Artbooks, Fotografie

Der poetische Blick

Insbesondere die Pariser Witterung und damit einhergehend die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen und Reflektionen scheint Kertész’s fotografisches Vorankommen zu beeinflussen. Die Aufnahmen, die er im Jahr seiner Ankunft machte, legen dies nahe. Diese Pariser Straßenszenen, die im Gropiusbau zu sehen sind, erinnern an den Flaneur Eugène Atget, denn auf ihnen wird die kompositorische Formstrenge, die die Fotoarbeiten des Ungarn bisher prägten, in den Hintergrund gedrängt. Erst 1926 kehrten auch die geografischen Perspektiven wieder zurück in Kertész Fotografie, die nun die surrealen, kubistischen und abstrakten Kunstrichtungen verband. Insbesondere die Verbindungen zu Künstlern wie Piet Mondrian, Ossip Zadkine, Fernand Léger und Alexander Calder scheinen dies unterstützt zu haben.

Seine Fotografie war nicht mehr nur beobachtend, sondern erzählend. Kertész nahm nicht mehr Situationen auf, sondern er schuf mit seiner intuitiven Inszenierung, basierend auf den drei Bausteinen Perspektive, Bildgeometrie und Belichtung, Gegebenheiten. Er löste das zu Fotografierende aus der Realität heraus und schuf eine neue, bisher unbekannte Wirklichkeit (Mondrians Brillen und Pfeife, Paul Armas Hände, Die Gabel, Eiffelturm). Spätestens 1928 hatte André Kertész seinen Stil gefunden, eine eigene, flaneurhafte Straßenfotografie, die sich mit perfekter Bildkomposition verband. Kertész setzte Akzente, die vor ihm keiner gesetzt hatte. Die Aufnahmen Place de la Concorde, Zerbrochene Scheibe oder Pont des Arts durch die Uhr des Institut de France belegen dies eindrucksvoll.

Selbstportrait, Paris, 1927 | Silbergelatine-Abzug, Gedruckt in den 1970er Jahren, Courtesy Estate of André Kertész, New York
Selbstportrait, Paris, 1927 | Silbergelatine-Abzug, Gedruckt in den 1970er Jahren, Courtesy Estate of André Kertész, New York

Zu Beginn der Dreißiger Jahre zog das Experimentieren mit Licht und Schatten stärker als zuvor in sein fotografisches Werk ein. Diese Effekte verwendet er nicht nur, um sein Spiel mit Linien und Formen auf die Spitze zu treiben (Schatten des Eiffelturms, Stühle am Medici-Brunnen, Champs-Élysées, Montmartre), sondern um Dinge sichtbar zu machen, die sonst unsichtbar bleiben (Der Schattenmaler, Selbstporträt).

In seiner Pariser Zeit entstanden auch die Aufnahmen, die er 1976 unter dem Titel Distorsions (dt. Verzerrungen) herausgab und die nun ebenfalls im Gropiusbau zu sehen sind. Es sind Steigerungen dieses Experimentierens, Aufnahmen von Reflektionen in Hohl- und Zerrspiegeln aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Zerrung oder Stauchung der aufgenommenen Porträts oder Akte reicht dabei bis ins Groteske, Unkenntliche, so dass einer der Kuratoren der Ausstellung, Michel Frizot, im begleitenden Katalog nicht zu Unrecht von Antifotografien spricht.

1936 floh André Kertész erneut vor dem heraufziehenden Krieg. Doch so richtig, wie 1925 seine Ankunft in Paris war, so falsch war damals das Ankommen in Amerika. Die Eindrücke des Gigantischen und Monumentalen überforderten ihn völlig. Hinzu kamen seine sprachlichen Defizite, so dass sich Kertész schnell isoliert fühlte. Zum äußeren Exil trat ein inneres hinzu. Unterstützt wurde dieses Gefühl der Fehlplatziertheit von der Tatsache, dass seine Fotografie nicht dem amerikanischen Trend der die Sensation suchenden Fotoreportage entsprach. Während sein Landsmann Robert Capa – der von ihm in Paris, wie übrigens auch Brassaï, das fotografische Handwerk gelernt hatte – mit seinen Reportagen von Großereignissen reüssieren konnte, erhielt Kertész zunächst so gut wie keine Aufträge. Seinen weiterhin von einer besonderen Bildgeometrie geprägten Aufnahmen fehlte die Sensation. Selbst eine Einzelausstellung ein Jahr nach seiner Ankunft änderte nichts an seiner miserablen Situation. Die Fotografie Verlorene Wolke ist der bildhafte Ausdruck nicht nur seiner inneren Einsamkeit, sondern auch der Sehnsucht nach Erfolg.

Als er 1939 endlich von Life den Auftrag bekam, eine Reportage über den New Yorker Hafen zu machen, stürzte er sich in die Arbeit. Doch keines seiner über 200 eingereichten Fotos wurde gedruckt. Der Life-Redakteur habe gesagt, so erinnerte sich Kertész Jahre später, dass seine Bilder »zuviel reden« würden. Welch bittere Ironie: Er, der mit seinen Fotos Geschichten zu erzählen vermochte, weil er Emotionen und Befindlichkeiten ins Haptische übersetzen konnte, wurde kritisiert, weil seine Bilder zuviel redeten. Seine Enttäuschung muss gigantisch gewesen sein. Sie fand Eingang in sein Werkarchiv im Bild der Melancholischen Tulpe.

Melancholische Tulpe, New York, 1939 | Silbergelatine-Abzug, Gedruckt ca. 1980, Courtesy Bruce Silverstein Gallery
Melancholische Tulpe, New York, 1939 | Silbergelatine-Abzug, Gedruckt ca. 1980, Courtesy Bruce Silverstein Gallery

Was folgte, war eine jahrelange Durststrecke. Während Capas Kriegsbilder in kaum einem Magazin fehlen durften, wurde Kertész nahezu ignoriert. Dies schien auch seine eigene Kreativität und Schaffenskraft zu lähmen, denn die Abstände zwischen den Aufnahmen in den 1930er und 1940er Jahren wurden immer größer. 1945 nahm er schließlich eine Stelle beim Magazin House & Garden an, um sein Einkommen zu sichern. Er blieb dort bis 1962, »lebendig begraben«, wie er später sagen wird.

Kertesz hat in dieser Phase kaum Muße, sich dieses Land mit der Kamera anzueignen. Man sieht den wenigen Aufnahmen, die in diesen Jahren entstanden, an, wie sehr er um Themen rang. Kertész’s Gespür für das perfekte Bild aber blieb davon unbeeinflusst. Mitte der 1950er Jahre entstanden seine legendären Aufnahmen vom Washington Square, dessen Zauber er über zehn Jahre lang immer wieder fotografisch festhielt. Insgesamt aber zerrte diese Situation an seinen Nerven. Als ihn Brassaï 1956 besuchte, begrüßte er ihn mit den Worten: »Du siehst einen toten Mann.«

Erst sein Bruder Jenö holte ihn 1962 aus der Lethargie. Mehr als 30 Jahre hatte er dessen Stimme nicht mehr gehört und als er ihm seinen Zustand geklagt hatte, entgegnete ihm dieser: »Du bist immer noch André Kertész. Du bist immer noch der größte Fotograf der Welt.« Wie ein Weckruf muss dieser Anruf auf den Fotografen gewirkt haben, denn Kertész kündigte daraufhin bei House & Garden und stürzte sich wieder in seine eigene kreative Arbeit. 1964 kehrte er zurück zu seiner »besten Freundin«, wie er Paris liebevoll nannte. In der Nationalbibliothek wird ihm eine Einzelausstellung gewidmet. Zwei Monate wird er als ein in den USA verfemtes Genie gefeiert. Seine Frau Erzsébet, mit der er zu diesem Zeitpunkt seit über 45 Jahren liiert war, erlebte das nur aus der Ferne, denn sie blieb in New York. Ein Bruch für das Paar: Das Selbstporträt des Paares aus den 30er Jahren kadrierte Kertész neu. Es zeigt jetzt nur noch seine Hand auf ihrer Schulter und ihr halbes Gesicht. Die Zeit, in der sie sich beide ganz gehörten, schien vorbei zu sein.

Nach der Pariser Schau hatte Kertész auch in den USA immer mehr Erfolg. Er erhielt das Angebot, Mitglied in der MAGNUM-Fotoagentur zu werden, Fotos von ihm werden in der internationale Ausstellung The concerned photographer neben Aufnahmen von David Seymour, Dan Weiner, Werner Bischof und Robert Capa in Tokio, London und Paris gezeigt und die MOMA in New York zeigt noch 1964 eine umfassende Werkschau. Der amerikanische Durchbruch – eine Genugtuung.

Washington Square, 9. Januar 1954 | Silbergelatine-Abzug, Vintage Print, Sammlung Leslie, Judith und Gabrielle Schreyer
Washington Square, 9. Januar 1954 | Silbergelatine-Abzug, Vintage Print, Sammlung Leslie, Judith und Gabrielle Schreyer

Zwar reiste André Kertész in der Folge wiederholt nach Paris, dauerhaft aber blieb er in den USA. Seine Amerikafotos zeugen davon, dass er sich dieses Land in all den Jahren einzig über die Geometrie hatte erobern können. Sein in Paris perfektioniertes Spiel mit Formen und Linien, Licht und Schatten übertrug er auf die amerikanischen Strukturen. Seine Aufnahmen von Schornsteinen Mitte der 60er Jahre wirken wie Kopien der Fotos über den Pariser Dächern aus den 30er Jahren, sein Abzug mit dem Titel West 134th Street legt den Vergleich mit Schatten des Eiffelturms nahe.

Kertesz-Titel
Michel Frizot, Annie-Laure Wanaverbecq (Hrsg.): André Kertész. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet, Barbara Heber-Schärer & Barbara Holle. Hatje Cantz 2010. 360 Seiten. 544 farbige Abbildungen. 26,00 x 31,90 cm. 49,80 Euro. Hier bestellen

Nach dem Tod seiner geliebten Erzsébet wurde es zwar nicht völlig ruhig um den Ungarn, aber es legte sich ein Schatten über sein Leben und seine Fotografie. Über die Beziehung zu seiner Kamera sagte André Kertész einmal: »Die Kamera ist mein Werkzeug. Mit ihrer Hilfe mache ich alles um mich herum sinnvoll.« Kann man daraus ableiten, dass der Sinn eines Bildes und damit auch die Empfindungen des Fotografen im Bild selbst auffindbar sein müssen? Wenn dies möglich ist, dann bezeugen die letzten Bilder der Retrospektive diesen Schatten. Dann sind sie Dokumente seiner Einsamkeit nach Erzsébets Tod, wie auch des tief empfundenen Alleinseins, welches Kertész im amerikanischen Exil niemals abgelegt hatte.

Stellt sich der Besucher am Ende dieser wunderbar kuratierten und arrangierten Schau noch einmal vor den Schlafenden Jungen von 1912, dann wirkt dieses Bild aufgrund seiner tiefen Melancholie und unterschwelligen Tristesse wie eine zukunftsweisende Metapher für den Lebensweg des säkularen jüdischen Fotografen André Kertész.

Die Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau ist noch bis zum 11. September 2011 zu sehen. Hier können Sie im Ausstellungskatalog blättern. Die Zitate aus diesem Text sind Kati Martons »Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden verändern die Welt« entnommen.

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