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Die Schmerzen der Dichter vom Bahnhof Zoo

Podium "Der Geschmack der Worte« im Gorki-Theater | © Sabrina Banze

Unter der Überschrift »Der Geschmack der Worte« versammelten sich im Berliner Gorki-Theater am Samstag fünf Lyriker:innen zu einem Fest des widerständigen Wortes. Zehra Çirak, Dinçer Güçyeter, Lütfiye Güzel, José F. A. Oliver und Zafer Şenocak machten nicht nur lyrisch deutlich, wie schal die Worte angesichts der rassistischen und menschenverachtenden »Eingleisung« von Bundeskanzler Friedrich Merz werden, der Migration jüngst pauschal zum Problem im Stadtbild erklärt hat.

»Ich bin ein deutscher Dichter (Bastard) mit Migrationshintergrund … den Weihnachtsbaum schmücke ich mit Feigen / Datteln und Dönerblättchen / mein Pony füttere ich mit Gummibärchen …«, liest man in Dinçer Güçyeters mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnetem Lyrikband »Mein Prinz, ich bin das Ghetto«. Der Dichter-Bastard und Elif-Verleger aus Nettetal, der für seinen Debütoman »Unser Deutschlandmärchen« mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, ist längst zu einem Prinz in der Literaturszene geworden, dessen Stimme Gewicht hat.

Publikationen der versammelten Lyriker:innen

Am Samstag war Güçyeter fernab des Messetrubels Teil einer Runde, der er im Laufe des Abends den Namen »Wir Dichter vom Bahnhof Zoo« gab. Mit Zehra Çirak, José F. A. Oliver und Zafer Şenocak waren drei migrantische Lyriker:innen der ersten Generation vertreten, neben Güçyeter zudem Lütfiye Güzel, die beide zur zweiten Generation gehören. Ursprünglich gedacht als poetisches Festival im Rahmen des Gorki-Herbstsalons »ЯE:IMAGINE: THE RED HOUSE«, sollte der Abend unterschiedliche lyrische Sprachen und Generationen zusammenbringen, die sich verbinden, ergänzen und zu neuen Formen verwandeln.

Der Schriftsteller Dinçer Güçyeter aus Nettetal im Gorki-Theater | © Sabrina Banze
Der Schriftsteller Dinçer Güçyeter aus Nettetal im Gorki-Theater | © Sabrina Banze

Nur drei Tage zuvor hatte Bundeskanzler Friedrich Merz mit seiner rassistischen und die Menschenwürde verletzenden Aussage einmal mehr deutlich gemacht, wie eindimensional, fremdenfeindlich und herablassend im Kanzleramt (und in weiten Teilen der CDU/CSU) auf Migration und Vielfalt geblickt wird. Wie unverhohlen man bereit ist, das Gleis zu wechseln und scharf rechtsextrem abzubiegen.

Die Veranstaltung stand also unter einem neuen Licht, war weniger Fest im Festival, sondern Klang- und Hallraum, in dem der zunehmenden Verrohung der Sprache politische Lyrik entgegengesetzt wurde. Am Ende einer Woche, in der auf der Frankfurter Buchmesse die Macht des Wortes gefeiert wurde, fand eine der nachdenklichsten Veranstaltungen in Berlin statt.

»Yilmaz, der jetzt das Stadtbild stört, hat 2022 Deutschlands wichtigsten Lyrikpreis gewonnen.«

Dinçer Güçyeter

Von all den Errungenschaften, Kräften, dem Fortschritt, der Lebensfreude, den neuen Perspektiven, die Vielfalt und Miteinander seit Jahrzehnten hervorbringen, keine Rede. »What a crazy schicksal«, hatte Gücyeter schon am Donnerstag sarkastisch kommentiert.

Geht es nach der Union, muss Deutschland »in sehr großem Umfang« abschieben. Merz und Co sind dabei, in faschistischer Manier die beste Seite dieser Gesellschaft abzuschaffen. Wer meint, dass amerikanische Verhältnisse hier undenkbar seien, der übersieht seit Monaten, mit welcher Brutalität Berliner Polizist:innen – goutiert von Bundesinnenminister, Berliner Innensenatorin und Berliner Polizeipräsidentin, kritisiert von UN-Menschenrechtsrat – gegen pro-palästinensische Demonstranten sowie migrantische Pressevertreter:innen vorgehen. Allzu viel unterscheidet sie von den vermummten ICE-Häschern in den USA nicht mehr.

Der Hausacher Lyriker José F. A. Oliver im Gorki-Theater | © Sabrina Banze
Der Hausacher Lyriker José F. A. Oliver im Gorki-Theater | © Sabrina Banze

»vergiss bitte nicht: ein Staat kann nicht nur mit Versicherungen, Verträgen, Regeln, Ordnung, Anweisungen auf den Beinen gehalten werden…«, heißt es an anderer Stelle in Güçyeters preisgekröntem Lyrikband, in dem auch sein Vater Yilmaz zu Wort kommt. In einem Brief an seinen liebsten Papa schreibt er 1966 »noch lebe ich in einer Arbeiter-WG, wenn ich meine eigene Wohnung habe, schicke ich euch die Papiere vom Amt, damit könnt ihr ein Visum beantragen.«

»Es entkommen nicht mal die feinsten Dichter.«

Zafer Şenocak

Der, der damals 100 Mark in die Türkei schickte, damit sein Vater fünf Meter Seide für die Mutter kaufen könne, ist Friedrich Merz nach fast sechzig Jahren in Deutschland ein Dorn im Auge. Eine schmerzhafte Erkenntnis für Güçyeter, der in der für ihn typischen Unmittelbarkeit die Anmaßung des Bundeskanzlers in einem Satz deutlich machte. »Yilmaz, der jetzt das Stadtbild stört, hat 2022 Deutschlands wichtigsten Lyrikpreis gewonnen.« Seine Reise werde die Fortsetzung deiner Geschichte sein, rief er einem Land zu, das immer noch mehrheitlich schweigt, statt auf die Straße zu gehen.

Die Duisburger Poetin Lütfiye Güzel im Gorki-Theater | © Sabrina Banze
Die Duisburger Poetin Lütfiye Güzel im Gorki-Theater | © Sabrina Banze

Es lag eine große Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit im Gorki-Theater in der Luft, zu bedenklich die Signale, die die Verrohung der Sprache in die Gesellschaft senden. »Es schleicht sich eine Müdigkeit ein«, sagte José F. A. Oliver, der Gedichte aus den neunziger Jahren las, die nichts, aber auch gar nichts an ihrer Gültigkeit verloren hatten. Sie handelten von Stigmatisierung, Diskriminierung und dem Kampf um Augenhöhe, 35 Jahre später katapultiert die Bundesregierung das Land um 35 Jahre in die Vergangenheit. Er sei es auch irgendwie leid, immer wieder darauf hinzuweisen.

Oliver gründete mit Zafer Şenocak und Zehra Çirak in den achtziger Jahren eine Vereinigung migrantischer Schriftsteller. Autor:innen wie Aras Ören oder Emine Sevgi Özdamar gehören zu ihrer Generation, jede:r von ihnen ist Träger des Adalbert-von-Chamisso-Preises bzw. Förderpreises. Özdamar ist neben zahlreichen anderen Preisen mit dem wichtigsten Deutschen Literaturpreis, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet, José F. A. Oliver mit dem Heinrich-Böll-Preis, Aras Ören mit der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. All das stellen Aussagen wie die von Friedrich Merz in Frage. Offenbar reicht es nicht, Teil der höchsten deutschen Kultur zu sein, um auch selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft zu sein.

Die Berliner Lyrikerin Zehra Çirak im Gorki-Theater | © Sabrina Banze
Die Berliner Lyrikerin Zehra Çirak im Gorki-Theater | © Sabrina Banze

So wird auch den Dichter:innen im Gorki-Theater der Geschmack der Worte schal. Eigentlich sollte klar sein, dass man über Menschen nicht wie über Ungeziefer oder Müllhaufen redet, aber Rechtspopulisten und Rechtsextreme haben den Diskurs so weit verschoben, dass protofaschistische Aussagen wie die jüngste Entgleisung des Bundeskanzlers zu einer grausamen Realität werden. »So schafft sich die Nacht ihr Attentat«, kommentierte José F. A. Oliver poetisch. Angesichts des zunehmend fremdenfeindlichen Klimas dachte er auch an seinen Vater, der »die Sprache ans gemachte Eis der Migration« verlor.

»Ich sehe das Jammertal von unten. Nehme die Treppe. Und halte mich links«

Lütfiye Güzel

Lütfiye Güzel, 2017 ausgezeichnet mit dem Literaturpreis Ruhr, brachte eine gesunde Portion Wut mit auf die Bühne. Sie machte unmissverständlich deutlich, dass es klarere und radikalere Formen des Wiederstands brauche. Man könne diese Verdrehung und Verschmutzung der schönen deutschen Sprache nicht länger hinnehmen. Man kann gespannt sein, was aus dieser Empörung noch an Lyrik hervorgeht. Am Abend blieb es beim Sarkasmus, der ihre gelesenen Texte durchzog. »Ich sehe das Jammertal von unten. Nehme die Treppe. Und halte mich links«, hieß es da an einer Stelle; man darf das auf die Gegenwart beziehen und politisch lesen.

Der Berliner Poet Zafer Şenocak im Gorki-Theater | © Sabrina Banze
Der Berliner Poet Zafer Şenocak im Gorki-Theater | © Sabrina Banze

Was die Migration mit den Menschen macht, wie viel Wehmut an die alte Heimat noch im Herzen ist und wie schmerzhaft es dann ist, in der neuen Heimat nicht ankommen zu dürfen, machte Zehra Çirak gleich eingangs deutlich. Wenn sie die Wörter »Istanbul« und »Einwanderer« dekonstruierte, um deutlich zu machen, wie aus dem Einwanderer »ein w(eh) anderer« wird.

»Augen auf, Flügel zu«, rief Zafer Şenocak abschließend. Das konnte man als kämpferische Aufforderung verstehen, das Träumen einzustellen und auf die Straße zu gehen. Aber auch als Eingeständnis, dass selbst die hochfliegende Lyrik angesichts der verbalen Beschmutzung der deutschen Sprache durch ranghohe Politiker:innen verklingt.

Güçyeter erreichten in den letzten Tagen immer wieder Nachrichten, dass Menschen wie er von Merz ja nicht gemeint seien. Aber das ist nicht nur eine hohle Phrase, sondern spielt in seiner scheinheiligen Bigotterie den Ernst der Lage herab.

»Es entkommen nicht mal die feinsten Dichter«, heißt es im Zyklus »Babylon, windgeschützt« von Zafer Şenocak. Auch nicht die Dichter vom Bahnhof Zoo.