zum Unsichtbaren«, wird sie irgendwann sagen, wenn sie sich der magischen Anziehung ihrer religiösen Wohlfahrtsarmee bewusst ist.
Unterstützt wird sie auf ihrer Mission von dem evangelischen Journalisten Ludger Schlegel, einer skrupellosen Sektiererin namens Selena Ludic und einem mysteriösen Mediziner namens Dr. Schöpflin, dessen Name hier Programm ist. Er wird dem Ruf eines Halbgottes in Weiß mehr als gerecht, nicht zuletzt auch deshalb, weil er das Kind von Anja Weirich und Ludger Schlegel, in dessen Brust zwei Seelen schlagen, rettet. Zu dieser Geschichte in der Geschichte, wie sich der Mensch über das Göttliche erhebt und Nietzsches Entzauberung der Welt vorantreibt, gibt es noch eine Parabel von einem Mann und dem Steingott, die Dath in kurzen Auszügen zwischen einzelne Passagen seines Romans schneidet. Nasrin Reinhardt wird von den Sicherheitsbehörden als Mitglied einer »terroristischen Zelle« inhaftiert. Anna Steiger wird sich ihrer annehmen und dabei in einer Geschichte verstricken, aus der es kein Entrinnen mehr gibt.
Am Ende sind all das aber nur Nebenkriegsschauplätze für einen sehr viel größeren Kampf, der hinter dem Rücken der Figuren stattfindet. Es ist der von Gut gegen Böse, von Singhaft und Sinnlos, von Leben und Tod. Wer dahinter steckt, kann man lange Zeit nur ahnen. Am Ende lösen sich all die Schicksale in Staub und Asche auf, weil eine der Hauptfiguren ihr wahres Gesicht als Untote enthüllt und Tom Crissauer zum teuflischen Showdown im Berghain, dem hedonistischen Tempel unserer Zeit schlechthin, lädt. Leider bin ich tot ist eine wahnwitzige Achterbahnfahrt der Wissens- und Glaubenslehren, die durch einen Todeslooping führt und bei der Daths Manierismus aus den Kurven trägt.